FYI.

This story is over 5 years old.

News

Muss Tokio evakuiert werden?

Die japanische Regierung und Medienunternehmen haben die Wahrscheinlichkeit einer radioaktiven Verseuchung weitgehend ignoriert. Japanische Ärzte raten jedoch dazu, Tokio zu evakuieren.

2011 wurde Japan von einem Erdbeben und einem Tsunami heimgesucht. Es war die teuerste Naturkatastrophe der Welt. Drei Jahre später ist die Wirtschaft des Landes, das 20.000 Tote zu beklagen hatte, noch immer von internationaler Hilfe abhängig. Was den Menschen jedoch am meisten Sorgen bereitet, ist die Möglichkeit einer radioaktiven Verseuchung. 24 Stunden nach dem Tsunami entstand im Kernkraftwerk Fukushima ein Leck, durch das tödliche Mengen radioaktives Material austraten. Daraufhin hat TEPCO, der Betreiber des Atomkraftwerks, zusammen mit der japanischen Regierung einen Bericht über das Ausmaß der Strahlung vorgelegt, dessen Zahlen jedoch stark umstritten sind. Viele haben den Bericht von TEPCO mit den Verlautbarungen von BP nach deren Ölkatastrophe verglichen. Die Auswirkungen der radioaktiven Strahlung könnte auch in diesem Fall noch viel schwerwiegender sein, als man bisher annimmt. Um das Thema vom Tisch zu bekommen, haben die japanische Regierung und Medienunternehmen die Wahrscheinlichkeit einer radioaktiven Verseuchung weitgehend ignoriert. Ich habe mich mit Shigeru Mita, einem Arzt aus Tokio, über das Tabuthema unterhalten.

VICE: Was für Tests haben Sie durchgeführt?  
Shigeru Mita: Ich habe mehr als 1.500 Patienten untersucht. Viele von ihnen waren Kinder, deren Eltern sich nach der Kernschmelze in Fukushima Sorgen um ihre Gesundheit machten. Ich habe die Eltern gefragt, wie sie sich fühlen, ob es irgendwelche gesundheitlichen Anomalitäten gab. Dann habe ich einige Untersuchungen durchgeführt. Ich habe Blutbilder erstellt und Ultraschallaufnahmen gemacht. Was haben Sie herausgefunden?  
Ich habe vor allem Patienten aus Tokio getestet und eine Menge gefährlicher Symptome bei Kindern entdeckt, besonders bei Kindergartenkindern und Grundschulkindern. Auch bei älteren habe ich einige ernste Auswirkungen gefunden.   Bei den weißen Blutkörperchen gab es Anomalitäten. Blut wird im Knochenmark gebildet, einem der anfälligsten Organe für Radioaktivität. Bei den weißen Blutkörperchen habe ich eine Abnahme neutrophiler Elemente beobachtet. In schweren Fällen kann dies zu tödlichen Leiden wie Septikämie führen. Wurden diese Befunde schlimmer nach der Kernschmelze?
Die ersten Tests habe ich im Dezember 2011 durchgeführt, weshalb ich die Ergebnisse nicht mit der Zeit vor der Kernschmelze vergleichen kann. Aber ich kann sagen, dass sich die Symptome im Großraum Tokio häufen. Was waren die schlimmsten Symptome, die Sie gesehen haben?
Es gab da dieses Baby mit ernsthaften Krankheitsbildern. Sie hatte weitaus weniger Neutrophile im Blut, als das bei einem gesunden Kind der Fall ist. Das bedeutet, dass sie sich jederzeit eine schwere Erkrankung hätte einfangen und daran sterben können. Gott sei Dank hat sie sich erholt, als sie in die Gegend von Kyushu verlegt wurde.

Was verschreiben sie in solchen Fällen?
Ich kann kaum etwas verschreiben, da es keine Medikamentierung gibt, die hilft. Aber wie in dem Fall mit dem Baby und vielen anderen auch scheint es so, als würde eine Besserung eintreten, sobald sie die östlichen Gebiete Japans verlassen. Die Symptome verschwinden also, wenn man die Patienten aus den gefährdeten Gebieten verlegt?
Ja. Ich habe viele Patienten aus Tokio erlebt, die schwer betroffen waren, doch sobald man sie an andere Orte wie Osaka, Kyoto oder Shikoku gebracht hat, ging es ihnen bald darauf besser. Kommen sie jedoch nach Tokio zurück, geht es ihnen schlagartig wieder schlechter. Kennen Sie andere Ärzte, die ähnliche Untersuchungen durchführen?
Es gibt eigentlich keine anderen Ärzte, die solche Tests durchführen. Ich habe versucht, weitere Ärzte davon zu überzeugen, doch niemand hat mitgezogen. Wir müssen noch mindestens 20 Jahre lang diese Untersuchungen durchführen, um die wahren Folgeschäden zu verstehen. Aber seit der Kernschmelze wurde in dieser Hinsicht so gut wie nichts unternommen. Würden Sie sagen, dass Sie bereits genügend Resultate gesammelt haben, um eine umfassende Studie zu veröffentlichen? Wenn nicht, was muss noch getan werden?
Ich glaube nicht, da ich keine Aufzeichnung über den Wohnort der Patienten gesammelt habe. Die Daten stammen also nicht ausschließlich von Patienten einer bestimmten Gegend. Sie stammen aus verschiedenen Gegenden so wie Saitama, Chiba und Kanagawa. Abgesehen davon sind einige der Patienten mehrfach umgezogen, bevor sie in meine Klinik kamen. Ich schätze, man müsste mit anderen Ärzten zusammenarbeiten, die ebenfalls die gleichen Untersuchungen durchführen. Im Moment habe ich nicht genügend Informationen, um exakte Rückschlüsse zu ziehen. Noch nicht. Es wird oft behauptet, dass die Angaben von TEPCO bezüglich der Radioaktivität verfälscht waren. Was denken Sie darüber?
Ich bin der Ansicht, dass diese Angaben falsch sein müssen. Aber die Diskussion darüber ist Zeitverschwendung. Wir müssen den Patienten helfen und nicht darüber diskutieren, ob diese Statements nun der Wahrheit entsprechen. Was denken Sie über kontaminierte Lebensmittel. Meinen Sie, dass eine spezielle Ernährung den Leuten helfen könnte?
Bestimmt erreicht Tokio auch kontaminiertes Essen. Viele Leute behaupten, dass wir lokale Erzeugnisse essen müssen, um die Wirtschaft zu unterstützen, doch ich bin der Ansicht, dass wir alles auf Herz und Nieren prüfen sollten und vor allem Kindern keine Nahrung geben sollten, die verstrahlt sein könnte. Denken Sie, die Medien verharmlosen die Auswirkungen der Radioaktivität?
Sie stürzen sich nicht gerade auf diesen Aspekt. Ich glaube, die japanischen Medien stehen auf der Seite weniger mächtiger Menschen. Ich glaube auch, dass die Regierung den Patienten helfen sollte, aber das tut sie nicht. Ist das der japanischen Öffentlichkeit überhaupt bewusst?
Die Menschen im Osten des Landes sind definitiv besorgt, weshalb sie aber versuchen, nicht allzu genau auf die Gefahren zu schauen. Im Westen sind die Menschen rationaler und viele von ihnen helfen den Menschen, die aus dem Osten wegziehen. Was ist die beste Lösung für die Menschen in Japan?
Ich kann mich nur auf die Gegend um Tokio berufen. Mich treibt die Sorge um die Kinder umher und vor allem die Kinder, die noch geboren werden. Ich will, dass die Patienten an sicheren Orten leben, doch die meisten Menschen wollen nicht umziehen. Jedem, der in Tokio lebt, rate ich, so oft es geht, sein Blut untersuchen zu lassen. Ansonsten kann man nicht mehr tun.