FYI.

This story is over 5 years old.

Syronics on Speed

​Warum ich Angst vor den VICE-Lesern habe

Unser syrischer Kolumnist erklärt, warum ihr schuld an seinen schlaflosen Nächten seid.
Foto: Privat

Im Frühjahr 2011 begann der Aufstand in Syrien, der sich schnell zu einem brutalen Bürgerkrieg entwickeln sollte. Ungefähr zur selben Zeit fing der Schmied Aboud Saeed an, auf Facebook sein Leben in der Stadt Manbidsch zu dokumentieren. Seine kurzen Einträge, die vor schwarzem Humor nur so strotzen, gefielen irgendwann so vielen Leuten, dass der deutsche Verlag mikrotext schließlich ein Ebook mit dem Namen Der klügste Mensch im Facebook daraus machte, das später sogar als Taschenbuch _erschien. Anfang 2014 beantragte Saeed Asyl in Deutschland, seitdem lebt er in Berlin. Als wir ihn gefragt haben, ob er eine Kolumne für uns schreiben will, dachte er ursprünglich, wir seien der _Spiegel. Er hat sich aber auch nach Aufklärung des Missverständnisses bereit erklärt, hier einmal in der Woche für uns zu schreiben—über sein Leben in Berlin und das, was er in Syrien zurückgelassen hat.

Anzeige

Ich denke nach über das Schreiben, meinen Brotjob. Ich muss schreiben. Über Frauen, über die Revolution, über meine Mutter, über einen Straßenköter in einer billigen Bar, über einen Weihnachtsmann, der Kindern ihre Strümpfe klaut, über das Muttermal auf meiner Stirn, das ursprünglich grün war, aber durch das viele Teetrinken schwarz geworden ist.

Ich muss schreiben.

Sieben Brüder warten darauf, dass ich ihnen Smartphones schicke, und meine Schwestern warten auf Schmuck, den sie nach den Bombenangriffen tragen können.

Ich muss schreiben.

Für meine Freunde, die hinter ihren Bildschirmen einen Sieg von mir warten. Für Verlage. Um neue Liebhaberinnen zu verführen.

Ich muss schreiben.

Die Pflicht lässt die Phantasie zu einem Eisberg werden. Mein Keyboard gefriert.

Ich muss schreiben.

Die Zimmertemperatur bleibt stabil, trotz des Schnees draußen.

Ich besitze zwei Hosen, in ihren Hosentaschen stecken Majakowski und seine Wölkchen, und zu meiner Rechten habe ich eine Frau und zu meiner Linken 412 Liebhaberinnen. Die Linke liegt immer falsch, Majakowski auch, das Reisen ist ein Fehler, und das Schreiben … Fick das scheißblöde Schreiben.

Ich starre die Zimmerdecke an und erinnere mich an jene Zeiten zurück, als ich mir ein Stück Karton suchte, auf dem ich etwas schreiben könnte. Ich schrieb auf Eierschalen, auf Mauern. Auf den Kotflügel eines Panzers.

Jetzt gebt mir ein Thema, über das ich schreiben könnte.

Anzeige

Zu einer Zeit, in der jeder am liebsten Jesus wäre, wohnt dem Verlust ein eigentümlicher Gewinn inne: der Gewinn, dass dein Name die Apokalypse bedeutet. Die Westler beneiden uns, weil unsere Häuser bombardiert werden. Die Amerikanerin in der Bar sagt: „Wow! Syria! War!" Es gibt sie immer, die Konsumenten, die Applaudierer, diese chronische Ausdrucksunfähigkeit, die der Schriftsteller dann ausnutzt, was ihn erst zu einem Schriftsteller macht.

Und diese Unfähigkeit war eine Leere, und aus der Leere wurde ich zum Schriftsteller.

Die Welt verlangt von uns, dass wir aus der Leere heraus Poesie erschaffen. Der Bauch meiner Mutter war neun Monate lang mit Luft aufgeblasen. Ich existierte nicht. Dem Nichts bin ich entsprungen und im Nichts bin ich gewachsen.

Wir sitzen um den Ölofen herum, um uns aufzuwärmen. Wir trinken aus einem löchrigen Eimer und einem verstopften Brunnen.

Das letzte Mal, dass ich mich traute, aus der Jackentasche meines Vaters Geld zu klauen, war sie leer. Der Bauch des Fisches—ich hatte zwei Jahre auf ihn gewartet, um zu erfahren, was in ihm ist—war natürlich leer. Und am St. Valentinstag, als ich für die Nachbarstochter eine Walnuss knackte, war sie leer. Und die Nachbarstochter verliebte sich in mich.

Ich muss schreiben, ich muss schreiben, ich muss schreiben. Über die Revolution und über Frauen, über die Leere, die aus mir einen Dichter mit Krallen gemacht hat. Egal. Ich muss schreiben.

Anzeige

Ich muss schreiben, die Leser der VICE warten schon!

Ich stelle sie mir als digitale Wesen vor. Mein Freund Thomas beschrieb sie mir als eigenartige Geschöpfe, die so ähnlich aussehen wie die Grendizers. Und ich bin Vega, der Große.

Und meine Freundin Maria sagte: „Die VICE-Leser stehen auf Comedy und Sex." Und meine Freundin Sancho sagte, während ich mich gerade abmühte, einen Text für VICE zu schreiben: „Schreib, Aboud, schreib! Was wartest du noch! Keine Angst, die VICE-Leser sind keine Ninja-Kämpfer."

Meine Mutter hingegen sagte: „Die VICE-Leser haben etwas übrig für Menschenrechte, sie fühlen Empathie mit den Afrikanern und den Tamilen, und sie wissen Bescheid über den Klimawandel und über Ozonlöcher."

Tag und Nacht denke ich an die VICE-Leserschaft. Nachts träume ich von ihnen.

Ich wache schweißgebadet auf, während ich vor mich hin fasele: „VICE-Leser, VICE-Leser, VICE-Leser …" Dann trinke ich einen Schluck Wasser und schlafe weiter. Ich muss etwas schreiben, für diese schwierige Leserschaft, von der ich nicht weiß, wie ich sie zufrieden stellen soll. Ich muss schreiben, aber zuerst muss jemand bitte den Polizisten, der in meinem Inneren wohnt, festnehmen. Der Polizist heißt „VICE-Leserschaft". Aus dem Arabischen von Sandra Hetzl.