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Drogen

„Wir haben ein Recht auf Rausch“—Warum Strafrechtler das Drogenverbot abschaffen wollen

Lorenz Böllinger, Professor für Strafrecht, erklärt, warum er und 121 seiner Kollegen die deutsche Drogenpolitik für gescheitert halten.
Foto: Uni Bremen

Diese Woche erreichte uns die Nachricht, dass mittlerweile 122 deutsche Strafrechtsprofessoren eine Resolution unterzeichnet haben, die eine Entkriminalisierung der Drogen in Deutschland verlangt. Die strafrechtliche Verfolgung sei „gescheitert, sozialschädlich und unökonomisch“, heißt es in dem Text, und: „Nicht die Wirkung der Drogen ist das Problem, sondern die repressive Drogenpolitik schafft Probleme.“

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Das bedeutet, dass mehr als die Hälfte der Strafrechts- und Kriminologieprofessoren in Deutschland—also genau jene Leute, die sozusagen in den Bauplänen des „Systems“ herumkritzeln—das aktuelle Betäubungsmittelgesetz für mehr oder weniger hirnrissig halten. Was vielleicht daran liegt, dass jeder, der sich länger als fünf Minuten mit der Thematik auseinandersetzt, das für hirnrissig hält.

Das aktuelle Gesetz stammt aus dem Jahr 1981 und wurde zuletzt 1994 gerade noch so für verfassungsgemäß erklärt. Schon damals allerdings mahnten die Richter zu „zurückhaltendem Gebrauch“ des Gesetzes. Den Professoren, die sich an der Resolution beteiligt haben, geht das nicht weit genug: Sie verlangen die Einrichtung einer Enquete-Kommission im Bundestag, die den Sinn und Zweck der Kriminalisierung einmal gründlich durchdiskutieren soll. Um zu erfahren, was genau sie sich davon versprechen, habe ich den Initiator der Resolution angerufen: Professor Dr. Lorenz Böllinger von der Uni Bremen.

VICE: Herr Professor Böllinger, was wollen Sie mit Ihrer Resolution konkret erreichen?
Lorenz Böllinger: Das ist ein Versuch, die ursprüngliche Funktion des Parlaments wieder zu wecken. Verfassungsrechtlich müssen Gesetze eigentlich wissenschaftlich begründet sein, und sie müssen überprüft werden. Das ist unsere Zielsetzung, unabhängig von der Frage, ob Drogen gefährlich sind oder nicht. Es kommt darauf an, ob Strafrecht irgendetwas vermag. Wir sind der Meinung, Strafrecht ist das falsche Mittel.

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Warum?
Der Drogenkrieg, so wie er von Nixon erklärt worden ist, ist nicht zu gewinnen. Drogenkonsum ist unabhängig von strafrechtlicher Intervention. Wir haben alle möglichen Studien gesichtet, woraus sich ergibt, dass die Konjunkturen des Drogenkonsums gänzlich unabhängig von gesetzlichen Regelungen sind. Das sind Trends, die in der Bevölkerung entstehen, vor allem in der jungen Bevölkerung. Das ist vom Strafrecht nicht zu steuern.

Sie sagen also, dass es egal ist, was der Staat zu bestrafen beschließt—die Drogen werden sowieso immer da sein.
Das halte ich inzwischen für einen Gemeinplatz. Es hat Drogen immer gegeben, und es wird die Lust darauf, die Sehnsucht, diese Genusssuche immer geben. Das wird im legalen Bereich ja auch überhaupt nicht angezweifelt oder kritisiert, bei Alkohol zum Beispiel. Das ist eine willkürliche, historisch zufällige Konstellation, dass bestimmte Drogen davon ausgeschlossen sind.

Sie schreiben in Ihrer Resolution: „Nicht die Wirkung der Drogen ist das Problem, sondern die repressive Drogenpolitik schafft Probleme.“ Können Sie das erklären?
Strafrecht muss sich fragen, ob es einerseits die Wirkung erzielt, die es anstrebt—das tut es nicht. Das ist der eine Punkt, der schon genügen würde, um das Strafrecht in dieser Richtung abzuschaffen. Der andere Punkt ist, dass Strafrecht unbeabsichtigte Nebenwirkungen zeitigt. Die sind zum einen der Schwarzmarkt. Nur die Prohibition macht den Schwarzmarkt, mit all seinen Folgen: Drogenkrieg in Mexiko, hunderttausend Tote, Finanzierung des Terrorismus in Afghanistan und weltweit durch Opiumhandel—das sind schonmal die ganz eklatanten Nebenwirkungen.

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Dann muss man die unnötige Kriminalisierung von jungen Menschen dazurechnen. Die haben niemandem geschadet, werden aber durch die Verfolgung eines Genusses als Kriminelle definiert. Der Begriff „Schädigung der Volksgesundheit“ ist ja aus strafrechtstheoretischer und verfassungsrechtlicher Sicht völliger Unsinn—so etwas gibt es überhaupt nicht, „Volksgesundheit“. Das sind also opferlose Delikte, bei denen kein Rechtsgut verletzt wird. Wir haben in unserer Verfassung ein Recht auf Rausch, das kann man uns nicht nehmen. Jeder darf Drogen konsumieren, das ist an sich nicht strafbar—aber man kann eben nicht konsumieren, ohne sich strafbar zu machen, wegen Besitzes und so weiter.

Haben Sie eigentlich schonmal selbst Cannabis geraucht?
Ich bin ja 68er und habe damals sehr wohl Cannabis geraucht, ich erinnere mich sehr gut an die angenehmen und unangenehmen Seiten.

Was hat die Kriminalisierung noch für Folgen?
Dazu kommt dann noch die Beschaffungskriminalität: Ganz normale Menschen werden zu Opfern von Einbrüchen und Raubüberfällen und Betrug. Alles das dient dazu, die durch den Schwarzmarkt maßlos erhöhten Preise auch bezahlen zu können.

Dann ist eine Nebenwirkung die weltweite Schattenwirtschaft, diese gigantischen Profite, die da generiert werden. Dass Milliarden durch Geldwäsche in die legale Wirtschaft fließen und Wirtschaftsordnungen untergraben können.

Dann werden die Grundrechte von Bürgern in Strafverfahren unterminiert, weil durch Drogenverfolgung besondere Verfolgungsmechanismen bedingt werden. Rechtsstaatliche Strukturen werden untergraben, zum Beispiel in Mexiko: Militär und Polizei kämpfen gegen die Kartelle, die Kartelle kämpfen unter sich, Menschen sterben—all das ist Resultat der Prohibition.

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Ihre Resolution zielt also im Endeffekt auf die Legalisierung?
Ja, allerdings nicht nach so einem pauschalen Freigabe-Modell, dass man demnächst alle Drogen bei Aldi kaufen kann. Die Idee ist, durch diese Enquete-Kommission auf der Grundlage von Expertenwissen und Studien zu spezifischen Regulierungsmodellen für jede Droge zu kommen. Für die am wenigsten Gefährlichen wie Cannabis würde man eine eher weitgehende Freigabe machen, vielleicht auch mit Mengenbegrenzungen oder Registrierung. Und bei Heroin oder Crystal Meth würde das ein strikteres Modell sein—das wird dann im Einzelnen zu studieren sein.

Haben Sie keine Angst, dass der Konsum dann ansteigt?
Es gibt gute Beweise, dass das nicht der Fall. In den umliegenden Ländern wie Portugal, Spanien, Belgien gibt es schon seit zehn Jahren eine relative Freigabe beim Besitz. In den Niederlanden haben sie schon seit 40 Jahren Cannabis frei erhältlich und Lockerungen beim Heroin, und die haben ausgezeichnete Ergebnisse. Der Konsum ist nicht angestiegen, im Gegenteil, der ist leicht gesunken.

Es wollen ja auch nicht alle Menschen diese Drogen nehmen. Stellen Sie sich den bayerischen Menschen vom Land vor: Der sitzt abends in seinem Biergarten und trinkt seine Maß Bier und seinen Radi dazu, der wird nicht so schnell auf Cannabis umsteigen.

Ihre Resolution wurde mittlerweile von über hundert Strafrechtsprofessoren unterzeichnet. Warum ist davon so wenig in der Politik angekommen?
Das ist eine gute Frage. Meine These ist, dass keiner von den Politikern sich traut, da vorzupreschen, weil jeder Angst hat, als Jugendverderber dazustehen. Zugleich ist es ein probates Mittel, um bestimmte Überwachungs- und Kontrollfunktionen massiv aufrechtzuerhalten. Das sind aus deren Sicht nutzbringende Instrumente, die man durch den Krieg gegen die Drogen an die Hand gekriegt hat. Eine internationale Vernetzung der Strafverfolgung unter dem Motto „Organisierte Kriminalität“—all das ist auch sehr funktional. Dass man diese Instrumente nicht aufgeben will, das spielt schon auch mit rein.

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Wäre denn die Gesellschaft für eine so weit gehende Legalisierung bereit?
Meines Erachtens nach ist die Gesellschaft seit 40 Jahren durch die Medien und die Politik indoktriniert. Einzelne Problemfälle werden massiv dramatisiert: die Drogentoten zum Beispiel. Die wurden immer der Droge zugeschrieben—hätten aber alle dem Strafrecht als Ursache zugeschrieben werden müssen. Drogentote sind fast alle durch Unkalkulierbarkeit der Dosis, durch Beimengungen usw. entstanden. Bei sinnvoller Aufklärung, bei Verschreibungspflicht wäre da viel weniger passiert. Das sind viele Tote umsonst, sozusagen.

Ich bin selber in meinem zweiten Beruf Psychoanalytiker und habe Heroinabhängige und Cannabis-Abhängige in Behandlung gehabt und kann das aus nächster Nähe beurteilen: Das liegt nicht an der Droge. Das sind psychische Probleme, soziale Probleme, die die Menschen dazu bringen, abhängig zu werden. Man kann auch wieder davon wegkommen, und das betrifft wirklich nur einen kleine Prozentsatz der Menschen.

Haben Sie schonmal mit Marlene Mortler, der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, gesprochen?
Nein, ich habe ihr aber die Resolution geschickt. Und erwarte keine Antwort von ihr.

Was würden Sie ihr sagen, wenn Sie sie mal treffen würden?
Ich kann darüber eigentlich nur lachen, wenn man eine Tourismusspezialistin zur Drogenbeauftragten macht. Das ist doch eine Aussage, was die Regierung will—oder eben nicht will: nämlich irgendeine Reflexion in diesem Bereich, irgendeine Überlegung oder Reform gar. Die wollen Ruhe an dieser Front.

Glauben Sie, dass Ihre Resolution etwas ändern kann?
Ich glaube, dass es durch uns und die Kommission auf Antrag der Grünen und Linken ein bisschen gelungen ist, auf das Thema aufmerksam zu machen. Aber politisch wird es nichts bringen. Die Mehrheit wird es einfach niederstimmen.

Halten Sie es für möglich, dass das in fünf Jahren anders aussieht?
Schwer zu sagen. Ich denke, es wird sehr stark von Amerika ausgehen, und dann wird Deutschland wie üblich wieder kuschen und sagen: „Gut, wenn die es machen, dann machen wir’s auch.“ Aber keine eigene Identität, traurigerweise.