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Was passiert eigentlich vor einem Länderspiel? Ein Countdown

Komatöse Superstars, gierige Verwandte und empfindliche Sponsoren: Die 24 Stunden Vorbereitung vor einem Länderspiel sind um einiges emotionaler als die 90 Minuten Spiel.

Das letzte WM-Vorbereitungsspiel der deutschen Elf hat stattgefunden. Am Freitag kam es in Mainz zur Generalprobe gegen die fußballerische Großmacht Armenien.

Der Ablauf eines solchen Spieles ist wie folgt geskriptet: Das Stadion ist perfekt rausgeputzt und die Hymnen erklingen (hoffentlich nicht aus Sarah Connors Kehle). Wie eine Maschine rollt die deutsche Elf auf das armenische Tor zu, und wir holen uns durch ein Schützenfest den finalen Schub auf dem Weg zum Weltmeistertitel.

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Und wenn nicht? Wenn bei Captain Lahm der Muskel zumacht? Oder ein 0:0, schales Bier und 90 Minuten Langeweile? Freundschaftsspiele sind wie die hässliche Freundin der Pflichtspiele. Immerhin Fußball, aber keiner hat wirklich Lust drauf. Man kann sie auch nebenbei schauen, während man sich die Fußnägel knipst.

Ich durfte in den letzten Jahren einige solcher Länderspiele der brasilianischen und argentinischen Nationalmannschaft aus den Tiefen des Stadions heraus von A-Z mit organisieren und kann aus erster Hand bestätigen, dass es wenig undankbarere Jobs als diesen gibt—vor allem, weil das Endprodukt keinen interessiert. Und meine Erkenntnis ist, die 24 Stunden vor dem Spiel sind um einiges emotionaler als die entscheidenden 90 Minuten.

30 Stunden vor Anpfiff im Stadion: Fashionshow an der LED-Bande

Das Stadion wird vorbereitet. Der Platzwart walzt und schneidet penibelst den Rasen und zieht die Linien auf dem Spielfeld gerade. Schöner könnte kein deutscher Schrebergärtner das gepflegte Grün trimmen. Überall stolzieren mehr oder weniger gestresste Menschen wichtigtuerisch durch die Gegend, die zwei Dinge auf ihrem Tagesplan haben: fokussiert wirken und unförmige Schimmeranzüge tragen. Grundsätzlich scheint nirgendwo eine größere Diskrepanz zwischen modischer Selbst- und Fremdwahrnehmung zu herrschen als unter den Fußballfunktionären. Aber nicht alles, was schimmert, glänzt auch!

Die, die wirklich was zu tun haben, errichten etliche Kameras in allen Winkeln des Stadions, verlegen Tausende Meter Leitungen oder stöpseln Kabel in die LED-Module der Banden. Unter den Banden durch, am heiligen Rasen vorbei—nichts wird hier dem Zufall überlassen.

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30 Stunden vor Anpfiff im Hotel: Daddeln, bis die Daumen wund sind

Die Spieler sind aus allen Himmelsrichtungen ins Teamhotel gereist und sitzen gelangweilt im Foyer. Spielerfrauen sind keine da. Zur Entspannung solcher Situationen kann eine Playstation für den Aufenthaltsraum wahre Wunder wirken. Die Brasilianer bestellten daher zu jedem Spiel gleich 5 Stück, damit jeder permanent spielen kann. Zu meiner Zeit war der einzige Spieler, der höhere Ansprüche an die Unterhaltung hatte, Kaká: Für den mussten wir schon mal am Vorabend des Spiels eine BBC-Dokumentation über versunkene Städte besorgen. Die Deutschen sind meistens pflegeleichter: Müller, Neuer und Co. sind völlig glücklich, wenn sie noch mal eine gepflegte Runde Schafskopf kloppen können.

25 Stunden vor Anpfiff: Die Entourage stellt Ansprüche

Der Tag ist generalstabsmäßig durchgetaktet. Überall hängen bis ins Kleinste konzipierte Essenspläne und Programmpläne, das Hotel ist fest in der Hand der Delegation. Mal wieder wimmelt es von windigen Funktionären, Beratern und anderen Parasiten des Profifußballs, die wie Geier in der Lobby kreisen. Rund um die argentinische Mannschaft und den Stab wuseln permanent 30 Leute, keiner mit einem ersichtlichen Auftrag, alles entfernte Cousins oder Nenn-Onkels und alle davon überzeugt, dass der Spieler nicht zu Hochleistungen fähig ist, wenn sie sich nicht währenddessen am Buffet den Wanst vollhauen. Drei besonders temperamentvolle Exemplare davon besuchten mich einmal spät abends auf meinem Zimmer, um noch 50 extra VIP-Tickets zu erpressen: „Messi spielt. Oder eventuell doch nicht?!“

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20 Stunden vor Anpfiff: Angry Birds und Ronaldinhos Panty-Party

Abseits der Playstation und der gemeinsamen Aktivitäten (Training und Essen) wird der Rest des Tages dem Smartphone gewidmet. Wer muss sich schon aufs Spiel vorbereiten, wenn er Angry Birds daddeln kann? Trotz Handy hat es ein Brasilianer aber auch schon geschafft, an einem Tag eine Zimmertelefonrechnung von über 1.000 Euro zu vertelefonieren. Die Minibars der Spieler wurden vorsorglich vom Personal geleert, gesoffen wird bei solchen Spielen trotzdem genug. Ich kann mich noch gut an den Morgen erinnern, an dem wir Ronaldinho im Nebengebäude des Hotels im Delirium im Flur liegend fanden, in der Hand den von ihm selbst handsignierten String einer Hotelangestellten. Ein Fußballer lebt konstant im Exzess.

17 Stunden vor Anpfiff: Mehr Kaffee und Politics

Jenseits der Kaffeetheke üben sich derweil alle in diplomatischem Zaubern. Für den Zuschauer sieht später alles einfach aus. Tausende Fans auf den Rängen, 22 Spieler auf dem Platz, ein Ball dazu, los geht‘s. Aber selbst die 90-minütige Playlist für den Ablauf der Bandenspots ist ein Spiel, das viel Geschick voraussetzt. Gern meldet sich auch mal einer Minuten vor dem Spiel. „Ich will ein anderes Logo auf der Bande. Jetzt.“ Das hat zwar nichts mit Fußball zu tun, aber wenn diese innenpolitischen Quengeleien nicht gelöst werden, dann gibt‘s ganz schnell keine Playstations mehr.

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Der Tag des Spiels

Foto: Alexander Hüsing | Wikimedia | CC BY 2.0

13 Stunden vor Anpfiff: Jahreshauptversammlung im Finanzamt

Als Erstes steht das technische Meeting an—hier wird jedes minimale Detail der Spielprozedur besprochen. Trikotfarben, welche Bank gehört wem, wer bleibt beim Handshake stehen und wer nicht, wo stehen die Ballkinder und wo jeder einzelne Fotograf. Anwesend sind Vertreter des ausrichtenden Verbands, Stadionmitarbeiter, die Delegationen der Mannschaften, organisierende Agenturen und die Schiedsrichter. Es dauert ewig. Der brasilianische Stabschef verlangt nach der linken Trainerbank und den gelben Trainingsleibchen. Seinem Wunsch wird ausnahmsweise stattgegeben. Ein Hauch von Sepp Blatter weht durch den Raum.

5 Stunden vor Anpfiff: Die Rückkehr der Nenn-Onkels

Die ersten Journalisten richten sich im Pressebereich oder auf den Kommentatorenplätzen ein. Im VIP-Bereich werden Flyer für vollkommen belanglose Produkte ausgelegt. Im Laufe des Nachmittags wird es langsam stressig. Die argentinische Delegation will noch mal 50 extra VIP-Tickets, inzwischen sind wir bei gefühlt 500 VIP-Armbändern für 200 geladene Gäste. Eine Bande streikt. Das TV-Signal hakt. Die elektronischen Drehkreuze funktionieren auch nicht. Wir müssen auf die Schnelle ein Notstromaggregat besorgen. Hat einer die Nationalhymnen auf CD gebrannt? Muss jetzt doch Sarah Connor singen?

120 Minuten vor Anpfiff: Einsatz der Babysitter

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Inzwischen sind die Zeugwarte eingetroffen, um den Spielern die Kabinen herzurichten. Spielkleidung, Verpflegung, Bälle, Trainingsleibchen. Wie bekommt ein Profi bloß sein Privatleben organisiert bei der ganzen Unselbständigkeit?

90 Minuten vor Anpfiff: Dafür hat’s sich schon gelohnt

Während immer mehr Fans heftig saufend ins Stadion strömen, sind auch die Mannschaften eingetroffen, mit Polizeieskorte und Riesenbrimborium. Oft findet die Auto-Bus-Kolonne nur schwerlich den Weg durch die Fanmassen. Nie werde ich meine 15 seconds of fame vergessen, als ich als Teil der türkischen Delegation bei der Stadionankunft von den Fans gefeiert wurde, als wäre ich Hakan Sükür höchstpersönlich. Trainer Fatih Terim überreicht mir im Anschluss feierlich einen Anstecker der türkischen Nationalmannschaft, mit den Worten: „You’re one of us now.“ Das geht runter wie Öl.

75 Minuten vor Anpfiff: Unterhaltungsfaktor 0

Die Spieler betreten zum ersten Mal den Platz und schlendern durchs bereits halb gefüllte Stadion. Alle haben Musik auf den Ohren. Hier gilt die Faustregel: je größer die Kopfhörer, desto mehr Rihanna in der Playlist. 75 Minuten vor Anpfiff geben die Trainer ihre Mannschaftsaufstellungen beim Schiedsrichter ab, dann kann es losgehen mit dem Entertainment.

30 Minuten vor Anpfiff: Akrobatik

In den USA- wird bei NBA oder NFL-Spielen ein Spektakel zelebriert, das sich gewaschen hat—T-Shirt-Bazookas, Cheerleader und Dance-Cams, in Deutschland stehen zwei Grobmotoriker am Mittelpunkt und scheitern kläglich dabei, den Ball ins leere Tor zu schießen. Zu ihrer Verteidigung hat das Diana Ross zum Auftakt der WM 1994 noch nicht mal vom Elfmeterpunkt geschafft. 5 Minuten vor Anpfiff: „Stell ja die Dicke vor den Großen!“

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Alles beginnt mit dem Einlaufen der Teams, gemeinsam mit den Eskort-Kindern. Meist verzogene Sponsorengören oder strahlende Preisausschreibengewinner. Ich hatte meistens Glück und konnte mich um die Eskorten-Koordination drücken: die Kinder den einzelnen Spielern zuweisen und vor allem kontrollieren—alle hüpfen kreuz und quer durch den Spielertunnel. Auch hier braucht man Fingerspitzengefühl. Auf keinen Fall das dicke, zu groß gewachsene Mädchen vor dem kleinen Dribbelkönig der Brasilianer platzieren. Oder es passiert sowas.

Anpfiff: VIP sein heißt frei sein

Der Anpfiff ertönt. In der VIP-Lounge ist derweil ein ordentliches Besäufnis im Gange. Bei Brasilienspielen hatten wir oft riesige Partys organisiert, mit Caipirinha-Bar, Sambatruppe und Starauftritt eines verlebten Ex-Spielers. Dieser sitzt den ganzen Abend an der Bar und versinkt abwechselnd im Ausschnitt einer jungen Dame oder in seinem Glas. Senile Sponsoren mit Schaum vorm Mund filmen non-stop die knackigen, wenn auch leicht eingeschüchterten Tänzerinnen.

Erste Halbzeit: Einfach wegschauen

Für das Organisationsteam bedeutet der Anpfiff das erste Mal Entspannung seit einer Woche Aufopferung für das Gelingen dieses Spiels. Jetzt müssen’s die Spieler richten. Vom Spiel will man meist gar nichts sehen. Die Spitze von 24 Stunden Entromantisierung des Fußballs. Man sitzt in der Lounge, isst und vertröstet parallel am Telefon einen Sponsor, der mokiert, dass die Bande etwas pixelt.

Zweite Halbzeit: Ist das meine Schuld?

Es fängt an zu regnen. Das Spiel ist ein Grottenkick, wie schon anfangs befürchtet. Die Fans langweilen sich und es kommt keine Stimmung auf—es geht ja auch um nichts. Da hilft selbst die Laola nicht, die es irgendwie auch nur noch in Deutschland gibt. Beim Blick in die Gesichter der enttäuschten Kinder verspüre ich so etwas wie ein Schuldgefühl, man fühlt sich für die lustlose Vorstellung der Spieler mitverantwortlich. Die Genugtuung über die Ausübung dieses Jobs grenzt an solchen Tagen an null. Aber wenigstens habe ich Fatih Terim umarmt.

Ende: WM. Bitte. Jetzt.

Ab der 75. Minute machen sich die ersten Zuschauer auf den Weg aus dem Stadion. Es wird kein Tor mehr fallen. Da hätten sich lieber alle der Fußpflege gewidmet.

Caspar Schmick bei Twitter: @casparino1