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Occupy Turkey

Was zur Hölle hat Erdogan in Berlin verloren?

Der „Meinungsaustausch“, zu dem sich der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan heute mit Angela Merkel trifft, ist nicht der einzige Grund seines Besuchs.

Der „Meinungsaustausch“, zu dem sich der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan heute mit Angela Merkel trifft, ist nicht der einzige Grund seines Besuchs—vielleicht ist es nicht mal der Hauptgrund. Mindestens genauso wichtig für den türkischen Premier wird sein Auftritt vor circa 3.000 Leuten im Berliner Konzertsaal Tempodrom—unter dem Motto „Berlin trifft den großen Meister“.

Es geht diesmal um mehr als bei seinen Auftritten in der Vergangenheit: Bei den Präsidentschaftswahlen im Sommer werden in Deutschland lebende Türken zum ersten Mal ihre Stimme abgeben dürfen. Die Neuerung geht auf Erdoğan und seine Regierungspartei AKP selber zurück, die sich von den mehrheitlich konservativen Deutschtürken sichere Stimmen versprechen. Seit der größte Korruptionsskandal der türkischen Geschichte über die AKP hereingebrochen ist, sind diese Stimmen noch wichtiger geworden.

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Die Veranstaltung heute Abend ist dabei nur das sichtbarste der Mittel, mit denen die AKP versucht, Türken in Deutschland für sich zu gewinnen. Zu diesem Zweck sind eine ganze Reihe von Organisationen und Personen in Deutschland aktiv, bei Weitem der wichtigste ist jedoch Hasan Özdoğan. Özdoğan war früher Vorsitzender des Islamrats, einer Dachorganisation deutscher Muslime, die von der islamistischen Organisation Milli Görüş dominiert wird. Weil die Milli Görüş dem Verfassungsschutz auch heute noch verdächtig ist, wird der Islamrat nicht allzu häufig zu interreligiösen Diskussionen eingeladen. Auch nicht unbedingt zur Vertrauensbildung beigetragen hat die Reise, die Özdoğan 1994 zusammen mit Vertretern von Scientology zu Gaddafi in Libyen unternahm. Kurz danach brach der Kontakt zu Scientology ab, und Özdoğan verließ seinen Posten als Vorsitzender.

2009 wurde Özdoğan dafür Vorsitzender der von Erdoğan frisch eröffneten Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD). Die UETD organisiert Erdoğans Besuche in Deutschland, also auch seinen berüchtigten Auftritt in der Köln-Arena, bei dem er die „kulturelle Verschmelzung“ der drei Millionen in Deutschland lebenden Türken als „Verbrechen an der Menschlichkeit“ bezeichnete. Die Rede heute im Tempodrom wird ebenfalls von der UETD veranstaltet.

Özdoğan hat den Vorsitz der UETD bereits schon wieder weitergegeben, ist aber mittlerweile Vorsitzender des Muslimischen Sozialen Bundes (MSB), und immer noch ein wichtiges Sprachrohr der AKP in Deutschland. In einem Interview zu den Gezi-Protesten im Sommer 2013 bezeichnete er die Demonstranten als „islamfeindlich“ und Anhänger der alten Garde, die „merken, dass sie immer mehr an Macht verlieren, dass ihre politischen Vorstellungen in der Gesellschaft nicht durchgesetzt werden können.“ Auf seinem Twitter-Account beschäftigt er sich mit Themen wie Integration der Muslime in Deutschland, erwähnt aber auch gerne, dass der neue Militärführer Ägyptens, Mohammad al-Sisi, ein Jude und Ägypten jetzt faktisch israelisches Territorium sei.

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Zur Zeit der Gezi-Proteste beteiligte sich Özdoğan auch am Tulip Forum, dass als „Beitrag zum freien Meinungsbildungsprozess“ gegründet wurde, bisher aber auch durch Kritik an den Gezi-Aufständen aufgefallen ist. Das ist kein Wunder, schließlich ist der Sprecher, Salih Altınışık, Özdoğans Nachfolger als Vorsitzender der UETD. Ein weiterer Initiator ist Haluk Yildiz, der Chef der Partei „Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit“ (BIG).

Die BIG, die sich selbst als „Migrantenpartei“ bezeichnet, ging bei der Bundestagswahl 2013 zum ersten Mal ins Rennen (allerdings nur in NRW, Baden-Württemberg und Berlin) und gewann laut eigener Website 18.000 Stimmen. Wahlkampf machte sie unter anderem mit dem Spruch „Jedes Kind hat ein Recht auf Vater und Mutter“. 2011 hatte sie bereits für Aufmerksamkeit gesorgt, als sie „gegen Schulfach schwul“ auf die Barrikaden ging. Im Spot kann man Haluk Yildiz beobachten, wie er fleißig gestikulierend für seine Partei und die traditionelle Familie wirbt.

Anders als die UETD leugnet die 2009 gegründete BIG jede Verbindung zur AKP (auch weil das deutsche Parteiengesetz es verbietet, Geld von ausländischen Spendern anzunehmen). Verdächtig ist allerdings schon der Name, der dem der AKP—„Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt“—ziemlich ähnlich klingt. Laut Spiegel war Hasan Özdoğan an der Gründung der BIG „maßgeblich beteiligt“. Vor den Berliner Landtagswahlen 2011 tauchte plötzlich Nevzat Yalcintas, ein Mitgründer der AKP, in Deutschland auf und empfahl, die BIG zu wählen.

Die AKP betreibt in Deutschland also eine ziemlich aktive Lobbypolitik. Allerdings waren ihre Bemühungen auch hier eng mit denen der Fethullah-Gülen-Bewegung verbunden, mit der sie sich erst seit dem Ausbruch des Korruptionsskandals am 17. Dezember im offenen Kampf befindet. Jetzt müssen die Erdoğan-Anhänger in Deutschland versuchen, ihren potenziellen Wählern zu erklären, dass die hier ebenfalls einflussreiche Gülen-Bewegung nicht mehr dem Wohl Erdoğans (und damit, ihrer Ansicht nach, dem Wohl der Türken) verpflichtet ist. Die UETD hat bereits damit begonnen: Vor Kurzem organisierte sie für den Gouverneur der Provinz Zonguldak, Özcan Ulupınar, eine Tour durchs Ruhrgebiet. Dabei hielt er unter anderem Vorträge zum Thema „Der 17. Dezember und Zonguldak“.

Erdoğans Rede wird also in jeder Hinsicht spannend. Er muss die Türken in Deutschland nicht nur von sich überzeugen, sondern auch davon, dass er aus der Auseinandersetzung mit Gülen als Sieger hervorgehen wird.

Verfolgt die Ereignisse rund um Erdoğans Besuch in Deutschland auf Twitter!