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Wer hat Angst vor dem NSU?

Es ist mal wieder Herbst in Deutschland und wie immer in dieser Jahreszeit grassiert der Terror. Diesmal der von Rechts.

In den vergangenen Tagen hat nichts Deutschland mehr in Aufregung versetzt als das Fascho-Trio vom NSU. Heute haben sich nun wohl auch die ersten Trittbrettfahrer gemeldet und einen missglückten und Gott sei Dank stümperhaft durchgeführten Brandanschlag in Berlin verüben wollen. Da einen diese Welle rechter Gewalt und vor allem die Radikalität, mit der diese ausgeführt wird, doch nachdenklich und ein wenig besorgt macht, wollten wir mal genauer wissen, wie sehr die Furcht vor dem Terror im Bewusstsein der Deutschen bereits wieder präsent ist. Wir haben uns also mal auf der Straße umgehört, um zu erfahren, ob der Staat versagt hat, die NPD nun endgültig verboten gehört, oder ob sowas nur die Szene radikalisieren würde und ob man sich in den letzten Jahren vielleicht zu sehr auf die Gefahr durch islamistische Anschläge konzentriert hat, sodass man auf dem rechten Auge blind war.

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Sophia, 18

VICE: Welche ist deiner Meinung nach die größere Bedrohung: der islamistische Terror oder der Terror der Neonazis?
Sophia: Ich würde eher sagen, der Terror der Neonazis. Hier in Deutschland ist von islamistischer Seite aus noch nicht viel passiert, das ist eher eine internationale Angelegenheit. Meinst du, dass die deutsche Gesellschaft die Gewalt, die von den Neonazis ausgeht, noch einschätzen kann und darauf vorbereitet ist?
Ich finde, die Sache ist schon ziemlich unberechenbar, gerade was man so gehört hat, die Vorfälle mit den Morden und so. So etwas hätte man dann doch nicht erwartet. Wurde deiner Meinung nach versucht, etwas dagegen zu tun? Oder wurde eher weggeschaut?
Es wurde schon eher weggeguckt, denn keiner hat wirklich was mitgekriegt. Es ist nichts Neues, also es ist schon länger ein Thema, aber es wurde nie groß genug geschrieben, meiner Meinung nach. Meinst du, man sollte die NPD nun verbieten?
Na ja, man muss bedenken, dass es auch Linksextremisten gibt. Die NPD vertritt nicht unbedingt Sachen, die auch die Neonazis vertreten, das sind zwei verschiedene Sachen, meiner Meinung nach. Man muss kucken, was für was steht. Würden die Linken auch so etwas machen, müsste man auch sie verbieten. Für was steht die NPD deiner Meinung nach? Woher kommt der Hass?
Damit setze ich mich nicht gerne auseinander und ich weiß auch nicht genau, was genau für die das Wichtigste ist. Ich kann es auch nicht wirklich nachvollziehen. Ich bin keine Befürworterin der NPD, aber genauso wenig der Linksextremisten. Für mich ist beides irgendwie gleich schlimm. Diesen Hass gibt es auf beiden Seiten und sie leben voneinander. Wenn es die einen nicht gäbe, gäbe es die anderen auch nicht. Meinst du, dass man sich in dem Falle auf die Behörden verlassen kann? Können sie uns überhaupt beschützen?
Man hofft natürlich, ja, aber wirklich das Vertrauen hab ich nicht. Ich glaube, die können mittlerweile auch gar nicht wirklich einschätzen, wie weit das alles geht. Sie werden sicher was dagegen tun, aber ob das am Ende wirklich hilft, das ist eine andere Frage.

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Solánge, 19

VICE: Was ist deiner Meinung nach die größere Bedrohung, der islamitische Terror, oder die, die von den Nazis ausgeht?
Solánge: Die Debatte geht mir auf den Keks, weil das eine eher religiös besetzt ist und man sollte eigentlich lernen, dass eine Religion einem nichts antut. Beim Neonaziterror geht es um ein Gedankengut, das besagt, dass gewisse Menschen nicht gleichwertig sind. Ich finde es komisch, dass eine Religion verachtet wird, die dasselbe predigt wie jede andere und nicht negatives Gedankengut. Was meinst du, woher das kommt und warum Neonnazis so aggressiv werden?  
Ich stecke nicht in deren Kopf, vielleicht ist das etwas Geschichtliches, wobei es überall Menschen gibt, die etwas gegen Andersaussehende haben. Hast du Angst vor dem neuen rechtsradikalen Terror?
Als ich klein war, wurde ich verprügelt, weil ich schwarz bin. Ich war noch ganz klein und man sagte mir straight, dass man mich hier nicht haben will. Auch wenn ich deutsch bin, vielleicht auch nur zu einem Viertel, aber ich bin hier groß geworden und habe die Kultur angenommen und deswegen war ich umso schockierter, als man mir sagte, dass ich hier nicht erwünscht wäre. Findest du, diese Gewaltbereitschaft wird unterschätzt?
Ja, gerade die jungen Menschen, die sich durch die Gewalt ausdrücken. Das Potential ist da, und wenn die ihre Wut nicht rauslassen können, fokussieren sie sie auf eine Randgruppe, an der sie es auslassen. Glaubst du, dass die Polizei etwas dagegen tun kann?
Ich laufe meistens durch einen multikulturellen Bezirk und habe es noch nicht so erlebt, aber ich hab mal eine Dokumentation gesehen, Schwarz auf Weiß, und es war schockierend, dass die Polizisten nichts gemacht haben, als es Übergriffe gab. Nur eine Polizistin hat geholfen, als ein Schwarzer bei einem Fußballspiel angegriffen wurde. Glaubst du, die Deutschen sehen eher weg?
Es gibt diese Gruppe und es gibt diese Gruppe. Die, die sich damit auseinandersetzen, und die, die es nicht tun. Und was ist mir dir? Beschäftigst du dich damit?
Ich hab das Identitätsproblem, ob ich selber überhaupt schwarz oder weiß bin. (lacht) Also, schon. Ich bin ein auffälliger Mensch. Manchmal frage ich mich, ob ich angekuckt werde, weil ich Ausländer in dem Sinne bin, dass ich nicht gerade deutsch aussehe, oder weil ich so auffällig bin. Glaubst du, es wäre sinnvoll, die NPD zu verbieten, oder hilft das eher dabei, dass sich dieses Gedankengut im Untergrund verbreitet?
Ich hatte gerade in der U-Bahn die Diskussion. Ich denke, man kann es verbieten, aber das Gedankengut würde nicht verschwinden. Willst du noch irgendwas loswerden?
VICE ist cool!

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Dr. Kampel, 77

VICE: Sind Sie der Meinung, dass sich die deutsche Gesellschaft zu sehr auf den islamistischen Terror fokussiert hat?
Dr. Kampel: Ja. Wurden die Neonazis also unterschätzt?
Von Anfang an, seit es die Bundesrepublik gibt. Finden Sie, dass die deutsche Gesellschaft versucht hat, dem Ganzen entgegenzuwirken oder hat sie eher weggeschaut?
Weggeschaut. Wäre dementsprechend ein NPD-Verbot also sinnvoll?
Das wäre von vornherein sinnvoll gewesen. Selbstverständlich. Wieso denn eine NPD? Alle Diskussionen sind doch umsonst. Was glauben Sie, was der Auslöser für das Gedankengut und den Hass der Neonazis ist?
Das ist eine langwierige Geschichte, das hat fast schon Tradition in Deutschland. Das kam ja nicht von heute auf morgen. Ist das nur Ausländerfeindlichkeit oder woher kommt die Gewaltbereitschaft?
Nein, da geht es um viel mehr. Ich hab es ja als Kind erlebt und ich war auch schon dabei. Auch wegen dem Krieg, ich wollte nur Soldat werden, nichts anderes. Und dann 1945 hat sich einiges geändert und ich habe viele Dinge anders gemacht. Haben Sie dieses Gedankengut also auch geteilt?
Na ja, man hat ja nichts anderes gekannt. Und die Eltern haben sich zurückgehalten, weil sie einfach immer Angst hatten, dass die Kinder was sagen. Aber jetzt teile ich mit denen gar nichts mehr, im Gegenteil. Glauben Sie, dass das jetzt die Spitze des Eisbergs war oder kommt da noch was?
Ich denke eher, dass das die Spitze des Eisbergs war. Also schlimmer kann es nicht mehr kommen. Falls doch, sind die Behörden darauf vorbereitet?
Die haben ja alles. Sie müssen nur noch damit arbeiten. So extrem wie jetzt war es ja bisher noch nie.

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Olu

VICE: Hi, was ist deine Meinung zum aktuellen Neonazi-Terror in Deutschland?
Olu: Mit Nazis habe ich bereits in der Vergangenheit keine guten Erfahrungen gemacht…

Was ist vorgefallen?
Olu: Also erstmal–und ich weiß nicht warum—war ich jedes Mal im Sommer zufälligerweise genau an dem Tag in Gera, wenn diese große Veranstaltung stattfand, wo sich alle Nazis aus Europa treffen. Ich besuche dort eigentlich nur mein Kind und mir ist das letzten Sommer das fünfte Mal passiert.

Ist dir da etwas passiert?
Im Juli wurde ich einmal körperlich angegriffen und da habe ich die Polizei angerufen. Manchmal, wenn ich nach Gera komme, sehe ich einen Hubschrauber, der über der Stadt kreist und Zivilpolizisten verfolgen mich oft, weil mein Kind auch schwarz ist. Aber wenn ich wieder abreise, bin ich sehr froh.

Fühlst du dich auch beschützt in dem Moment von den Behörden?
Ja, schon. Aber eigentlich sollte es gar nicht soweit kommen. Ich war schon überall auf der Welt und ich möchte frei rumlaufen, egal wann und wo ich will. Ich will nicht beschützt werden müssen und auch keine Sonderbehandlung.

Meinst du, dass sich Deutschland zu sehr auf den islamistischen Terror fokussiert und nicht mehr so stark auf den Nazi-Terror?
Ich bin der Meinung, dass das System die Verbrechen der Rechtsextremisten von vornherein—ich würde nicht sagen unterstützt, aber erlaubt hat.

Also würdest du schon sagen, dass das System darüber hinweg geschaut hat?
Ja auf jeden Fall.

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Findest du, man sollte die NPD verbieten?
Nein. Ich finde man sollte den Leuten schon erlauben sich auszudrücken. Ich weiß nicht, ob ihr das mitbekommen habt, aber es gibt diese Partei in England, die BNP. Und auf einmal hat BBc den Vorsitzenden eingeladen und die ganze Welt hat Fragen gestellt, aber plötzlich steht der Mann als Wichtigtuer da. Es gibt diese Berührungsangst, die man überwinden muss, um zum Beispiel Jugendlichen, die noch eine Chance haben zu wählen, das Richtige zu transportieren. Aber man muss damit auch an die Öffentlichkeit gehen und sich damit auseinandersetzen. Man muss sich fragen „Wo kommt dieser Idiot her?". Genauso wie dieser holländische Anwalt, der um die Welt fliegt, aber erzählt, dass er ein Problem mit Ausländern hat. Was will er dann im Ausland? Auf diese Weise kommt es natürlich zu Auseinandersetzungen.

Woher kommt diese Aggressivität der Nazis?
Weil sie keine andere Wahl haben. Ich bin Pazifist und Aggressivität bedeutet für mich Ideenlosigkeit. Da ist Gewalt die einzige Lösung für alle Probleme.

Yvelle, 43

(Yvelle redet gleich drauf los, ohne eine bestimmte Frage)
Yvelle: Also für mich ist das eine heiße Kiste, weil ich mit 15 Jahren als Jugendlicher von vier Neonazis zusammengeschlagen worden bin und jahrelang ein Trauma hatte. Ich hab das nur langsam verarbeitet und deswegen steh ich mit dieser Geschichte in einem ziemlichen Spannungsverhältnis. Zum einem haben wir Großeltern und ich bin in Deutschland, Rheinland-Pfalz, aufgewachsen. Da geht es schon los: Mein Großvater war bei der SS und das ist eigentlich das Spannende, weil ich jetzt diesen Versöhnungsweg eingehe, für meine männliche Ahnenlinie. Ich arbeite als Künstler in einer Synagoge in Israel, komme quasi gerade vom Judenfriedhof und hab mir Synagogen angekuckt. Versöhnung ist für mich also ein unheimlich wichtiges Thema.

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Wissen Sie noch, warum Sie zusammengeschlagen worden sind?
Ich hab in einer Hochburg des damaligen Rechtsextremismus gelebt, in Mannheim Frankenthal. Ich komme eigentlich auch gutem Hause, war damals aber Punk, also eher revolutionär, aus der Anarchie-Szene und dann wurde ich halt einfach zusammengeschlagen. Das war damals in den 80ern nach einem Toten Hosen-Konzert. Was meinen Sie denn, wo der Hass herkommt und vor allem diese Gewaltbereitschaft?
Das ist prinzipiell eine menschliche Frage. Das hat nichts mit links oder rechts zu tun, das wissen wir. Ob Steinewerfen als Antwort auf die Neonazi-Kampagnen die Lösung ist, ist auch die Frage. Die Menschen können mit ihrer Energie nicht umgehen, vor allem männliche Energien. Ich war lange in Neuseeland, hab mit den Maories getanzt und mit ihnen geschnitzt. Die haben einfach einen Weg gefunden, Energien umzuwandeln. Sie tanzen den Kriegstanz, sehr mächtig, männlich, aber nicht weil sie Krieg führen wollen, sondern weil sie etwas loswerden müssen. Wir haben das auch in der Wirtschaft. Es gibt unheimlich viele Choleriker, die könnten zielgerichtet natürlich genauso ausflippen wie Neonazis auch. Es ist eine Grundfrage des Menschen. Wir müssen die gestörten Energien ableiten, zum Beispiel durch Meditation, Kunst oder Musik. Haben Sie vielleicht Angst, dass Ihnen so etwas nochmals passieren könnte? Oder vielleicht sogar Schlimmeres?
Immer wieder. Der Mensch wird sich in dem Fall nicht ändern. Israel, zum Beispiel, macht es gerade nicht besser, dort haben die Menschen gerade auch teilweise die rechte Richtung eingeschlagen. Aber auch dort will jeder Frieden und die Situation spitzt sich zu. Man wird diese Situation immer wieder haben. Wenn man den Geschichtsverlauf zurückverfolgt, gab es immer wieder einen Rechtsdruck innerhalb der Gesellschaft. Fühlen Sie sich von den Behörden beschützt? Oder haben diese bis jetzt eher versagt und nicht genug getan?
Kann man denn Kampf mit Kampf entgegenwirken? Das ist immer die Frage. Aber ich fühle mich von der Polizei beschützt, obwohl auch die Polizei in Extremfällen Energien aufbaut, die dem Anderen nichts entgegensteht. Es entsteht auch so Druck, eventuell Gewalt und so funktioniert es nicht. Hat sich Deutschland vielleicht zu sehr auf den islamistischen Terror fokussiert anstatt auf den Terror im eigenen Land?
Immer. Aber das ist ja eine Umlenkung. Sobald es kritisch in eigenem Land wird, egal ob in Deutschland, Israel oder den arabischen Frühlingsländern, versucht man immer sofort von dem inneren auf den äußeren Bereich umzulenken.

Mertol, 65

VICE: Haben sie Angst vor rechtsradikaler Gewalt? Meinen Sie, die Behörden sind auf weitere Wellen vorbereitet?
Mertol: Nein, Angst hab ich nicht, aber von denen ist niemand vorbereitet. Warum sind die Neonazis so aggressiv?
Ganz einfach. Weil sie hier keine Ausländer haben wollen. Was könnte man dagegen tun?
Da kann man gar nichts machen. Das ist die Politik. Die machen einfach was sie wollen.

Fotos: Grey Hutton