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Immer dieses Internet!

Wie ein ‚Sportstudio‘ von 1974 beweist, dass wir alle Spießer geworden sind

Eigentlich wollte man damals nur eine neue Trikot-Kollektion vorstellen. Stattdessen wurde daraus ein Video, das uns das Leben wieder beibringen kann.

Auf Facebook macht gerade ein Video die Runden, das zu Recht Begeisterungsstürme hervorruft. In seinen knapp zweieinhalb Minuten enthält es so ziemlich alles, was ein Video braucht, um geteilt, gefeiert und geliebt zu werden. Schaut es euch selbst an:

Ein Traum, oder? Alles daran ist perfekt: Die Art und Weise, wie die Kamera von den drei Gästen ganz beiläufig nach rechts schwenkt, wo plötzlich wie aus dem Nichts eine Tanztruppe in voller Bewegung die Hüften kreisen lässt, die fröhlichen, aber kontrollierten Bewegungen der Tänzer, die die neuen Trikots vorstellen, und der durchgehend ernste und gemessene Gesprächston, in dem sich Moderator und Designer über die Kostüme austauschen.

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Das Video (das übrigens gerade in die zweite Runde geht—2009 ist es schon einmal aufgetaucht und hat auf MSN Messenger für einige Lacher gesorgt) ist ein Geschenk der Internet-Götter, das steht fest. Aber was sehen wir da eigentlich? Darauf gibt es zwei Antworten:

  • Einen Ausschnitt aus einer Sportschau, die 1974 aufgezeichnet wurde.
  • Den endgültigen Beweis, dass wir seitdem alle hoffnungslose Spießer geworden sind.

Aber erstmal zum ersten Punkt: Das ist wirklich eine deutsche Sportsendung, und was der Moderator Hanns Joachim Friedrichs da erzählt, scheint tatsächlich ernst gemeint zu sein: Man will zum Ende der Bundesliga-Saison einfach mal über die Trikots der deutschen Mannschaften nachdenken. Müssen die wirklich so einfarbig, so traditionsbewusst, so langweilig sein? „So ganz auf der Höhe—nach meiner Auffassung—sind die Trikots nicht", urteilt Friedrichs streng. Kann man denen nicht auch ein bisschen freshen Polychrom-Style verpassen? Immerhin haben wir die 70er, Jungs!

Von links nach rechts: Moderator Friedrichs, Künstler von Garnier, Lederjackenträger Netzer

Dazu hat der Moderator aber nicht einfach ein paar Praktikanten eingesperrt, damit sie ihm irgendwelche Fantasie-Kostüme zusammenkritzeln. Nein, er hat sich den damals angesagtesten Farbexperten der Bundesrepublik, den „Künstler und Farbphilosophen" Friedrich-Ernst von Garnier (gesprochen wie „Scharnier") eingeladen. (Von Garnier ist ansonsten vor allem als der Typ bekannt, der die grauenhaften Architektur seiner Zeit mit den sehr eigenartigen Farbverläufen versehen hat, die den Bewohnern von Sozialbauten in ganz Deutschland suggerierten, dass sie nicht nur arm, sondern auch geistig auf dem Level eines Kleinkinds sind.)

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Der hat sich dann offenbar mit solchem Feuereifer in die Aufgabe gestürzt, dass man es nur recht und billig fand, seine Entwürfe nicht einfach nur an schnöden Schaufensterpuppen zu drapieren. Stattdessen hat man sich für die Präsentation der Traum-Trikots eine komplette Showeinlage ausgedacht, in der junge, sportliche Tänzer zu offenbar brasilianischer Musik samba-ähnliche Tanzbewegungen aufführen, ekstatisch in die Kamera lächeln und generell eine Atmosphäre erzeugen, die eher an eine Avantgarde-Kunstperformance in der Kommune als an das biedere Sportstudio erinnert.

Alles an dieser Sendung sollte uns Gegenwartsmenschen beschämen. Was muss das für eine großartige Zeit gewesen sein, in der ein Sport-Moderator einfach mal entscheiden konnte, dass er keinen Bock mehr auf die scheißlangweiligen Bundesliga-Trikots hat? Und er sich deshalb einen Designer einlädt, der den Bundesliga-Vereinen „mal ein paar Vorschläge" macht, wie sie die nächste Saison endlich mal auf der Höhe der Zeit sein können? Und dann eine Samba-Show organisiert, um dem Ganzen den angemessenen Rahmen zu geben?

Aber es ist ja nicht nur der Moderator, alle Beteiligten haben sich gleichviel um diese Sendung verdient gemacht. Von Garnier sowieso, der sich als Künstler im Sportstudio nicht nur überhaupt nicht fehl am Platz fühlt, sondern von seinen Entwürfen auch so vollkommen überzeugt ist, dass er noch mürrisch schimpft, das Blau sei „etwas zu stumpf" geraten.

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Aber vor allem die Tänzer verdienen unsere uneingeschränkte Bewunderung: Unschlagbar sind der Enthusiasmus und die Konzentration, mit denen sie die ihren eigenartigen Fantasie-Tanz aufführen. Diese jungen Leute haben keine Drogen genommen—die freuen sich einfach an ihren Körpern, an den schönen Trikots, an der Performance und an der Gewissheit, Teil von etwas Neuem, Aufregenden zu sein. Sie zeigen etwas, das uns längst abhanden gekommen ist: Mut und Hingabe.

Mut, weil sie sich zeigen, wie sie sind. Im Wettbewerb zwischen uns, die wir ängstlich minutenlang am perfekten Selfie herumdoktern, bevor wir es dann mit einem ironisierenden Hashtag in die Welt würgen, tanzen diese Faune einfach über uns hinweg. Sie haben geübt, sie finden es geil, was sie tun, und jetzt werden sie ihr Bestes geben—ohne BH.

Und Hingabe, weil jeder in diesem Video das wirklich ernst nimmt, was er tut. Da wird nicht geschmunzelt oder gekichert, da werde neue Trikots vorgestellt! Vom Duo Moderator-Künstler, die alle Farben gewissenhaft den richtigen Clubs zuordnen, über die Tänzer bis hin zu Günter Netzer—alle sind überzeugt, dass sie hier den Grundstein für eine neue, offenere Zeit legen. Ein frischer Wind wehte damals durch Westdeutschland, warum sollte er nicht auch durch den Fußball gehen? War es nicht endlich an der Zeit, dass Kunst und Sport eine natürliche, lockere Symbiose eingehen?

Was daraus geworden ist, kann man heute mit einem Blick in die Bundesliga feststellen: nichts. Die Trikots sind noch genauso langweilig, nur dass sie jetzt atmungsaktiv sind. Statt für mehr Geist hat man sich für mehr Körper-Wissenschaft entschieden, der Effizienz-Gedanke hat auch den letzten Hauch von Samba verdrängt. Heute würde sich ein ernstzunehmender Fernsehmoderator lieber mit einem Buttermesser die Brustwarzen abschneiden, als in seine Sendung eine Tanz-Einlage oder überhaupt irgendwas Innovatives einzubauen.

In einem Artikel von 2009 wird über diese Show berichtet, Günter Netzer habe am Ende der Sendung gesagt, er sei „im Grunde genommen auch der Meinung, dass mehr Farbe in die Stadien rein soll. Das ist ein Service auch an die Zuschauer." Hämisch fragt der Schreiber unserer Zeit: „Ob Netzer dieser Kommentar heute peinlich ist?"

Die Frage zeigt, wie tief wir gesunken sind. Wir können Günter Netzer nur wünschen, dass es ihm nicht nur nicht peinlich ist. Sondern dass er stolz ist, in einer Zeit gelebt zu haben, in der die Menschen sich noch getraut haben, Barrieren zu überwinden, Neues zu wagen und dann mit vollem Herzen (und in Shorts) dafür einzustehen. Die Zeit wird nicht wiederkommen. Aber dieses Video ist der Beweis, dass der Mensch nicht immer gekrochen ist—früher konnten wir noch tanzen.