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Ich habe Sex-Apps in Katar benutzt, wo man für gleichgeschlechtlichen Sex hingerichtet wird

Ich loggte mich trotzdem ein und hörte binnen Sekunden diese süßen und vertrauten elektronischen Laute von meinem Handy.

Illustrationen: Adam Waito

Einmal strandete ich in Doha, der Hauptstadt von Katar. Vier Tage lang musste ich mir die Zeit vertreiben, mein Hotelzimmer war leer, aber zumindest gab es immer frische Bettlaken und Handtücher. Ich dachte also, ich schau mir mal an, was die Sex- und Dating-Apps hier so zu bieten hatten.

Reisen gehört zu meinem Leben. Ich liebe es, Buchhändler zu fragen, wer die lokalen Literaturgrößen sind, mir die neueste Architektur anzusehen oder neue fancy Drinks zu probieren. Am meisten mag ich es aber, mich mit den Einheimischen zu unterhalten und mit ihnen Sex zu haben.

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In Katar war das etwas anders. Das war das erste streng muslimische Land, in dem ich solche Apps oder Seiten ausprobiert habe. In diesem Emirat gingen die Dinge noch etwas traditioneller zu als in den inzwischen verwestlichten Vereinigten Arabischen Emiraten im Süden. Aber auch hier wehte langsam ein etwas liberalerer Wind, jetzt wo die WM 2022 anstand. Frauen mit unbedeckten Schultern werden beispielsweise nicht mehr auf offener Straße beschimpft.

Aber mir ist auch zu Ohren gekommen, dass es Pläne gab, an der Grenze „Schwulentests" einzuführen. Onlinemagazine—aber auch der zukünftige Ex-FIFA-Chef Sepp Blatter—haben die schwulen Fußballfans bereits gewarnt: Beim Torjubel sollte man seinen Freund lieber nicht überschwänglich knutschen.

Vorher hatte ich mir die Gesetzeslage dazu einmal angeschaut—wie ich das immer bei der Reise in ein neues Land mache. Die Höchststrafe für gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen (oder alle „sündhaften Aktivitäten" außerhalb der Ehe) ist die Todesstrafe. Logisch, das könnte ein ziemliches Hindernis für schnellen, unverbindlichen Sex sein.

Ich bin zwar kein Neurowissenschaftler, aber ich glaube, zwischen einem leeren Hotelzimmer und dem Sexualtrieb besteht ein direkter Zusammenhang. Das sollte mal jemand erforschen. Na ja, obwohl der Tod quasi über mir schwebte, loggte ich mich ein. Innerhalb einer Minute bimmelte mein Telefon heftigst vor sich hin.

„Hey"

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„Hey"

„Hey"

„Hi"

„Hey"

„Hey"

Zu herrlich—das menschliche Verlangen nach Sex ist gleichzeitig so verdammt unterhaltsam und so unbändig. Durch diese Apps und Seiten können wir unsere Triebe quasi über den ganzen Planeten ergießen.

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Ich sollte vielleicht noch erwähnen, dass für mich die Todesstrafe gar nicht galt. Für die Katarer gehöre ich eh zu den verlorenen Seelen. Ich werde einfach in den Knast gesteckt, vielleicht gefoltert, vielleicht noch vergewaltigt und dann abgeschoben. Aber als Muslim wird man zum Tode verurteilt—oder zumindest zu Gefängnis und 100 Peitschenhieben. Auf meinem Telefon tauchte ein Typ nach dem anderen auf, also meist vorteilhafte Fotos verschiedener Körperteile. Die sahen alle nicht nach Touristen oder westlichen Expats aus.

Nun ist es keine Überraschung, dass Sex immer geht—auch wenn der Tod an der Tür klopft. Das gilt in Katar und einigen anderen Ländern, wo auf alle Formen des außerehelichen Sex die gleiche Strafe steht. Außerdem hat man auch zu Zeiten gevögelt, als die Pest ungefähr ein Drittel der Menschheit ausrottete. Einmal hab ich mit einem Typen geschlafen, der mir erzählte, wie noch er vor einigen Wochen zu seiner todkranken Frau ins Krankenhausbett gestiegen ist—und sie den Fick ihres Lebens hatten, wahrscheinlich auch unter Schmerzen, nur ein paar Tage bevor sie starb.

Und doch ist es eine Überraschung. Denn ich befand mich in einem streng religiösen, muslimischen Land. Seit 9/11 denken wir beim Islam nur an starre, mittelalterliche Werte und Strafen. Nicht nur bei den Irren in den Höhlen von Tora-Bora oder in den Trümmern von Homs, Aleppo und Palmyra, sondern auch bei Ländern, die dieser jahrtausendealten Kultur angehören und mittlerweile auch starke Verbündete des Westens in militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht sind.

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Das ist das Tolle am Reisen: Vor Ort sieht es immer anders aus, als noch auf Google Earth oder durch die Augen einer guten Reportage. Hier in Katar darf ein Mann nicht einfach seinen Penis in einen anderen Mann stecken—genauso wenig, wie der Prophet beleidigt werden darf. Aber gleichzeitig steht mein Telefon auch nicht still. All diese hoffnungsvollen, aufgegeilten, wahrscheinlich sehr mutigen jungen Männern, die aus ihrer ausweglosen Situation ausbrechen wollen. Am Ende wollen wir alle nur ein freies Leben—wenn man mit Leben Sperma meint.

Ich ging zu Meetings und Lunches und auf ein paar abendliche Drinks—aber in den langen Nächten bis zum Morgengrauen und manchmal auch zwischen den Terminen gönnte ich mir ein bisschen Sex und lernte so einiges über die religiösen Veränderungen in der muslimischen Welt.

Anfangs dachte ich, dass diese Apps und Seiten für die Regierung eine prima Möglichkeit wären, genau solche Leute wie mich aufzuspüren. Den Behörden in Saudi-Arabien, nur ein paar Kilometer weiter westlich, hat man genau das vorgeworfen. Den ersten Jungs, denen ich zurückschrieb, stellte ich mehr Fragen, als ich es sonst tun würde—sorry nochmal! Wo sie wohnten, wer sie seien und ob sie mir ein Beweisfoto schicken können, auf dem ich erkennen könnte, dass sie auch wirklich existieren—und keine Polizisten sind, die versuchen, mit gestohlenen Nacktfotos einen nichts ahnenden Gottlosen zu überführen.

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Sie haben mir nicht immer ihre Namen genannt, aber mit den meisten hab ich mich richtig unterhalten—außer mit einem, der ein ein Poloshirt und Basketball-Shorts trug und nur drei Brocken Englisch sprach (oder sprechen wollte). Ich liebe es, nach dem Sex zu quatschen, um die Leute kennenzulernen. Das ist so intim, ehrlich und ohne große Risiken zugleich, einfach zwangfrei. Das führt meist zu extrem aufrichtigen Gesprächen, die nicht wie sonst aufgesetzt klingen.

Ich möchte hier keine persönlichen Details der Jungs preisgeben—alle außer ein paar waren Muslime und aus Katar und damit Kandidaten fürs Schafott—, zur Verwirrung erfinde ich ein paar dazu.

Einer war Bodybuilder, lebte mit seinem Freund, er nannte ihn seinen Mann, zusammen. Dann war da der Typ, der mich an ein Kaninchen erinnerte. Der war total hibbelig und mochte meine etwas gemächliche Art beim Sex nicht. Mit einem—wahrscheinlich vorher einstudierten—Wrestlinggriff drehte er mich um und drang in mich ein. Vollkommen OK, aber benutz bitte ein Kondom, Junge! Dann schmiss ich ihn wieder um und sorgte für Ordnung. Er arbeitete für eine großes Unternehmen in Katar.

Unser After-Sex-Gespräch war eigentlich so wie viele Gespräche, die ich in anderen Hotels in anderen Städten hatte, wir sprachen über unser Zuhause, Reisen, noch mehr Sex. Ich fragte ihn, ob es hier schwer war, mit anderen Typen Sex zu haben, wo die Gesetze so streng und ziemlich abschreckend waren. Er lachte. Das Lachen kannte ich schon von vielen Reisen, nach dem Motto: „Das denkt auch nur ein blöder, naiver Touri." Er meinte, es wäre nicht schwer. In der Eingangshalle des Museums für Islamische Kunst in Doha steht ein altes Zitat des islamischen Historikers Rawandi: „Sei dir deiner Feinde stets bewusst, wie ein Schachspieler. Habe ein wachsames Auge auf deine Handlung wie auf die deines Gegners." Die Jungs haben sich das zu Herzen genommen.

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Der Flughafen in Doha. Foto vom Autor.

Ein anderer war Bauarbeiter, der seinen Jahresvertrag immer wieder verlängerte, anstatt zurück in seine Heimat zu gehen. Wir gingen in seine Wohnung, wo er noch mit einem anderen Typen lebte, der aber gerade nicht da war. Ich fragte ihn nach den Arbeitsbedingungen, ich hatte darüber in den Nachrichten gehört. „Ja, die sind nicht gut", sagte er als er sich mit einem Handtuch die Wichse vom Bauch wischte und seine Klamotten zusammensuchte—er stand nicht so auf Kuscheln—,„aber es ist immer noch besser als zu Hause."

Einen Typen—er war eher ruhig und etwas ernster—fragte ich, ob man in Doha auch Kerle offline kennenlernen kann. Er sagte, er ginge immer in eine ganz bestimmte Hotelbar. Offiziell dürfen Katarer in keine Hotelbars, aber sobald man keine Thawb trägt, hält niemand einen für einen Katarer. Ich bin später selbst in die Bar gegangen—das war definitiv keine Schwulenbar, aber es waren paar einsame Männer da, die Drinks bestellten, die sie dann nicht tranken. Mit ängstlichen, hungrigen und gleichzeitig zögerlichen Blicken versuchten sie, Kontakt aufzunehmen—ganz so wie man es in den Romanen über die Situation in Nordamerika vor 50 oder 60 Jahren liest oder in Biografien aus der Zeit.

Es gibt so viele verschiedene sexuelle Situationen mit ganz eigener Atmosphäre. Entweder man cruist ganz selbstbewusst durch die Straßen, immer auf der Suche nach dem Blick des anderen—und eher spielerisch und nicht mit der Gefahr im Nacken. Oder man reißt gezwungenermaßen jemanden auf einer Party oder im Club auf—man ist ja eigentlich nur da, um jemanden aufzugabeln, wenn man es also nicht versucht, hat man auf ganzer Linie versagt und wenn man dann in den Morgenstunden allein dasteht und sich die Tanzfläche langsam leert, verzweifelt man. Es gibt auch die extremeren Varianten, zum Beispiel wenn man sich in der Schwulensauna aufgeilt, Gruppendinger oder die kleinen „Rollenspiele" im Gefängnis.

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Doha war ganz anders. Am ehesten lässt es wie ein amerikanisches Holzfällerstädtchen oder Öltstädtchen vor ein paar Jahrzehnten beschreiben. Die ganze Atmosphäre war von einer lustvollen Gier erfüllt, eine Art verzweifelter Enthusiasmus. Man ist so sehr auf Sex fokussiert, dass jede andere Form der Beziehung oder Freundschaft fast ausgeschlossen wird. Aber irgendwie wollen sie sich dann doch ein wenig unterhalten, um den anderen und sich selbst zu verorten. Ein paar Geschichten zu hören, sich über aufgestaute Dinge zu unterhalten, war für einige dann genauso interessant und wichtig wie Sex. Die meisten Jungs waren nicht in Katar gefangen—sie hätten nach Berlin oder New York fliegen können—sie waren also nur bedingt eingeschränkt.

An meinem letzten Abend in Doha lief ich durch den Suq—er ist neu, sieht aber alt aus. Einige Teile sehen sogar absichtlich etwas abgewrackt aus, nämlich dort, wo die Gewürz- und Stoffläden für die ausländischen Arbeiter waren. Ungefähr zehn Minuten streifte ich durch die Gassen, bis auf einmal ein großer, breitschultriger, schöner Mann neben mir herlief und mich fragte, woher ich kam. Ich antwortete und lief auf einen Souvenirladen zu. Er folgte mir. Er sprach nur gebrochen English—er kam aus Sri Lanka—, aber er blieb hartnäckig und freundlich und war außerdem ziemlich heiß, also haben wir uns beim Gehen unterhalten. Er bot mir an, mir ein paar tolle Ecken zu zeigen. Er erzählte von seiner Arbeit und wie er mit fünf anderen Typen in einer Unterkunft hauste, aber das wäre ja OK, weil er nichts für das Zimmer zahlte und er hier mehr verdiente als zu Hause. Fünf Minuten später drückte er meinen kleinen Finger. Wieder fünf Minuten später führte er mich in eine Gasse, griff mir in den Schritt und fragte mich, ob wir es bei mir treiben könnten. Wir sind noch ein bisschen umhergelaufen, ich dachte darüber nach, ob das so eine gute Idee sei. Es war eine verdammte gute Idee—vor meinem Hotel bat ich ihn, draußen zu warten, während ich checkte, ob er mit hochkommen kann. In letzter Minute kam mir ein Gedanke: Ich loggte mich schnell ins WLAN ein und googelte nach Doha, Suq, Schwule, Polizei.

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Die ersten drei Ergebnissen berichteten von Polizisten, die ausländische Arbeiter bei gleichgeschlechtlichem Sex (oder kompromittierenden Situationen) ertappen. Damit sie nicht ins Gefängnis müssen und abgeschoben werden, arbeiten diese dann selbst als Lockvögel. Ausländische Arbeiter haben in Katar nicht wirklich viele Rechte und das passte ganz gut zu den Geschichten, dass ihre Pässe und ihre Löhne einbehalten werden. Als wir durch den Suq gelaufen sind, hat der Typ ständig an seinem Handy rumgefummelt und schrieb auch jetzt draußen vor dem Hotel die ganze Zeit mit irgendjemandem. Ich sagte ihm, dass ich es mir anders überlegt hatte und er ging.

Entweder, ich bin knapp der Scheiße entgangen oder ich habe mir eine spannende Nacht entgehen lassen. Wie dem auch sei, diese Geschichte—wie auch die Atmosphäre bei all diesen Treffen, geheim und doch relativ offen, Typen, die eher hinterhältig als ängstlich waren—hat mich nicht an die Stasi oder die Sittenpolizei im Iran erinnert, sondern an jemanden, den ich ein paar Wochen zuvor in Washington D.C. getroffen habe. Er war etwas über 60 und erzählte mir von seiner Zeit als Teenager. Außerhalb der Stadt, in der er erlebte, gab es ein kleines Waldstück, wo sich nachts Schwule trafen. Ab und zu, so erinnerte er sich, ging so ein riesiger Suchscheinwerfer durch die Bäume, ein erstes Mal und ein zweites Mal, das war's. Nie kam die Polizei oder wurde jemand verhaftet—die Polizisten wollten dich einfach nur wissen lassen, dass sie wissen, was du tust. Solange du nicht aus der Reihe tanzt und sie so dazu zwingst, in Aktion zu treten, kannst du gerne weitermachen.

In Katar kann man nicht frei, offen und glücklich schwul sein, gleichzeitig wird man aber auch nicht sofort gesteinigt. Das war für mich etwas Neues in Bezug auf das Leben in der stark religiösen muslimischen Welt. In den Nachrichten berichten sie nur von Siegen, Niederlagen und Katastrophen, nicht über das alltägliche Leben.

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