​Wie kommt man auf die Idee, ein Tierbefreier zu werden?
Foto: Tim Lüddemann

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​Wie kommt man auf die Idee, ein Tierbefreier zu werden?

Wir haben mit drei Aktivisten gesprochen, die für das totale Ende von Tiernutzung kämpfen—wenn nötig, auch mit illegalen Mitteln.

In unserer Gesellschaft werden Tiere ganz selbstverständlich genutzt—als Lebensmittellieferant, Sportgerät oder Unterhaltungsinstrument. Aber nicht alle sind damit einverstanden. Tierbefreier halten das für ein Verbrechen, und setzen alles daran, Tiere zu befreien—auch wenn sie dafür mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Ein Ausflug in die Gedankenwelt einer kleinen und geschlossenen Szene.

Anfang September konnte man die Tierbefreier am Berliner Kurfürstendamm in Aktion sehen. Die etwa 50 Personen demonstrierten gegen den Wiedereinstieg eines Modegeschäfts in den Handel mit Pelz, bei jedem Pelzgeschäft blieben sie stehen, skandierten Parolen und schwenkten ihre Transparente.

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Protest vor Peek&Cloppenburg im September in Berlin | Foto: Tim Lüddemann

Mit dabei: Anne Schumann*. Die 25-jährige engagiert sich seit Jahren in der Tierbefreiungsszene. Vor zwei Wochen war sie noch irgendwo auf dem Land in Niedersachsen und blockierte mit 30 anderen Aktivisten den Zufahrtsweg eines Futtermittelherstellers. Mit Fahrradschlössern hatten sie sich an einen Transporter gekettet, saßen auf meterhohen Metallkonstruktionen in luftiger Höhe und auch direkt auf dem LKW. Schaulustige aus den nahen Betrieben machten sich über sie lustig, bei den Räumungen durch die Polizei setzten sie ihre Gesundheit aufs Spiel, und anschließend erwarten sie Geldstrafen in dreistelliger Höhe.

Blockade-Aktion im August | Foto: Tim Lüddemann

Der Aktion vorangegangen waren wochenlange Recherchearbeiten, mindestens ebenso viel Zeit werden sie in die Gerichtsprozesse investieren müssen. Der Lohn für die Arbeit sind ein paar Presseberichte in regionalen Medien.

Es sind selbsternannte Tierbefreier, die diesen hohen Einsatz für ihren Aktivismus eingehen. Ob Demonstrationen, Einbrüche in Ställen, klassische Öffentlichkeitsarbeit oder Blockaden—die Bandbreite des Einsatzes für die Tiere ist groß. Die Blockade in Niedersachsen fand im Rahmen des „Aktionscamps gegen Tierfabriken" statt, für das Tierbefreier aus ganz Deutschland angereist waren.

Friederike | Foto: Hannes Jung

Aber warum tun sie das? Was bewegt einen Menschen, seine Gesundheit und berufliche Laufbahn zu riskieren, um sich für Tiere einzusetzen? Wer sind diese Menschen und warum opfern sie so viel für Lebewesen, von denen sie nicht einmal ein Danke erwarten können?

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Wer sind Tierbefreier?

Meist werden sie fälschlicherweise als radikale Tierschützer bezeichnet. Während Tierschützer sich schon mit besseren Haltungsbedingungen zufrieden geben, setzen sich Tierbefreier für die komplette Abschaffung von jeglicher Tiernutzung und -haltung ein.

Keine wissenschaftlichen Versuche mehr mit Tieren, keine tierischen Produkte, kein Pferdesport—Tiere sollen so weit wie möglich frei sein, die Gesellschaft vollkommen auf Tiernutzung verzichten. Zusätzlich verstehen sie sich meist als staatskritisch, streben also eine Gesellschaftsform an, die selbstorganisiert ohne den Überbau eines Staates auskommt. Das unterscheidet sie auch von Tierrechtlern. Diese teilen mit ihnen zwar die Idee der Selbstbestimmung von Tieren, verbinden das aber meist noch mit der Idee eines alles schützenden Staates.

Blockade-Aktion im August | Foto: Tim Lüddemann

Die moderne Tierbefreiungsbewegung hat ihre Wurzeln in den 60er und 70er Jahren im angloamerikanischem Raum. Anders als der klassische Tierschutz verstehen sich ihre Mitglieder als klar einer linken und emanzipatorischen Szene zugehörig. Die meisten Tierbefreier verknüpfen die Befreiung von Tieren mit einer Befreiung des Menschen von kapitalistischen und gesellschaftlichen Zwängen. Die Tierbefreiungsszene stellt innerhalb der sozialen Bewegungen eher einen kleinen Teil dar. Im Zuge des allgemeinen Trends hin zu veganer und nachhaltiger Ernährung ist ihre Zahl wohl gewachsen. Dennoch ist die Szene insgesamt noch sehr übersichtlich.

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Selbstbestimmtes Leben – auch für Tiere

Ein Mitglied dieser Szene ist Friederike Schmitz. Die studierte Philosophin beschäftigt sich sowohl akademisch mit dem Thema Tierethik als auch praktisch bei Protesten. Für sie ist es ganz selbstverständlich, dass Tiere nicht eingesperrt oder in irgendeiner Form genutzt werden. „Tiere sind empfindsame Wesen mit Leidensfähigkeit und haben deshalb einen Anspruch auf ein gutes Leben", erklärt sie.

Plakataktion auf der Grünen Woche in Berlin im Januar | Foto: Tim Lüddemann

Dieses gute Leben könne es für Tiere in der Nutztierhaltung nicht geben. Die 33-jährige ist seit acht Jahren im Sinne der Tiere aktiv, veranstaltet Workshops und hält Vorträge. Im letzten Jahr hat sie ein Sammelband zum Thema Tierethik herausgegeben. Sie möchte nicht vorgeben, wie ein Ideal von einer Gesellschaft genau auszusehen hat. „Das muss in einem Prozess geklärt werden", meint sie. Aber: Alle fühlenden Lebewesen sollten selbstbestimmt leben können und in ihren jeweiligen Bedürfnissen berücksichtigt werden.

Aktuell sieht sie das weder für die Menschen noch die Tiere gegeben. Beide Gruppen seien von gesellschaftlicher Ausbeutung und Ungerechtigkeit betroffen. „Mächtige Institutionen haben ein Interesse an dem gegenwärtigem Status. Daher müssen wir die ganze Organisation der Gesellschaft verändern." Aktuell arbeitet sie an einem Projekt, um die Lobbystrukturen von Fleischproduzenten aufzudecken.

Direkte Tierbefreiung

Ein Tierbefreier, der für diese Veränderung bereit ist, Straftaten zu begehen, ist David Braun*. Er ist bei Blockaden, wie der des niedersächsischen Futtermittelherstellers dabei, kettet sich an oder hängt für Stunden von meterhohen Metallkonstruktionen herunter.

Protest in Berlin im September | Foto: Tim Lüddemann

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Der 28-jährige David kommt ursprünglich aus Bayern und hat die Nutzung von Tieren auf dem elterlichen Bauernhof direkt mitbekommen. „Es war zwar ein Biobetrieb und hatte schon gewisse Ansprüche", erzählt er. „Aber im Endeffekt war die Haltung auch dort immer mit Leid für die Tiere verbunden." Mit 11 Jahren fing er an, vegetarisch zu leben. Bei einem Schulpraktikum bei einem Milchviehbetrieb folgte dann die endgültige Erkenntnis für den Veganismus.

Früher stieg David auch in Ställe ein und befreite Hühner. Ihm ist egal, dass er dabei offiziell Straftaten begangen hat. „Wenn Gesetze Ausbeutung und Misshandlung von Lebewesen schützen, dann gibt es keine andere Möglichkeit, als sie zu brechen", sagt er.

Aktionscamp im August | Foto: Tim Lüddemann

Dass Tiere individuelle Lebewesen sind, denen Rechte zugesprochen gehören, ergibt sich für ihn schon aus seinen eigenen Erfahrungen. Beispielsweise bei den Hühnerbefreiungen. „Das eine Huhn ist sofort putzmunter, will alles erkunden und ist neugierig, das andere ist eher zurückgezogen und ängstlich. Und das dritte verhält sich wiederum noch ganz anders", erzählt er. Bei allen befreiten Tieren hätte er aber gemerkt, dass sie froh gewesen wären, frei sein zu können. David meint, er könne nicht nachvollziehen, wie Menschen andere Lebewesen einsperren und sie einfach wie Produkte oder Maschinen nutzen können.

AKTIONEN UND ANSCHLÄGE

Ähnlich sieht es auch Anne Schumann. Für ihre Überzeugung hat sie sich bereits aus 20 Meter Höhe mit einem großen Transparent abgeseilt. Auch Ankettungen hält sie für ein angemessenes Mittel. Die persönliche Gefährdung für sich selbst hält sie für ertragbar. „Jeden Tag werden Millionen Tiere gequält und umgebracht", sagt sie. „Das Risiko, das ich eingehe, wenn ich beispielsweise von einem Dach runterhänge, steht dazu gar nicht im Verhältnis."

Plakataktion auf der Grünen Woche in Berlin im Januar | Foto: Tim Lüddemann

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Auch für sie ist der Verzicht auf Fleisch Normalität, nicht andersherum. „Irgendwann habe ich realisiert, dass das kein abstraktes Essen ist, was da auf meinem Teller liegt, sondern eigenständige Lebewesen, die von Menschen ermordet wurden." Seit diesem Moment hätte sie Fleisch nicht mehr essen können.

Anne wünscht sich kleine Strukturen, in denen Menschen miteinander leben, in denen sie Respekt voreinander, vor Tieren und der Umwelt haben. Gesetzesverstöße für dieses Ziel, inklusive Brandanschlägen, hält sie für hinnehmbar, solange keine Menschen oder Tiere zu Schaden kommen. Es ginge schließlich um die Rettung von individuellen Lebewesen. „Wir reden davon, dass Tiere unter schlimmsten Bedingungen ausgebeutet und umgebracht werden", sagt sie und fügt dann an: „Eine abgefackelte Anlage bedeutet, dass Zehntausende Tiere nicht weiter eingepfercht und umgebracht werden können. Und das ist richtig so."

Blockade im August |Foto: Tim Lüddemann

Anne weiß, wovon sie spricht. Ihr Einsatz für die Tiere treibt sie auch in Ställe und Mastanlagen. Mit den Aufnahmen über Gesetzesverstöße und Tiermisshandlungen sorgt sie regelmäßig für Schlagzeilen in den Medien. Sie ist davon überzeugt, dass die meisten Menschen aufhören würden, tierische Produkte zu konsumieren, wenn sie sich selbst ein authentisches Bild von den Haltungsbedingungen machen würden. „Die Eindrücke erschlagen mich jedes Mal und ich bin immer froh, wenn ich eine Anlage wieder verlassen kann", sagt sie. „Gleichzeitig macht es mich traurig, denn die Tiere können nicht raus und müssen weiter zu Zigtausenden gequält im Dreck leben."

Die Blockade in Niedersachsen wurde nach ein paar Stunden geräumt. Die Polizei versuchte, besonnen vorzugehen, unschöne Szenen sind bei einer Räumung allerdings inbegriffen. Anschließend gratulierten die Tierbefreier sich trotzdem gegenseitig, dass sie das System der Tierausbeutung zumindest für ein paar Stunden an einer Stelle behindert haben.

Für David ist klar, dass sie die Tiernutzung nicht von einem Tag auf den nächsten abgeschafft bekommen. „Aber: Wann sollte man damit anfangen—wenn nicht jetzt?", sagt er. Und wenn man Anne fragt, warum Menschen aufhören sollten Tiere zu nutzen, antwortet sie mit einem einfachen aber ziemlich klarem Spruch: „Was du nicht willst, was man dir tut, das für auch keinem anderen zu."