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Wie überlebt man als Widerständler in der Haupstadt des Islamischen Staats?

Wir haben mit einem Aktivisten gesprochen, dessen Gruppe heimlich Bilder aus dem Herzen des Kalifats veröffentlicht.
Alle Fotos von „Raqqa is being slaughtered silently“

Bis vor einem Jahr kannte kaum jemand die Dschihadistengruppe „Islamischer Staat in Irak und Syrien" (ISIS). Dann nahm ISIS am 10. Juni 2014 die irakische Stadt Mosul ein, ohne auch nur einen Schuss abzufeuern. Die anschließenden Massaker, Kreuzigungen und Enthauptungen und ihre Verbreitung in Hochglanzvideos machten ISIS weltbekannt. Mit dabei: junge Männer aus beinah 100 Ländern.

Keine drei Wochen nach der Einnahme Mosuls änderte die Organisation ihren Namen in „Islamischer Staat" (IS) und erklärte ihr Herrschaftsgebiet zum „Kalifat". Eine bizarre „Siegesparade" mit dem im Irak erbeuteten Militärgerät in der nordsyrischen Staat Raqqa rundete die Horrorshow ab.

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Über Raqqa hatte die Islamistengruppe schon seit Ende 2013 ihre Schreckensherrschaft gespannt. Die Initiative Raqqa is being slaughterd silently berichtet seitdem heimlich und unter großer Gefahr aus der „Hauptstadt des Islamischen Staates". Abd al-Aziz al-Hamza, der inzwischen in Berlin lebt, hat die Gruppe mitgegründet.

VICE: Wie war die Situation in Raqqa, bevor der „Islamische Staat" die Herrschaft übernahm?
Abd al-Aziz al-Hamza: Jedes Jahr anders. 2011, als die Revolution begann, studierte ich Biologie an der Universität Raqqa. Mit Freunden habe ich ein unabhängiges Medienzentrum gegründet, um über die Revolution zu berichten. Dreimal wurde ich verhaftet. Anfang 2013 vertrieb die Freie Syrische Armee (FSA) das Regime aus Raqqa—das war die schönste Zeit meines Lebens. Ich konnte frei als Journalist arbeiten, war auf der Straße, machte Interviews, ging auf Demonstrationen. Die bewaffneten Gruppen hatten Respekt vor der zivilen Opposition. In dieser Zeit haben wir die Freiheit gespürt.

Neben den Medienaktivitäten war ich auch in der Union der Freien Syrischen Studenten (UFSS) aktiv. Wir haben dafür gesorgt, dass keine Bewaffneten das Unigelände betreten. Die Universität sollte ein entmilitarisierter Bereich sein, damit es weiter möglich ist, dort zu studieren.

Was hat sich dann verändert?
Auch bevor ISIS auftauchte, gab es Probleme, vor allem mit der al-Nusra-Front [der Al-Qaida-Ableger in Syrien]. Die FSA und die al-Nusra-Front kontrollierten damals die Stadt. Auch al-Nusra hat sich anfangs zurückgehalten gegenüber der Opposition, aber nach und nach haben sie ihren Einfluss ausgedehnt. Dann spalteten sich ISIS und die al-Nusra-Front, und viele Nusra-Kämpfer liefen zu ISIS über.

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RISS verbreitet Fotos aus der Stadt auf ihrer Facebook-Seite. Hier: IS-Kämpfer auf einem Hügel.

Wie hat sich ISIS in Raqqa ausgebreitet?
Im Juni 2013 begann ISIS, Aktivisten zu verschleppen. Wir wussten, dass ISIS dahinter steckte, konnten aber nichts beweisen. Eines Tages, als ich gerade mit meinen Abschlussdokumenten beschäftigt war, fuhren Autos auf den Uni-Campus, mit schweren Waffen, Flugabwehrgeschützen etc.: ISIS. Sie wollten eine Kundgebung abhalten. Ich sagte ihnen, dass Waffen auf dem Unigelände verboten seien, aber das interessierte sie nicht. Am nächsten Tag kamen sie wieder und befahlen allen Frauen, sich zu verschleiern. Eine Woche später kam die Order vom Regime, die Universität zu schließen. Kurz darauf wurden zwei Aktivisten ermordet, Bekannte von mir.

Wie haben die anderen Gruppen reagiert?
Die meisten hatten Angst vor ISIS. Die ISIS-Leute haben viel Kampferfahrung, viele waren in Afghanistan. Die FSA besteht hauptsächlich aus Syrern, die zu den Waffen gegriffen haben, um die Zivilbevölkerung zu schützen. ISIS-Kämpfer kommen nach Syrien, um zu sterben. Sie haben gar kein Interesse zu überleben. Im November begannen sie, die erste FSA-Gruppe in Raqqa anzugreifen, die „Enkel des Propheten". Wir haben Demonstrationen gegen ISIS organisiert, aber ISIS schickte einen Sprengstoffwagen in die Gegend. Bei der Explosion kamen viele Zivilisten ums Leben.

Im Dezember besetzte ISIS die christlichen Kirchen. Sie zerstörten die Kreuze und strichen die Kirchen schwarz an. Wieder haben wir demonstriert. Schließlich sind wir zu den FSA-Gruppen gegangen und haben gesagt, diese Leute zerstören alles, ihr müsst etwas unternehmen. Die FSA riet uns, eine große Demonstration zu machen. Die Islamische Front, die FSA und andere Gruppen haben die Demo geschützt.

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IS-Kämpfer fahren auf einem Polizeiauto spazieren.

Wer hat demonstriert?
300 oder 400 Leute, vor allem junge Männer und Frauen. In der Nacht zog die FSA einen Ring um das ISIS-Hauptquartier. Ich war bei der FSA und habe gefilmt. Anfangs gewann die FSA schnell die Oberhand. Wir waren so froh, wir dachten, endlich ist der Spuk vorbei! Doch ISIS mobilisierte Kämpfer aus Deir ez-Zor und dem Irak und durchbrach die Belagerung. Ich hatte eine Riesenangst. Wenn ISIS mich geschnappt hätte, hätten sie mich umgebracht.

Am 14. Januar 2014 kontrollierte ISIS die ganze Stadt. Ich versteckte mich im Haus eines Freundes. ISIS hatte schon bei meiner Familie nach mir gesucht. Am 16. Januar floh ich in die Türkei. Viele Aktivisten sind im Laufe des Januars in die Türkei geflohen. Von dort haben wir die Schreckensnachrichten gehört: ISIS befahl den Frauen, sich zu verschleiern. Sie schlossen alle Schulen, zerstörten viele Gebäude oder strichen sie schwarz an. Sie ermordeten gefangene FSA-Kämpfer und zwangen alle anderen, sich zu ihren Ideen zu bekennen. Sie begannen, Zivilisten öffentlich hinzurichten.


VICE News berichtete als erstes aus Raqqa direkt: Der Vormarsch des Kalifats


Was hast du gemacht, als du in der Türkei warst?
Ich habe versucht, den Kontakt nach Raqqa aufrechtzuerhalten. Meine Bekannten in Raqqa haben mir und anderen Freunden gesagt: Ihr müsst berichten! Also haben wir eine Kampagne gestartet: Raqqa is being slaughtered silently. Unsere Freunde in Raqqa haben Videos von den Hinrichtungen gemacht und die Menschenrechtsverstöße dokumentiert.

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Kurz nach dem Start der Kampagne gab es die ersten Drohungen. ISIS verkündete, dass sie jeden Aktivisten von Raqqa is being slaughtered silently hinrichten würden. Sie nahmen 60 oder 70 Zivilisten fest, nur weil sie unsere Seite geliked hatten! Nach einem Monat erwischte ISIS einen von uns, Almoutza Billah, an einem Checkpoint. Er hatte Fotos und Videos mit unserem Logo dabei. Sie haben ihn eine Woche festgehalten und dann öffentlich in Raqqa hingerichtet.

Habt ihr vorher darüber gesprochen, dass sowas passieren könnte?
Nein, auf die Hinrichtung waren wir nicht vorbereitet. Ich wollte, dass wir die Arbeit einstellen. Aber unsere Leute in Raqqa sagten: Wir machen weiter, im Namen unseres Freundes.

Wenn man eure Bilder aus Raqqa sieht, dann sind darauf auch Leute zu sehen, die euch ebenfalls sehen müssen. Wie vermeidet ihr, dass ihr beim Fotografieren und Filmen erkannt werdet, wie schützt ihr euch?
Unsere Mitglieder aus Raqqa melden sich nicht mehr bei unserer Facebook- oder Twitterseite an. Sie senden uns die Informationen, und wir, die nicht in Raqqa sind, publizieren sie. Außerdem arbeiten wir mit versteckten Kameras. Wir achten bei allen Informationen darauf, dass sie nicht zurückzuverfolgen sind.

Wie beherrscht und verwaltet der IS dieses riesige Gebiet?
Es gibt viel Öl in der Gegend. Das verkaufen sie an das syrische Regime oder an Händler, die es in die Türkei verkaufen. Die Landwirtschaft bringt auch Geld, Gas und Wasser ebenfalls. Sie haben Banken unter ihre Kontrolle gebracht und schweres Militärgerät erbeutet. ISIS hat keinerlei Nachschubprobleme, sie haben wirklich alles. Sie sind tatsächlich ein Staat. Sie haben Medienbüros, Servicebüros, sie haben Verwalter eingesetzt und eine islamische Polizei aufgebaut, al-Hisbah, die Regelverstöße und „unislamisches Verhalten" hart bestraft.

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Ein Mitglied der weiblichen Polizei, die auf die richtige Kleidung achten—und darauf, dass niemand Fotos macht.

Seit ISIS an der Macht ist, sind bestimmt 500.000 Menschen aus der Region geflohen, die meisten in die Türkei, einige auch in vom Regime kontrollierte Gegenden. Aber das Leben in der Türkei ist teuer. Die ärmeren Familien sind noch in Raqqa. Viele können auch nicht in die vom Regime kontrollierten Regionen, weil sie Söhne über 18 in der Familie haben. Sie würden sofort zum Militär eingezogen.

Wie ist das Leben für die Leute, die noch da sind?
Das Leben dort ist echt beschissen. Alles ist teuer, weil die Grenze geschlossen wurde. Die Leute haben kaum Möglichkeiten, Geld zu verdienen. Auch die medizinische Lage ist schlimm, für die normale Bevölkerung gibt es nicht mal mehr Medikamente. Die Leute sterben an Nierenversagen, weil sie ihre Dialyse nicht mehr bekommen.

Wovon leben die Menschen, wenn sie nicht arbeiten können?
Viele haben Internetcafés eröffnet oder Supermärkte, Restaurants. So etwas funktioniert, denn die IS-Leute gehen in die Restaurants, sie sitzen in Internetcafés, und sie kaufen ein. Wenn du in Raqqa bist, wirst du feststellen, dass der Angestellte im Internetcafé eigentlich Rechtsanwalt ist, der Kellner im Restaurant ein ehemaliger Lehrer.

Essensausgabe

Was ist mit der Bevölkerung, unterstützt sie die Islamisten?
Nein, die meisten Leute hassen ISIS, aber sie können nicht offen sprechen. Alle haben Angst, exekutiert zu werden.

Aber: Die Leute haben wenig Möglichkeiten, Geld zu verdienen—und das, obwohl alles teurer geworden ist. ISIS zahlt ein monatliches Gehalt in Dollar. Wenn du eine Frau hast und Kinder, bekommst du ein Haus oder eine Wohnung dazu, ein Auto, Öl, Benzin, alles umsonst. Viele Leute sind zu ISIS gegangen, weil sie das Geld brauchten.

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Es gibt natürlich auch Leute, die an ISIS glauben. ISIS hat eine große Propagandaabteilung, sie sind echte Profis der Manipulation. Das schlimmste ist, wie sie die Kinder manipulieren. Viele Familien haben kein Geld mehr für Süßigkeiten. ISIS gibt den Kindern Süßigkeiten, kleine Geschenke… Die Kinder lieben ISIS. Viele Kinder treten bei, und die Familien können nichts dagegen tun. ISIS steckt die Kinder in Sharia-Camps. Sie setzen ihnen neue Ideen in den Kopf. Anschließend bringen sie sie in Militärcamps, wo sie an Waffen ausgebildet werden. Und danach geht's an die Front. Dort tragen sie Waffen und Medikamente für die Kämpfer, und wenn die Lage schlimm ist, schicken sie die Kinder los, damit sie sich in die Luft sprengen.

Im September 2014 hat die US-geführte „Koalition der Willigen" begonnen, IS-Gebiete aus der Luft anzugreifen. Hat das die Situation geändert?
Die Luftschläge haben nicht viel geändert. Nun versteckt sich ISIS hinter den Zivilisten. Und das Regime bombardiert ebenfalls. Der Himmel über Raqqa ist offen für Flugzeuge aller Art, jeder kann dort herumfliegen. Von oben regnet es Bomben auf die Menschen, unten ist ISIS und bedroht sie mit Hinrichtung. Ein schlechteres Leben kann man sich kaum vorstellen.

Hat der Sieg der Kurden in Kobanê dir Hoffnung gemacht?
Nicht wirklich. ISIS hat letztes Jahr das Umland von Kobanê in nur zwei Wochen unter seine Kontrolle gebracht. Fast alle Menschen aus Kobanê sind in die Türkei geflohen. Nur die Kämpfer sind geblieben. Die Koalition konnte dort ausgiebig bombardieren, weil niemand sonst mehr da war. Heute ist die Stadt völlig zerstört. Das ist der Preis, ohne den Einsatz der Koalition hätte ISIS Kobanê eingenommen. Es wird zehn Jahre dauern, die Stadt wieder aufzubauen. Meiner Meinung nach ist das keine Lösung, man kann ja nicht das ganze Land dem Erdboden gleichmachen.

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Mitte Juni haben kurdische Kräfte und Einheiten der FSA die Grenzstadt Tal Abyad eingenommen, eine wichtige Nachschubroute für ISIS in die Türkei. Jetzt ist sogar von einem möglichen Angriff auf Raqqa zu hören.
Daran glaube ich nicht. Die Kurden wollen ihre eigenen Städte befreien, und in Tal Abyad hat ISIS nicht wirklich Widerstand geleistet, keine Autobomben, keine ernsthafte Gegenwehr. In Raqqa wäre das völlig anders.

Als du angefangen hast, dich für die Revolution in Raqqa zu engagieren, hast du dir vorstellen können, dass sich die Dinge einmal so entwickeln würden?
Nein. Raqqa ist nicht Aleppo oder Damaskus. Bis vor einem Jahr hatten selbst vielen Araber noch nie von Raqqa gehört. Niemand hat sich auch nur vorgestellt, dass Raqqa von der FSA befreit würde. Dann kam al-Nusra, dann ISIS. Als ich im Januar 2014 durch die Straßen gelaufen bin, habe ich Raqqa nicht mehr wiedererkannt. Es waren plötzlich Leute von überall auf der Welt in der Stadt: Blonde, Rothaarige, Schwarze, Asiaten, Leute aus Tschetschenien, Afghanistan, Europa … alle in dieser kleinen, verschlafenen Gegend. Niemand hätte sich das vorstellen können.

Allein aus Deutschland sind etwa 700 Menschen nach Syrien aufgebrochen, um sich dem IS anzuschließen, schätzt der Verfassungsschutz. Was denkst du, zieht diese Leute an?
Wie ich sagte, die ISIS-Propaganda ist gut. Sie haben eine Abteilung, die nur damit beschäftigt ist, Menschen in Europa zu rekrutieren. Sie versprechen ihnen utopische Zustände im Islamischen Staat, und sie zeichnen ein völlig bizarres Bild des Islam. Hier in Europa kennen sich viele nicht gut aus mit dem Islam. Die Leute in Europa oder den USA sehen diese Propaganda und halten sie für den wahren Islam. Hinzu kommt, dass viele der ausländischen Kämpfer, zum Beispiel aus Deutschland, in ihren Herkunftsländern Probleme haben. Im Islamischen Staat haben sie alles: Geld, Macht, Autos, Häuser, sogar Frauen versprechen sie ihnen. Und sie können machen, was sie wollen. Während es für Syrer sehr schwierig ist, nach Europa zu kommen, ist der umgekehrte Weg einfach. Allein die Grenze zur Türkei ist 1.000 Kilometer lang, die kann man nicht vollständig kontrollieren.

Wie könnte sich die Situation ändern?
Ich glaube nicht, dass sie sich so bald verändern wird. ISIS hat weiter großen Zulauf. Mehr als 1.000 Kämpfer aus über 80 Ländern kommen jeden Monat dazu. In vielen Gebieten sind sie weiter auf dem Vormarsch. Wenn sie eine Stadt einnehmen wollen, tun sie das. Niemand kann sie aufhalten.

Niemand?
Doch, klar, die internationale Gemeinschaft könnte, wenn sie wollte. Sie könnte ISIS bombardieren, sie könnte die FSA unterstützen. Aber sie tun nichts. Ich denke manchmal, die Politiker im Westen hoffen, dass alle Terroristen nach Syrien gehen, und dann werfen sie eine große Bombe drauf. Keine Ahnung. Aber unsere Familien sind ja auch noch dort und unsere Freunde. Niemand unterstützt sie, obwohl wir eine Millionen mal darum gebeten haben.