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​Wir haben mit der Fotografin des toten Flüchtlingsjungen über ihr Foto gesprochen

„Weitere solche Bilder wünsche ich uns allen nicht"—Wie es sich anfühlt, das ganze Elend der Flüchtlinge in einem Bild einzufangen.

Nilufer Demir. Foto: DHA

Am Mittwoch letzter Woche sind mindestens 12 Menschen ertrunken, als sie versuchten, vom türkischen Festland in einem Gummifloß die griechische Insel Kos zu erreichen. Einer der Ertrunkenen war der dreijährige Aylan Kurdi, der mit seiner Familie aus dem syrischen Kobane geflüchtet war.

Das Foto des kleinen Jungen, der mit dem Gesicht nach unten am Strand von Bodrum liegt, verbreitet sich in Windeseile in den türkischen sozialen Medien und schließlich auf der ganzen Welt. Schon jetzt ist das Bild zum Symbol für das Elend der Flüchtlinge geworden. Gleichzeitig hat sich eine ernsthafte Debatte darüber entsponnen, ob solche Bilder in den Medien erscheinen sollten oder nicht.

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Auf der einen Seite stehen die Journalisten, die mit Hinweis auf Würde des Verstorbenen und aus Rücksicht auf seine Familie darauf verzichtet haben, das Bild zu veröffentlichen. Andere Redaktionen entschieden sich fürs genaue Gegenteil und veröffentlichten das Bild. Ihr Argument: Gerade weil es so schrecklich ist, darf das Bild der Öffentlichkeit nicht vorenthalten werden. Wenn das das Ergebnis unserer Abschottungspolitik ist, dann müssen die Menschen das sehen.

Auf welcher Seite der Debatte man auch immer steht—das Bild hat sich bereits fest ins kollektive Gedächtnis der Europäer eingebrannt, es ist jetzt schon historisch. Gemacht hat es die Fotografin Nilüfer Demir für die türkische Agentur DHA. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, wie das tragische Foto entstanden ist.

VICE: Wie ist das Bild entstanden? Bist du zufällig über diese Szene gestolpert?
Nilüfer Demir: Nein, ich bin als Pressefotografin sehr oft an diesen Stränden in Bodrum. Ich und meine Nachrichtenagentur DHA berichten regelmäßig über die Lage der Flüchtlinge. An diesem Tag war ich dort am Strand, um eine Gruppe pakistanischer Flüchtlinge zu fotografieren, die mit einem Schlauchboot ablegten. Außer mir waren noch Passanten an dem Strandabschnitt, die dann die Leichen der syrischen Flüchtlinge entdeckten.

Was hast du gefühlt, als du den Jungen gesehen hast?
Als Mensch war ich natürlich sehr traurig und fast erstarrt, als ich die Kinderleiche sah. Gerade mal 3 Jahre alt, wie ich später erfahren habe. Gleichzeitig habe ich als Fotografin eine Aufgabe, die keine Erstarrung zulässt. Ich habe also die Bilder geschossen.

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Sind ertrunkene Flüchtlinge etwas, mit dem man in Bodrum öfter konfrontiert wird?
Ja. In den letzten 12 Jahren habe ich immer wieder fotografiert, wie Flüchtlinge sich in Schlauchboote setzen, um von Stränden bei Bodrum zu der griechischen Insel Kos überzusetzen. Die Überfahrt ist nicht ungefährlich und Aylan Kurdi war ja leider nicht das erste Todesopfer. Überreste der Schlauchboote sind ein gewohntes Anblick geworden.

Es sind ja auch nicht nur syrische Flüchtlinge, derzeit gibt es beispielsweise auch viele afghanische und pakistanische Flüchtlinge. Jeder Krieg in der Region treibt Flüchtlinge zu den Stränden, an denen ich fotografiere. Die Türkei ist für viele Flüchtlinge die Übergangsstation zur Europäischen Union.

Wie findest du es, dass das Bild jetzt um die ganze Welt geht?
Einerseits wünschte ich, ich würde diese Fotos nicht machen müssen. Ich hätte viel lieber Aylan fotografiert, wie er am Strand spielt, als seine Leiche. Es sind furchtbare Eindrücke und sie rauben mir den Schlaf.

Gleichzeitig bin ich froh, dass die Welt Anteil nimmt und um die toten Kinder trauert. Ich hoffe, dass mein Bild einen Beitrag leistet, dass sich die Situation der Flüchtlinge ändert und keine Menschen mehr auf der Flucht getötet werden.

Es wird viel diskutiert, ob man solche Bilder überhaupt veröffentlichen sollte. Was ist dein Standpunkt?
Wenn das Bild dazu führt, dass sich die Haltung der Welt ändert, dann ist es richtig gewesen, das Bild zu veröffentlichen. Die Fotos von Flüchtlingsdramen, die ich sonst mache, hatten keinen vergleichbaren Effekt. Weitere solche Bilder wünsche ich uns allen nicht.

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