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Erdogan schenkt der Welt den krankesten Wahlkampfspot aller Zeiten

Kurz vor den türkischen Kommunalwahlen hat die AKP einen Werbespot veröffentlicht, in dem das türkische Volk wie eine Horde Zombies aus World War Z aussieht—Erdogan zeigt seinem Volk, wie er es haben will.

Am Sonntag finden in der Türkei Kommunalwahlen statt, und es spricht einiges dafür, dass sie zu den angespanntesten Wahlen der letzten Jahrzehnte gehören werden. Der Premierminister Recep Tayyip Erdogan hat ein Nuklear-Arsenal an Verdammungen, autoritären Drohungen und polarisierenden Äußerungen gegen seine politischen Feinde losgelassen.

Aber die Art, seine Anhänger zu mobilisieren, ist mindestens genauso gruselig. Um das zu sehen, muss man sich nur einen Werbeclip anschauen, der in der Türkei gerade rund um die Uhr auf allen Kanälen läuft—obwohl er letzte Woche von einem türkischen Gericht verboten wurde.

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Das Video ist von Anfang bis Ende hochdramatisch: An einem schönen Morgen in Istanbul weht stolz eine kolossale türkische Flagge. Bis ein Saboteur im schwarzen Anzug sich dem Flaggenmast nähert und plötzlich eine Brechstange hervorzaubert, um die Halterung der Flagge zu demolieren. Im Fallen wirft die Flagge einen Schatten auf jede Ecke des Landes, wo ihr Sturz den entsetzten Bürgern die Tränen in die Augen treibt. Plötzlich hebt die Stimme von Erdogan an, die Nationalhymne aufzusagen:

Freund! Lass keine Schurken in mein Land!

Schirme es mit deinem Körper, lass diese schamlose Invasion enden!

Wie hypnotisiert rennen Tausende Bürger aus dem Stand los, ergießen sich in die Straßen, werfen sich ins Meer, völlig unaufhaltsam in ihrem Drang, zur Fahne zu gelangen. Unter dem riesenhaften Mast werfen sich Tausende zu einem World War Z-ähnlichen Haufen von selbstlosen, flaggenrettenden Patrioten auf. Schließlich erreicht ein Mann das Ende, greift nach dem Seil und springt vom Haufen—möglicherweise in den Tod—um die Flagge wieder steigen zu lassen.

Von Anfang bis Ende enthält die Werbung keine Botschaft außer Erdogans körperlose Stimme, die die Hymne liest. In ihrer Einfachheit ist die Botschaft deutlich: Der Korruptionsskandal und die Straßenproteste bedrohen nicht Erdogan, sondern die türkische Nation; jeder Widerstand ist Widerstand gegen die Türkei selbst.

Die Werbung markiert eine bemerkenswerte, politisch völlig schizophrene Abkehr von der jüngsten Vergangenheit in der Türkei. Den Spot muss man im direkten Kontrast zu dem sehen, den Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) für die letzte Wahl 2011 produzieren ließ. In jener Werbung sah man Türken aus allen Lebenslagen, wie sie sich zu einem kumbayamäßigen Liederfest versammeln und zusammen anstimmen: „Wir haben denselben Weg beschritten, dasselbe Wasser getrunken, durch die selben Sommer und Winter gelebt.“

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Diese Pluralität scheint heute völlig von der zombiehaften Uniformität der Bürger in Erdogans neuem Spot verdrängt worden zu sein. „Der Spot liest sich wie ein Manifest Erdogans“, sagt Soli Özel, ein türkischer Politik-Analyst. „In der türkischen Politik geht es jetzt um Gehorsam—jeder Widerstand gegen seine Partei ist Sabotage“, erklärt er, und weist auch auf das jüngste Twitter-Verbot hin. Gestern beschloss ein Gericht, dass Twitter wieder geöffnet werden muss—aber die Regierung hat 30 Tage Zeit, dieser Entscheidung Folge zu leisten.

Diese Wende zu Verschwörungstheorien und Staatsparanoia hat letzten Sommer während der Gezi-Proteste ihren Anfang genommen. Die Liste der Feinde, die Erdogan für niederträchtige Angriffe auf seine Regierung verantwortlich machte, wurde immer länger und wunderlicher. Der Höhepunkt kam letzten Sommer, als sein Chefratgeber Yigit Bulut behauptete, Erdogans Leben würde von einer Gilde telepathischer Mörder und der Lufthansa bedroht.

Diese Ausweitung der Feindbilder ist ein wichtiger Teil von Erdogans Repressionsstrategie: Ein letzten Monat verabschiedetes drakonisches Internetgesetz diente angeblich dazu, die Kinder vor der internationalen „Porno-Lobby“ zu schützen, das Twitter-Verbot wurde mit Hinweis auf die „Roboter-Lobby“ gerechtfertigt, deren Ziel es sein soll, mithilfe unzähliger Fake-Accounts seine Regierung zu verleumden. „Wir werden Twitter ausradieren. Es ist uns egal, was die internationale Gemeinschaft sagt“, meinte Erdogan kürzlich.

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„Wenn man solche Äußerungen hört, sieht man, dass die Maske wirklich runter ist“, so Ümit Cizre, Professor an der Istanbul-Şehir-Universität. Erdogans Partei wurde einst von einem breit gefächerten Bevölkerungsanteil unterstützt, als sie mit dem Versprechen an die Macht kam, die Macht des einst in der türkischen Demokratie enorm einflussreichen Militärs zu brechen. „Das ist eine der schnellsten politischen Kehrtwenden der Geschichte: In kürzester Zeit hat er es geschafft, von einer breiten Zustimmung dahin zu kommen, dass er sich fast jeden außer seiner absoluten Kernwähler zum Feind gemacht hat.“

Erdogans Wahlkampagne scheint darauf zu fußen, dass dunkle Mächte ihn stürzen wollen. Ob das stimmt oder nicht, in den ländlichen Gebieten der Türkei wird es als die Wahrheit akzeptiert, und Erdogan wird bei den kommenden Wahlen erwartungsgemäß gute Ergebnisse erzielen.

Unabhängig vom Wahlergebnis ist aber eines klar: Die türkische Demokratie befindet sich im freien Fall. Als der Spot vor zwei Wochen zum ersten Mal ausgestrahlt wurde, entschied ein Istanbuler Gericht, dass er illegal ist, da er verbotenerweise im Wahlkampf von nationalen Symbolen (wie zum Beispiel der Flagge) Gebrauch macht. „Na gut, dann verbieten wir eben dieses Verbot“, donnerte Erdogan letzte Woche. Schnell tauchte eine neue Version der Werbung auf, auf der der Halbmond und Stern der Flagge durch den Slogan „Die Nation wird nicht verbogen, die Türkei wird nicht besiegt“ ersetzt worden war.

In der neuen Version liest Erdogan immer noch die Nationalhymne vor, obwohl ein Gericht entschieden hatte, dass das gegen das Wahlkampfgesetz verstößt.

„Es ist ein Beweis, dass Erdogan offen das Gesetz missachtet“, sagt Turhan Feyizoglu, Kopf der Anwaltskammer. „Erdogan wird diesen Kampf wahrscheinlich gewinnen, er ist zu stark, um zu verlieren. Aber es wird deutlich, dass die Menschen in der Türkei verlieren werden.“