Eine rothaarige Frau neben einem dunkelblonden Mann mit Kinnbart, Olga musste aus Russland fliehen, weil sie trans ist.
Olga und ihr Freund Sergei. Foto mit freundlicher Genehmigung von Olga
Menschen

Wie Russland alle Spuren queeren Lebens auslöscht

2023 stufte das Oberste Gericht Russlands die LGBTQ+-Bewegung als extremistisch ein, seitdem findet dort eine Hexenjagd auf queere Menschen statt.
Lisa Lotens
Amsterdam, NL

Olga ist Chemieingenieurin und trans Frau. Die 26-Jährige heißt eigentlich anders, aber möchte ihren richtigen Namen hier nicht nennen. Im November floh sie aus Russland in die Niederlande, wo sie im Ort Ter Apel in einer Unterkunft für Asylsuchende wohnt. "Ich hatte keine andere Wahl", sagt sie. 

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Ausschlaggebend war für Olga die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Russlands vom 30. November 2023, "die internationale LGBTQ+-Bewegung" als extremistisch einzustufen. Damit stehen Organisationen und Personen, die dieser zugerechnet werden, auf einer Stufe mit al-Qaida, ISIS und Alexej Nawalnys Antikorruptionsbewegung. Die Definition ist im Urteil absichtlich vage gehalten, um den Behörden bei der Durchsetzung viel Spielraum zu lassen.

Als Folge ist Gewalt gegen queere Menschen in Russland heutzutage quasi straffrei. Wer an "LGBTQ+-Aktivitäten" teilnimmt, dem droht eine strafrechtliche Verfolgung und eine zwei- bis sechsjährige Haftstrafe. Als "LGBTQ+-Aktivität" kann bereits gelten, nicht als cisgeschlechtlich oder heterosexuell wahrgenommen zu werden, oder sich für LGBTQ+-Rechte einzusetzen. 


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Nur wenige Tage nach dem Urteil führte die Polizei Razzien in mehreren queeren Clubs, Bars und Saunen in Moskau und Sankt Petersburg durch. Offiziell ging es um Drogen. In einigen Fällen fotografierten die Beamten die Ausweise von Menschen. Im Dezember schloss der älteste Schwulenclub Sankt Petersburgs – als Vorsichtsmaßnahme.

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Viele queere Menschen versuchen deswegen, Russland zu verlassen. Die internationalen Sanktionen infolge des Angriffskriegs gegen die Ukraine machen das allerdings schwer. Viele Länder, in die russische Staatsbürger noch einreisen dürfen, wie die Türkei, Georgien und die Vereinigten Arabischen Emirate, sind selbst nicht sicher für queere Menschen. Die International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association, ILGA, der globale Dachverband der LGBTQ+-Organisationen, forderte die europäischen Staaten auf, diese Menschen zu schützen. Bislang hat kein Land konkrete Zusagen gemacht.

"Wegen des Urteils ist jedweder Schutz, den man als Staatsbürger genießt, weg", sagt Olga. "Sie behandeln einen wie eine Kriminelle. Wenn du Gewalt ausgesetzt bist, kannst du zwar die Polizei rufen, aber du läufst dann Gefahr, ebenfalls verhaftet zu werden." 

Bereits im Juli 2023 war in Russland ein Gesetz verabschiedet worden, das jede Form von Geschlechtsangleichung verbietet – hormonell wie operativ. In einer Telegram-Gruppe habe sie gelesen, sagt Olga, dass russische Sicherheitsbehörden Zugang zu den Patientendaten von Menschen haben, die sich einer geschlechtsangleichenden Behandlung unterzogen haben. Eine LGBTQ+-feindliche Gruppe veröffentlichte eine Liste mit queeren Aktivistinnen und Aktivisten, die aus Russland geflohen sind. Die Gruppe fordert, dass diese Menschen nach Russland zurückkehren, und droht, sie in ihren Zufluchtsländern zu töten – als "Reinigungsoperation".

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Das jüngste Urteil des Obersten Gerichts kam keineswegs aus dem Nichts. Es erfolgte auf Antrag des russischen Justizministeriums. Seit über zehn Jahren arbeitet der Kreml daran, LGBTQ+-Menschen nach und nach aus der russischen Gesellschaft zu radieren.

Maria Kozlovskaya war in Russland Menschenrechtsanwältin, heute arbeitet sie für COC Nederland, der wichtigsten Organisation für LGBTQ+-Rechte in den Niederlanden. Vor sieben Jahren floh sie mit ihrer Frau aus Russland. "In Russland gibt es kein unabhängiges Rechtssystem", sagt Kozlovksaya. "Das Urteil war eine politische Entscheidung, um Menschen Angst zu machen, um queere Organisationen mundtot zu machen, um Menschen zurück ins Verborgene zu drängen, sie zur Flucht zu zwingen und sie einzusperren."

Zwei Frauen mit kurzen Haaren halten zwischen Rosen Händchen und schauen lächelnd in die Kamera

Maria Kozlovskaya (links) und ihre Frau | Foto mit freundlicher Genehmigung von Maria Kozlovskaya

2013 markierte in Russland einen Wendepunkt. "Da wurde die sogenannte LGBTQ+-Propaganda gegenüber Minderjährigen verboten", sagt Kozlovskaya. "Jeder, der in irgendeiner Form Informationen übers Queersein mit Minderjährigen teilt, kann strafrechtlich verfolgt werden." 2020 wurden gleichgeschlechtliche Ehen verboten und zwei Jahre später das Propaganda-Gesetz von 2013 auf Erwachsene ausgeweitet. Datingseiten wurden zusammen mit der Darstellung queerer Beziehungen in Filmen, Fernsehserien, Büchern, Musik, auf Postern und in sozialen Netzwerken verboten und zensiert.

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Diese Maßnahmen hatten weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen. Zwischen 2010 und 2020 gab es über 1.000 Hassverbrechen gegen queere Menschen in Russland, 365 davon mit Todesfolge. Nach der Einführung des Gesetzes 2013 verdreifachte sich die Zahl der Opfer – 2010 waren es 34 Menschen, 2015 dann 138. Eine unabhängige Umfrage zeigte außerdem einen Anstieg der Homofeindlichkeit. Der Anteil von Personen, die angaben, sie hätten Angst vor queeren Menschen oder würden sich vor ihnen ekeln, stieg zwischen 2003 und 2021 von 26 auf 38 Prozent.

Die Verfolgung durch die Behörden hat ebenfalls zugenommen. Im Mai 2023 entzog ein Gericht dem russischen Transaktivisten Jan Dworkin das Sorgerecht, nachdem eine Frau aus seinem Umfeld eine Beschwerde eingereicht hatte, dass er sich als schwuler trans Mann nicht angemessen um seinen Sohn kümmern könne. Dworkin brachte das Kind schließlich bei einer russischen Familie unter, bevor er selbst das Land verließ. 

"Aus Selbstschutz haben viele Menschen ihre Blogs und persönlichen Informationen von Social Media entfernt", sagt Kozlovskaya. Viele queere Familien stecken allerdings in Russland fest. Sie können kein politisches Asyl beantragen, kriegen kein Visum und haben Angst, nach ihrer Flucht Gewalt ausgesetzt zu sein. "Sie bringen ihren Kindern bei, darüber zu lügen, wie es zu Hause aussieht."

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Salim, der ebenfalls anonym bleiben möchte, ist Historiker, Sozialwissenschaftler und bezeichnet sich selbst als queer. Vor einem guten Jahr ist er aus Russland geflohen und lebt momentan in einer Asylunterkunft im niederländischen Echt an der deutschen Grenze. "Ich bin wegen der Drangsalierungen geflohen, wegen der Erniedrigung, wegen den Freunden, die ich verloren habe, der Heimlichtuerei und wegen der drohenden Polizeigewalt", sagt er. "Ich kriegte keine Arbeit. Den letzten Anstoß gab dann die Ausweitung des Propagandagesetzes letztes Jahr."

In der Asylunterkunft teilte sich Salim ein Zimmer mit Mikhail, einem anderen queeren Asylsuchenden aus Russland. Er verliebte sich in ihn, aber Mikhail beging Anfang Dezember Suizid. "Jeden Tag sehe ich das Bett, in dem er geschlafen, und den Stuhl, auf dem er gesessen hat", sagt Salim. "Ich gehe durch den Wald, in dem wir gemeinsam spazieren waren. Ich koche Kamillentee aus den Blüten, die wir letzten Sommer beide gesammelt haben. Ich fühle mich leer. Es ist sehr schwer." 

Am 12. Dezember 2023 nahm Salim an einer Demonstration vor der russischen Botschaft in Den Haag teil – seine erste Demonstration überhaupt. Es war der 30. Jahrestag der russischen Verfassung, die eigentlich Menschen jedweder sexuellen Orientierung schützt. "Es war aufregend und befreiend zugleich", sagt er. Die Polizei sei gekommen, aber nur um den Demonstrierenden zu sagen, dass sie ein bisschen weiter auseinanderstehen sollen. "Das war unglaublich für mich", sagt Salim. "In Russland wirst du schon verhaftet, wenn du nur mit einem Schild rumläufst."

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Ein Mann steht mit Schild und Regenbogenflagge vor einem Haus, vor dem die russische Flagge weht

Salim bei der Demonstration vor der russischen Botschaft | Foto mit freundlicher Genehmigung von Salim

Viele sehen in der LGBTQ+-feindlichen Politik Russlands den Versuch, queere Menschen zu Sündenböcken zu machen. "Die Lebensqualität in Russland nimmt rapide ab, es herrscht ein unglaubliches Chaos im Land", sagt Olga. "Ein Weg, um Putins Wählerschaft zu vereinen, besteht darin, einen gemeinsamen Feind zu erschaffen. Putin sagt im Grunde nichts anderes als: 'Es liegt nicht an meiner Politik, dass es uns so schlecht geht. Es liegt an den Bedrohungen und den Feinden von draußen.' Dieselbe Taktik haben die Nazis auch schon angewandt." 

In den letzten Jahrzehnten haben Putin und seine Verbündeten erfolgreich queere Menschen als Ausprägung westlicher Kultur hingestellt, die der russischen Kultur aufgedrängt wird. "LGBTQ+-Gruppen sind organisiert, sie sind laut und haben viele internationale Kontakte, auch zu den Vereinten Nationen, Menschenrechtsorganisationen und anderen Organisationen, die Russlands Politik kritisieren", sagt Kozlovskaya. "Darin sieht Putin eine gewisse Bedrohung, welche er unterdrücken will. Er will außerdem seine eigene Ideologie und traditionellen Vorstellungen zur heteronormativen Familie durchsetzen. In Putins Augen gehören LGBTQ+-Menschen nicht zu Russland." 

Russland ist nicht das einzige Land, das LGBTQ+-Rechte beschneidet. In Argentinien, der Türkei, den USA, Indien und Ungarn gewinnen rechte Stimmen an Macht, mit ihr nimmt auch die queer- und migrantenfeindliche Rhetorik zu. In Deutschland versuchen Parteien von links bis rechts sich in der Flüchtlingspolitik an Unbarmherzigkeit und Härte zu übertreffen. Die AfD, die in vielen aktuellen Umfragen auf Landesebene stärkste oder bundesweit zweitstärkste Partei ist, hat aus ihrer LGBTQ+-feindlichen Haltung – und ihren Sympathien für Putin – nie ein Geheimnis gemacht. 

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In den Niederlanden – dem Land, in dem Maria, Salim und Olga Schutz gesucht haben – hat der Rechtspopulist Geert Wilders die letzten Wahlen gewonnen. Seine Partei für die Freiheit, PVV, hat in der Vergangenheit die Position vertreten, Kinder würden von der "Genderideologie" indoktriniert. Auch er gilt als Putin-Fan.

"Als Wilders gewann, dachte ich mir nur: 'Zum Glück hat meine Frau rechtzeitig ihre niederländische Staatsbürgerschaft erhalten. Sie kann nicht abgeschoben werden'", sagt Kozlovskaya. "Wir befinden uns jetzt in Sicherheit, aber ich kenne Menschen, die in den Asylunterkünften warten und furchtbare Angst haben." Wilders migrationsfeindliche Haltung ist besonders gefährlich für russische Dissidenten, die sich kritisch zum Angriffskrieg gegen die Ukraine geäußert haben und aus Russland geflohen sind. Sollten sie abgeschoben werden, drohen ihnen in ihrer Heimat bis zu zehn Jahre Gefängnis.

"In Russland liest man viel Propaganda gegen Geflüchtete", sagt Olga. "Es ist bizarr zu denken, dass ich plötzlich auch Flüchtling bin. Die Asylunterkünfte sind keine sicheren Orte. Es gibt dort auch viele Menschen aus Ländern, in denen LGBTQ+-Menschen nicht akzeptiert werden. Aber es ist immer noch besser, als in Russland zu bleiben." 

Momentan liegt Olgas Schicksal in den Händen der Behörden. Sie kann nichts anderes tun, als darauf zu hoffen, bleiben zu dürfen. "Letztes Jahr wurde es für mich in Russland illegal, darüber zu sprechen transgender zu sein", sagt sie. "Meine medizinische Behandlung wurde eingestellt und ich konnte letztendlich kein normales Leben mehr führen. Ich kann nicht in einem Land leben, in dem meine schiere Existenz als extremistisch gilt." 

Salim wartet seit 14 Monaten auf seine Aufenthaltserlaubnis. "Ich sehe, wie die Menschen um mich herum wegen der Unsicherheit wütend werden und verzweifeln, weil die niederländische Einwanderungsbehörde die Aufenthaltserlaubnisse komplett willkürlich verteilt", sagt er. "Das macht die Menschen extrem unruhig und führt im schlimmsten Fall dazu, dass sie sich das Leben nehmen."

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