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Der Fall Andrea Geissbühler macht klar: Rape Culture ist auch in der Schweiz real

Die SVP-Politikerin Andrea Geissbühler spricht im Tagesanzeiger vom "typischen Fall", in dem eine Frau in ein Auto gezerrt und vergewaltigt werde. Fakt ist: Bei 80 Prozent der Vergewaltigungen kennen Opfer und Täter sich.
TeleBärn

Am Sonntag sorgte Andrea Geissbühler für Empörung. In einem Beitrag von TeleBärn kritisierte neben Strafrechtsprofessor Martin Killias auch SVP-Nationalrätin Geissbühler, dass ein Drittel der wohlgemerkt verurteilten Vergewaltiger in der Schweiz nicht ins Gefängnis muss. Geissbühler hatte allerdings einen Vorbehalt, den sie sogleich kundtat: "Naive Frauen, die fremde Männer nach dem Ausgang mit nach Hause nehmen und dann ein bisschen mitmachen, aber plötzlich dennoch nicht wollen, tragen ja auch ein wenig eine Mitschuld. Da sind die bedingten Strafen vielleicht gerechtfertigt." Das Statement der Politikerin wirft Fragen auf – wie auch der gesamte Beitrag von TeleBärn.

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Die von TeleBärn genannte tiefe Inhaftierungsquote lenkt vom eigentlichen Problem ab: Die Dunkelziffer der nicht angezeigten Vergewaltigungen. Der Bundesrat stellte im Jahr 2013 fest, dass in der Schweiz weniger als 20 Prozent der Vergewaltigungen angezeigt werden. Die Frauenberatung geht auf Anfrage, davon aus, dass es sich nur um 10 Prozent handelt. Laut dem Bundesamt für Statistik wurden im vergangenen Jahr 532 Vergewaltigungen angezeigt. Nimmt man den Mittelwert der Schätzungen des Bundesrats und der Frauenberatung, kommt man für das Jahr 2015 auf über 3500 Vergewaltigungen. Wovon effektiv nur 436 Täter verurteilt wurden. Dass ein Drittel der Verurteilten zu bedingten Strafen verurteilt wird, bedeutet, dass im Jahr 2015 nur etwa 288 Vergewaltiger inhaftiert wurden. Gemäss der Schätzung sässe also nur einer von 12 Vergewaltigern im Gefängnis.

>Nach dieser Schätzung sind es also nur 8,1 Prozent der Vergewaltiger, die mit einer Gefängnisstrafe rechnen müssen. Geissbühlers sexistisches Statement auf TeleBärn bringt die Verharmlosung der Vergewaltigung in Politik und Medien auf den Punkt: Dass eine Frau Mitschuld an ihrer Vergewaltigung tragen soll, ist kristallklares Victim-Blaming und Ausdruck einer Gesellschaft, die an mittelalterlichen Strukturen festhält. Doch mit ihrer Aussage reiht sich Geissbühler in die Schar der Vergewaltigungs-Witzbolde und Sexisten der SVP ein.

Im Jahr 2003 versuchten 38 von 44 SVP-Nationalräten zu verhindern, dass die Vergewaltigung in der Ehe als Offizialdelikt zu gelten kommt. Ebenso sträubten sich vier Jahre später 6 SVP-Politiker gegen eine Mehrheit von 15 Mitgliedern der Rechtskommission des Nationalrats dagegen, den juristischen Begriff der Vergewaltigung auf Handlungen auszuweiten, die sich nicht auf den effektiven Geschlechtsakt beschränken. Bundesratskandidat Thomas Aeschi schoss letztes Jahr den Vogel ab, indem er sich im Wahlkampfvideo der Sünneli-Partei über K.o.-Tropfen lustig machte.

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Andrea Geissbühler ist nicht nur Politikerin und setzt sich als Hardlinerin für eine strengere Verwahrung ein, sondern arbeitet laut eigener Homepage noch im Teilzeitpensum als Polizistin. Somit müsste sie nicht nur aus politischer Perspektive mit der Problematik sexueller Gewalt vertraut sein. Die Frau, die Freundin und Helferin für Opfer sexueller Gewalt sein sollte—die vielleicht auch bei einer Vergewaltigung die erste Ansprechperson des Opfers ist—bedient sich der Rhetorik des Victim-Blamings und hilft weiter dabei, eine Rape Culture zu erhalten. Auf Nachfrage von 20 Minuten am Montag bleibt Geissbühler bei ihrem Statement und doppelt nach: Sie halte generell nichts von bedingten Strafen. Aber als Polizistin habe sie eine differenzierte Sichtweise. Bei Befragungen habe sie gesehen, dass es Frauen gäbe, die lange mitspielen. Sie appelliere deshalb auch an den gesunden Menschenverstand der Frauen.

Dass eine Vergewaltigung im bestehenden System beinahe straffrei bleiben kann, muss Fragen aufwerfen. Wer einen Bekannten nach Hause einlädt und dann von ihm unter Anwendung von Gewalt ausgeraubt wird, kann die Polizei anrufen und damit rechnen, ernst genommen zu werden. Niemand fragt: Bist du dir sicher, dass du nicht mit deinem Schmuck rumgeprahlt hast? Bist du dir ganz sicher, dass du nicht beklaut werden wolltest? Komm schon, ein bisschen hat dir der Nervenkitzel beim Ausgeraubt-Werden gefallen, gell? Übertragen auf sexuellen Missbrauch und Vergewaltigung sind diese Fragen von Polizei und auch dem direkten Umfeld bittere Realität.

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Dem Tagesanzeiger gab Geissbühler am Dienstag ein Interview, in dem sie erklärte, ihre Aussage sei vielen Leuten in den falschen Hals geraten. Sie relativierte ihre Aussage zwar, wollte sich aber nicht entschuldigen. Auf die Frage, ob Geissbühler viele Rückmeldungen bekommen habe, antwortet diese: "Ja, viele. Da gibt es Leute die glauben, ich gebe ihnen die Schuld an dem erlebten Missbrauch. Das ist nicht so. Ich sprach nicht vom typischen Fall, wo eine Frau ins Auto gezerrt und vergewaltigt wird."

Geissbühler nutzt damit einen Vergewaltigungsmythos als Narrativ. Man geht davon aus, dass sich in

80 Prozent der Vergewaltigungsfälle

Opfer und Täter schon vor der Tat kannten. Vergewaltiger sind keine gesichtslosen Männer, die im Gebüsch auf uns warten. Nicht nur an amerikanischen Universitäten werden junge Frauen missbraucht. Nicht nur in Köln geschehen in der Silvesternacht Übergriffe. Vergewaltiger sind Brüder, Freunde, Onkel, Vorgesetzte oder Lehrer. Und in seltenen Fällen auch

Frauen

. Das ist Rape Culture. Es ist eine Gesellschaft, in der Vergewaltigungen geschehen, sie aber heruntergespielt werden. Den Opfern wird misstraut oder Mitschuld gegeben.

Die gesamte Gesellschaft hat ein Interesse daran, dass Verbrechen geahndet und Täter verurteilt werden. Dass unserem System vertraut werden kann. Dafür müssen aber auch Politiker verstehen: Nicht nur Vergewaltiger machen die Rape Culture aus. Es ist der gesellschaftliche Umgang mit Delikten, mit Opfern, mit Menschen, der die Rape Culture immer wieder aufs Neue reproduziert. Aussagen wie die von Geissbühler passen nicht zu einer fortschrittlichen Schweiz.

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