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Biologische Waffen

Was unmittelbar nach einem Terroranschlag mit Rizin in Deutschland passieren würde

Wir haben Experten gefragt, wie Behörden mit diesem Angriffsszenario umgehen würden.
Foto: imago | Eibner

3.150 Rizinussamen, 84 Milligramm reines Gift, außerdem 250 Metallkugeln, Nagellackentferner, eine Mischung aus Aluminiumpulver, Angelhaken und Feuerwerkssubstanzen: Als der 29-jährige Tunesier Sief Allah H. Anfang Juni in Köln festgenommen wurde, hatte er alle Zutaten beisammen, um eine biologische Splitterbombe zu bauen, die Hunderte Menschen hätte töten können – einerseits durch die Explosion des Sprengstoffs, andererseits durch das hochwirksame Gift Rizin.

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Der Generalbundesanwalt Peter Frank warnte daraufhin in den Tagesthemen: "Wir müssen uns davon verabschieden, dass terroristische Straftaten immer nach dem gleichen Muster erfolgen." Deutschland müsse sich künftig auf Anschläge mit biologischen Kampfstoffen vorbereiten. H. selbst sei in seiner Planung bereits so weit gewesen, dass ein Angriff in "naher Zukunft" möglich gewesen sei.

Durch Hinweise von US-Sicherheitsbehörden konnte die Polizei H., der im Kontakt zu Dschihadisten gestanden haben soll, festnehmen und Schlimmeres verhindern. Die Generalbundesanwaltschaft ermittelt gegen ihn wegen des Verdachts auf die "Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat". Doch was heißt überhaupt "staatsgefährdend" im Zusammenhang mit einer Bombe, die aus einer Pflanze gewonnen wird, die in tropischen Gebieten wächst? Was hätte passieren können, wenn H. nie festgenommen worden wäre und einen biologischen Anschlag verübt hätte? Wir haben mit Experten darüber gesprochen, wie gut Deutschland für ein biologisches Terrorszenario mit Rizin gewappnet wäre und was direkt nach einem Anschlag in Köln passieren würde.


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Die Wirkung von Rizin im Körper

Rizin wird aus den Rizinussamen des tropischen Wunderbaums gewonnen. In der Natur besteht für Menschen keine Vergiftungsgefahr, wenn sie die Samen nicht kauen und schlucken. Konzentriert ein Angreifer den reinen Giftstoff – etwa als Lösung oder Pulver –, kann Rizin aber verheerende Folgen haben.

Rizin greift die Körperzellen an, die für den Stoffwechsel verantwortlich sind. Es bindet sich an Ribosomen, also Proteinpartikel, was wiederum verhindert, dass die Zellen Proteine herstellen können. "Die Zellen brechen zusammen, Blutkörperchen sterben, die Leber und andere Organe kollabieren", erklärt der Michael Igel, Facharzt für Pharmakologie und Toxikologie aus Bonn, gegenüber VICE. Zu den Symptomen zählen Übelkeit, Erbrechen, Muskelschmerzen, Nierenschäden und Krämpfe. Ohne ärztliche Behandlung können Betroffene – je nach Dosierung – innerhalb weniger Stunden nach dem ersten Kontakt ins Koma fallen und sterben.

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1978 bekam der bulgarische Autor und Dissident Georgi Markov auf der Waterloo Bridge in London mithilfe eines Regenschirms Rizin injiziert und verstarb drei Tage später. In den USA konnte das Sicherheitspersonal des Senats 2013 einen Brief abfangen, der Senator Roger Wicker vergiften sollte. Bisher wurden keine islamistischen Anschläge mit Rizin verübt, obwohl die Terrormiliz "Islamischer Staat" bereits 2016 in Handbüchern dafür warb, biologische Stoffe wie Rizin für Attentate zu nutzen. Nicht umsonst fällt das Gift sowohl unter die Bio- als auch die Chemiewaffenkonvention der UN und das deutsche Kriegswaffenkontrollgesetz.

Beamte mit Gasmasken und Stoffschürzen in einem Feuerwehrauto in Köln-Chorweiler. Weil sie etwa Möbel aus der Wohnung des Verdächtigten konfiszierten, trugen sie die Schutzkleidung | Foto: imago | Eibner

Reines Rizin kann injiziert, oral eingenommen, eingeatmet oder über Hautkontakt aufgenommen werden. Der mutmaßliche Islamist H. soll vorgehabt haben, eine Splitterbombe zu basteln. Wäre diese explodiert, hätten Menschen im direkten Umkreis der Explosion das Gift inhaliert und über die Haut eingenommen. Gegen Rizin gibt es kein Gegenmittel. Der Tod kann verhindert werden, wenn der Vergiftete früh genug medizinische Betreuung – zumeist auf der Intensivstation – erhält. Nach Intoxikationen werden Symptome behandelt, die Behandlung hängt davon ab, wie das Gift konsumiert wurde und welche Organe betroffen sind. Behandlungsmöglichkeiten können Herz-Kreislauf-Übungen oder intravenöse Flüssigkeitszufuhr sein.

20 Mikrogramm Rizin pro Kilogramm Körpergewicht können dabei reichen, um einen Menschen zu töten. Geht man von einem Durchschnittsgewicht von 80 Kilogramm pro Mensch aus, hätten durch die 84 Milligramm mehr als 50 Menschen sterben können. Berücksichtigt man die mehr als 3.000 Samen, die H. zu Hause bunkerte, hätte diese Zahl auf Hunderte, wenn nicht gar Tausende steigen können. "Das ist kein LKW, der zehn Menschen tötet, sondern das hätte wirklich weitreichende Folgen", sagt Michael Igel. "So eine Bombe ist wie eine Echtzeit-Simulation aus einem Kriegsspiel."

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Das ATF rückt an, eine Spezialeinheit zur Bekämpfung biologischer Kampfstoffe

Nehmen wir an, H. hätte seine Bombe gezündet. Wahrscheinlich hätte er dafür einen belebten Ort gewählt – etwa ein Einkaufszentrum oder eine prall gefüllte U-Bahn –, um möglichst viele Menschen zu treffen. Alleine durch die Splitterwirkung der Bombe wäre mit zahlreichen Verletzten zu rechnen. Wie schlimm die weiteren Schäden einer mit Rizin gefüllten Bombe wären, hängt davon ab, wie das Gift dosiert wäre, welche Sprengkraft der Bombensatz hätte und wie viele Menschen auf welchem Raum versammelt wären. Doch ist Deutschland auf ein solches Szenario vorbereitet? Biologische Anschläge gab es in Europa noch nicht.

Wenige Sekunden nach der Detonation würden die ersten Notrufe in den Rettungsleitstellen eingehen. Im Falle eines biologischen Terroranschlags in Köln würde das Innenministerium von NRW die Gefahrenabwehr übernehmen. "In Nordrhein-Westfalen gibt es eine ganze Befehlskette zu dem, was dann passieren würde", erläutert ein Sprecher des Innenministeriums gegenüber VICE. "Ein Krisenstab aus Vertretern der Polizei, der Feuerwehr, des Ordnungsamtes und der Stadt würde zusammenkommen und die Entscheidungen treffen." Das Szenario könne man sich wie in einem Spielfilm vorstellen, bei dem wichtige Menschen in einem Saal sitzen, während dauernd Monitore flimmern und Telefone klingeln.

Am Anschlagsort selbst würde die Analytische Task Force (ATF) der Feuerwehr die Luft untersuchen, um festzustellen, wie giftig sie ist und in welchem Umkreis Menschen in Sicherheit gebracht werden müssen. Die ATF-Einheit unterstützt den Einsatzleiter der Feuerwehr, indem sie mit präzisem technischem Gerät Luftwerte misst und die Gefahrenlage einschätzt. Mittlerweile gibt es sogar eine für biologische Gefahren spezialisierte Untereinheit (ATFB) mit Standorten in Berlin und Essen.

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Nach 30 Minuten wäre der Katastrophenschutz am Anschlagsort

Neben der Analytischen Task Force beginnt jetzt der Katastrophenschutz mit seiner Arbeit. In deutschen Bundesländern ist das ein Zusammenschluss aus mehreren Rettungsorganisationen wie dem THW, der DLRG, dem Deutschen Roten Kreuz und in Köln auch dem Arbeiter Samariter Bund (ASB). Dessen Rettungskräfte übernehmen laut Eigenangaben in Schutzanzügen die Erstversorgung der Verletzten, also Sofortmaßnahmen wie die Versorgung von Wunden. Gleichzeitig würden weitere Kräfte gemeinsam mit der Polizei den Ort absperren und den Stadtteil evakuieren. "Realistisch wären wir 30 Minuten nach einem potenziellen Anschlag vor Ort", sagt Sven Tombelf vom ASB in Köln gegenüber VICE. Da sich die Symptome einer Rizin-Vergiftung erst nach etwa vier Stunden deutlich zeigen, wüssten viele der Menschen, die sich bei der Explosion in der Nähe befinden, zu diesem Zeitpunkt noch nicht zwingend, dass sie in Lebensgefahr schweben.

Wenn wie in diesem Szenario ein biologisches Gift verwendet wurde, müssten die Rettungskräfte die Geschädigten jetzt nicht nur medizinisch erstversorgen, sondern sie auch entkleiden und in speziellen Dekontaminierungsduschen behandeln, bevor sie in Krankenhäusern weiter versorgt werden können. Im Falle eines Angriffs mit Rizin würden Rettungswagen vergiftete Personen in spezielle Krankenhäuser in Nordrhein-Westfalen fahren, die sich auf biologische Gifte spezialisiert haben.

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Die Polizei würde gleichzeitig damit beginnen, Straßen abzusperren, Beweise zu sichern, Fotos vom Tatort zu machen, Zeugen zu befragen und die Tat zu rekonstruieren. Sobald ein terroristischer Hintergrund vermutet wird, beginnt die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe die strafrechtlichen Ermittlungen.

Schaulustige begutachten die Einsatzkräfte in Köln-Chorweiler. Im Falle eines Anschlags müssten Feuerwehr und Polizei den Stadtteil evakuieren und Platzverweise aussprechen | Foto: imago | Eibner

Jede Lage hat eine Eigendynamik

Was nach einem nüchternen und bestens durchgetakteten Vorgehen klingt, ist in Wirklichkeit eine Ausnahmesituation. Wie gut die Gefahrenabwehr und strafrechtliche Verfolgung nach einem ABC-Terrorangriff samt einer möglichen Massenpanik funktionieren würden, ist zumindest zweifelhaft. "Natürlich wissen wir im Speziellen nicht, wie sich so eine Lage entwickeln würde", sagt der Sprecher des Innenministeriums, "so ein Fall hat ja immer eine Eigendynamik". Vielleicht wäre der Täter flüchtig. Womöglich wäre eine Evakuierung unmöglich, wenn es eine Massenpanik gäbe.

Dazu kommt, dass Behörden zwar zu wissen scheinen, wie sie auf ein solches Attentat reagieren müssten, aber Schwierigkeiten haben, Terroristen überhaupt erst auf die Spur zu kommen. Das Bundeskriminalamt stufte H. nicht als terroristischen Gefährder ein, obwohl er erfolglos versucht haben soll, über die Türkei nach Syrien auszureisen. Ebenso wie bei der Sauerland-Gruppe oder dem Bombenbauer aus Chemnitz, Dschaber al-Bakr, kamen die entscheidenden Hinweise von NSA und CIA.

Womöglich, weil in Deutschland noch kein ausreichendes Bewusstsein für das Gefahrenpotenzial existiert? Das BKA kommt gegenüber VICE zu dem Schluss, dass Terroristen durchaus Interesse hätten, in Deutschland Anschläge mit biologischen Waffen zu verüben. Trotzdem bezeichnet der BKA-Chef Holger Münch die Pläne von H. und einer "Bio-Bombe" als "einmaligen Vorgang". Das sieht auch ein Anti-Terror-Ermittler so, der BILD sagte: "Es handelt sich dabei um das größte Gefahrenpotenzial, das jemals in Europa gefunden wurde." Es bleibt zu hoffen, dass die Krisenstäbe gar nicht erst einberufen werden müssen, weil die Sicherheitsbehörden den Tätern zuvor auf die Spur kommen.

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