Meine 4.500 Kilometer lange Irrfahrt zu einem Klo in der Wüste

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Reisen

Meine 4.500 Kilometer lange Irrfahrt zu einem Klo in der Wüste

Unser Fahrer trinkt Wodka aus einer Müslischale, während er freihändig mit dem Jeep über den ehemaligen Meeresgrund des Aralsees brettert—heute eine Wüste groß wie die Niederlande.

Wo früher ein Meer war, ist heute Wüste. Muscheln und Salz knistern unter den Füßen. Der Wind ist so heiß und trocken, als hätte man den Kopf in eine Friseurhaube gesteckt. Der Bus hat die Fotografin Olga und mich am Ortseingang von Mujnak rausgeschmissen und keuchte davon, beladen mit der doppelten Menge an Usbeken, für die er vorgesehen war. Auf dem Busdach mit einer Wäscheleine festgebunden: unzählige Tüten, ein Bettgestell, drei Matratzen und ein Computerstuhl.

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Das riesige Schild am Ortseingang der 18.000 Einwohner Stadt im Westen Usbekistans ist verziert mit Seemöwen, blauen Wellen und einem Fisch. So sah es in Mujnak vor über 50 Jahren aus, als die Stadt noch am Ufer des Aralsees lag. Heute gibt es hier weder Möwen noch Wellen, nur verdorrte, aufgeplatzte Erde mit ein paar staubigen Sträuchern.

Das Wahrzeichen der Stadt mit veralteter Symbolik

Der Aralsee war früher der viertgrößte Binnensee der Welt. Heute ist er zu fast 90 Prozent ausgetrocknet, weil die Sowjetunion, und später die usbekische Regierung, das Wasser aus den Flüssen, die ihn speisten, auf die Baumwollfelder leitete. Das Aralufer ist heute über 150 Kilometer von Mujnak entfernt. Eine Stadt, die früher eine Insel war, ist heute umringt vom Aralkum—der jüngsten Wüste der Welt. Der Wind hat vor die Reetzäune der Häuschen kleine Dünen aus Staub und Salz geweht—und voller giftiger Pestizide, die vom Baumwollanbau übrig geblieben sind.

Ein Rudel braungebrannter Kinder in Schuluniformen kommt angelaufen, Staubwolken hinter ihren Sohlen. Die Kinder schreien: "Pencil, Pencil". Als wir auf Russisch erklären, dass wir keine Stifte haben, werden sie sauer. Einer schmeißt Steinchen auf uns. Später werde ich erfahren, dass englischsprachige Touristen und NGO-Mitarbeiter, die ab und an hierher kommen, um "die größte menschengemachte Naturkatastrophe" anzuschauen, häufig Kulis mit den Logos ihrer Organisationen verschenken. Außer ihnen kommen kaum Besucher nach Mujnak, weil es auch keine Gründe gibt, um hierher zu kommen. Arbeit gibt es hier kaum, Landwirtschaft ist fast unmöglich. Die Trockenheit hat den meisten Gärten den Garaus gemacht, die Salzstürme taten ihr Übriges.

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Dieses Mädchen hat weder mit Steinchen geschmissen, noch aggressiv um Stifte gebettelt

"Manchmal kann man in Mujnak deshalb den ganzen Tag nicht auf die Straße gehen", erzählt Doricha, eine kleine, kokette usbekische Oma. Sie will uns ihr Alter nicht verraten, sondern sagt nur: mehr als ein dutzend Jahre älter als ihr beiden zusammen (also über 70). Sie erinnert sich noch an die Zeit, als Mujnak ein Vorzeigehafen mit über 3.000 Fischern war und ein Urlaubsort: "Unsere Heilbäder waren in der ganzen Sowjetunion bekannt, die Ferienlager für Jungpioniere waren immer voll."

Doricha vor dem Hotel

Heute passt Doricha auf das einzige übriggebliebene Hotel in der Stadt auf. Er hat etwas von Shining: Von den Dutzenden Zimmern ist nur eines belegt, in den anderen leben die Geister der Vergangenheit. Hier ein Foto eines blühenden Mujnaker Obstgartens an der Wand, dort ein Ölbild von Booten auf dem Aralsee. In der Abstellkammer die Bestandteile eines Motorboots, das kein Mensch hier mehr braucht.

Das Esszimmer des Hotels, die Ölbilder zeigen Mujnak in den 50ern

Das einzige Gewässer der Stadt ist ein brackiger Süßwasser-Tümpel, kaum so groß wie ein halbes Fußballfeld. Michail, ein rüstiger, sonnengegerbter Mann, angelt so eifrig, als würde es immer noch um Rekordfänge gehen, wie damals, als die Mujnaker Fischfabrik noch 22 Millionen Fischkonservendosen pro Jahr herstellte.

Früher war hier die Meeresbucht, heute dieser See

Heute bekommt er am Tag nur eine halbe Plastiktüte mit Fischen voll, erzählt er. Und auch diese sollte man wegen der Pestizide im Wasser eigentlich nicht essen. Michail wuchs in einem Haus am Ufer des Aralsees auf und arbeitete bei der Fischfabrik. Als immer mehr Wasser verschwand, wurde der Aralsee so salzig, dass die Fische starben. "Ganze Schollen-Schwärme schmissen sich ans Land", erzählt er. Als keine heimischen Fische übrig waren, verarbeitete die Fabrik extra eingeflogenen Fisch aus der ganzen Sowjetunion. Anfang der 90er schloss die Fabrik ganz. Michail ist in Mujnak geblieben: "Wo soll ich denn sonst hin?" Das Meer ist gegangen, aber ein Fischer bleibt ein Fischer. Wenn Michail in seinem Ruderboot die paar Dutzend Tümpelmeter durchkreuzt, sieht er so heroisch aus, als stamme er aus einer Erzählung Hemingways. Ein alter Mann ohne das Meer.

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Ein Fischer bleibt ein Fischer, auch wenn sein "Meer" auf die Größe eines Hallenpools schrumpft

Am nächsten Morgen holt uns der mächtigste Jeep ab, den ich je in meinem Leben gesehen habe—der einzige Weg, zum Aralsee zu kommen. Straßen dorthin gibt es nicht. Wladimir, der Fahrer, begrüßt uns mit einem festen Händedruck und einem Wodka-Shot. Es ist fünf Uhr morgens.

Wladimir ist ein muskulöser, aggressiv parfümierter Pensionist im Tarnfleckenanzug, der in Mujnak wohl zur Ausstattung eines jeden echten Mannes gehört. Außerdem trägt er ein Netzshirt mit einem fauchenden Tiger drauf. Früher arbeitete Wladimir als Pilot, 1993 wurde er vorzeitig pensioniert, nachdem die Route zwischen Mujnak und Nukus, der größten Stadt der Region, wegen Passagiermangels eingestellt wurde. Heute kutschiert Wladimir Touristen zum Aralsee. Russische Touristen, sagt er, mag er am meisten, weil sie was an der Flasche können, und zeigt auf die zwei Pullen Wodka, die er als Wegproviant mitgebracht hat. "Wenn wir die ganze Zeit über den Meeresgrund fahren, kann er nirgends gegenrasen, oder?", flüstert Olga. Ich nicke, auch wenn ich mir nicht sicher bin. Aber zum Aussteigen ist es zu spät. Außerdem war Wladimir der billigste Fahrer, den wir kriegen konnten. Anbieter aus Nukus kassieren 400 Dollar pro Tour, er verlangt er nur 100 pro Kopf.

Erster Halt: der Friedhof der Schiffe, die Hauptsehenswürdigkeit von Mujnak. Touristen und Medien lieben ihn als Fotomotiv, weil er die Umweltkatastrophe auf einem Bild zusammenfasst: Fischkutter, die früher auf dem Aralsee schipperten, liegen heute mitten in der Wüste. Wobei Fischkutter fast schon die falsche Bezeichnung ist. Es sind eher abgenagte Schiffsskelette. Die Einwohner haben viele Teile als Altmetall verkauft, der Rest rostete durch. Ein Saxaul-Strauch sprießt aus einer Schiffsnase. Eingekratzte Initialen verewigen Romanzen auf rostigem Metall: Ali liebt Umida, Murat liebt Nargisa, I <3 Islam.

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Der Friedhof der Schiffe ist zum Symbolbild der menschengemachten Naturkatastrophe geworden

Ein weiterer Wodkashot, dann brettern wir an den Dörfern vorbei, die noch mehr wie das Ende der Welt scheinen als Mujnak. Karakalpakistan, die autonome usbekische Republik, zu welcher der Aralsee gehört, ist das Armenhaus des Landes. Die Gegend hat eine der höchsten Rate an Tuberkulose, Anemie, Hepatitis und Kindersterblichkeit in den ehemaligen sowjetischen Republiken. Von 1.000 Säuglingen sterben 75, in Deutschland sind es rund vier.

Nach zwei Stunden Fahrt sind die einzigen Erinnerungen daran, dass es hier Menschen gibt, Anlagen, die im Aralkum Gas und Erdöl abbauen. Die Sträucher, die der Trockenheit trotzen, werden immer niedriger und immer seltener. "Das könnten die letzten Büsche für die nächsten paar Stunden sein", sagt Wladimir und hält für eine Pinkelpause. Als wir zurück ins Auto klettern, hat er wieder Wodka eingeschenkt. Es ist noch nicht mal 8 Uhr, aber wir trinken brav, um ihn bei Laune zu halten—schließlich sind wir in der Wüste, ohne Empfang oder eine Menschenseele in der Nähe. "Wäre der Aralsee noch da, wir wären etwa 15 Meter unter Wasser. Wir trinken auf den Aralsee", sagt er mit trunkenem Pathos und rammt seinen Turnschuh ins Pedal. Muscheln fliegen unter den Rädern in alle Richtungen. "Der Aralsee ist meine Liebe. Bloß haben wir jetzt eine Fernbeziehung."

Es ist eine Fernliebe, die immer weiter wegrückt. In den 60ern fing der Aralsee wegen der Misswirtschaft der Sowjets an zu schwinden. Anfang der 70er war das Ufer zehn Kilometer von Mujnak entfernt, zehn Jahre später schon 40. 1989 trocknete der Aralsee so weit aus, dass daraus zwei Gewässer wurden: der große Aralsee und der kleine Aralsee. Der kleine Aralsee liegt im heutigen Kasachstan und erholt sich langsam wieder. Der große Aralsee in Usbekistan teilte sich erneut in zwei Seen. 2014 trocknete der östliche Teil komplett aus. Auch der westliche Teil, zu dem wir fahren, schrumpft weiter—und kein Mensch kann vorhersagen, wie lange er noch da sein wird.

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Noch vor zehn Jahren war hier alles unter Wasser

Nach drei Stunden sehen wir zum ersten Mal das Ufer. Wir sind betrunken und durchgeschüttelt von Wladimirs Fahrweise und hoffen, dass wir bereits am Ziel sind. Aber er will erstmal seine Freunde besuchen: ein Dutzend Chinesen, die in einem kleinen Zeltlager die Eier der Salinenkrebse abbauen.

Die Salinenkrebse sind etwa einen Zentimeter groß und gehören zu den letzten Lebewesen, die im Aralsee noch überleben. Der Wind treibt ihre winzigen roten Eier ans Land: Sie bilden einen Zick-Zack-Streifen an der Wasserkante, als hätte sich ein gigantisches verwundetes Tier entlang des Ufers geschleppt und alles vollgeblutet.

Die Eier der Salinenkrebse

Die Chinesen scheffeln die Eier einfach mit Spaten, waschen sie in selbstgemachten Ton-Bassins aus und verkaufen sie als Fischfutter. Keiner von ihnen spricht wirklich Russisch, aber sie laden uns trotzdem in eines der rumpeligen Zelte ein. Einer drückt uns bitteren frittierten Fisch in die Hand und eine leere Müslischale. Ich nehme an, sie ist für die Fischgräten bestimmt, aber er schüttet Wodka rein. Eine halbe Stunde später verstehen wir uns alle prächtig, auch wenn wir nur eine sprachliche Schnittmenge von 20 Wörtern haben.

Einer der gastfreundlichen Chinesen vor seinem Zelt

Als wir wieder auf den Rücksitz klettern, nimmt Wladimir seine Wodka-Schüssel mit. Ich bin bereits so fertig von Schnaps und Hitze, dass ich nicht mehr absurd finde, was vor mir passiert: Unser Fahrer trinkt Wodka aus einer Müslischale, während er freihändig über den ehemaligen Meeresgrund brettert, durch eine Wüste so groß wie die Niederlande.

Das Salz des Aralsees

Ich verstehe nicht ganz, warum wir noch weiter fahren. Hier ist er doch, der Aralsee. Aber Michail lenkt das Auto immer weiter am Ufer entlang. "Ich will zu meinem Örtchen", lallt er. Ich erwarte einen Platz mit spektakulären Aussichten, aber letztendlich halten wir vor einem seltsamen Gebilde: vier einen Meter lange Stöcke, zwischen die Mülltüten gespannt sind. Wladimir steigt aus dem Jeep, macht noch im Gehen seine Hosen auf und verschwindet darin. Dann dämmert es mir: Das Endziel meiner 4.500 Kilometer langen Reise mit Flugzeug, Zug, Bus und Jeep ist ein Klo.

Es ist allerdings das stillste stille Örtchen, in dem ich je in meinem Leben war. Kein Möwengeschrei, keine Menschenstimmen, kein Lebewesen, das einen Ton macht. Auch der Aralsee ist eine Wüste—eine Wüste aus Wasser. Tote Salzlake. Die Wasserkante ist weiß, als hätte es geschneit. Als wir schwimmen gehen, ist das Wasser so salzig, dass es mich wie einen Weinkorken hochdrückt, wie im Toten Meer. Als ich aus dem Wasser steige, habe ich weiße Schlieren am Körper.

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