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Eine FPÖ-Abgeordnete bezeichnet Refugees öffentlich als „Lumpenproletariat“

Für Dagmar Belakowitsch-Jenewein ist „Lumpenproletariat" ein „ganz normaler Fachbegriff". Geschichte ist wohl nicht ihre Stärke.

Gestern war die blaue Nationalratsabgeordnete Dagmar Belakowitsch-Jenewein zu Gast in der ZIB24 und hat sich mit Alev Korun von den Grünen über die aktuell nach Österreich kommenden Flüchtlinge unterhalten. Falls euch der Name Belakowitsch-Jenewein etwas sagt, aber ihr euch nicht sicher seid, was genau: Das ist diejenige, die im Juni 2015 vorgeschlagen hat, Flüchtlinge in Militärflugzeugen abzuschieben, denn „da können sie schreien, so laut sie wollen."

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Während der gestrigen Diskussion in der ZIB ließ sie dann folgende Aussage fallen: „Es sind (sic) nicht die große Menge der Ingenieure, sondern es ist eher das Lumpenproletariat, das hier nach Österreich kommt." Daraufhin schaltet sich Alev Korun ein—die nach dieser Antwort auf ein Posting auf ihrer Facebook-Page für ihre Schlagfertigkeit bekannt ist—und sagt: „Den Begriff finde ich wirklich Ihrer unwürdig. Sie sind Abgeordnete des österreichischen Parlaments. Ich würde Sie bitten, alle Menschen mit Respekt zu behandeln."

Belakowitsch-Jenewein findet jedoch, dass „Lumpenproletariat" ein „ganz normaler Fachbegriff" ist und setzt noch einen Seitenhieb nach: Immerhin sei der Begriff von Karl Marx geprägt worden, dem Alev Korun „wahrscheinlich weit näher steht" als sie selbst. Ob der Terminus wirklich so normal und fachlich ist, wie Belakowitsch-„Das sind doch alle Wirtschaftsflüchtlinge!!1!"-Jenewein behauptet, lässt sich mit einer simplen Google-Suche beantworten.

Ja, der Begriff wurde von Karl Marx geprägt. Dieser Auszug aus Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte von Marx zeigt sehr gut, welchen Teil der Gesellschaft er mit dem Begriff meint:

„[…] (Die) zerrütteten Lebeherren mit zweideutigen Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, verkommene und abenteuerliche Ableger der Bourgeoisie, Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, […] Gauner, Gaukler, Tagediebe, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Zuhälter, Bordellhalter, […] Bettler […]"

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Interessant ist auch, dass das „Lumpenproletariat" schon bei Marx keineswegs positiv gemeint war. Er sah darin sogar ein Problem, weil gerade die Geächteten und Ungebildeten politisch häufig unzuverlässig und reaktionär wären. Der entscheidende Punkt ist, dass Marx die Schuld dafür nicht beim Lumpenproletariat selbst, sondern bei den Mächtigen sah. Heute würde Marx vielleicht „Modernisierungsverlierer" dazu sagen (womit das „Lumpenproletariat" gar nicht so weit weg von der Arbeiterwählerschaft der FPÖ wäre).

Aber nicht nur Marx hat den Begriff gerne verwendet, wenn er von den untersten Schichten der Gesellschaft sprach. Auch im Nationalsozialismus wurde das „Lumpenproletariat" als biologistische Kategorie zur Klassifizierung von Menschen verwendet. Für die Nazis bestand das „Lumpenproletariat" aus dem „Abfall aller sozialen Schichten", den Entarteten und Psychopathen, die nichts zur Wirtschaft beizutragen hatten. Während der NS-Zeit galten diejenigen Menschen, die der damaligen Auffassung nach zum „Lumpenproletariat" zählten, als unbrauchbar und asozial und wurden mitunter ein Ziel der Rassenhygiene.

Dass FPÖ-Mitglieder nicht immer transparent oder nachvollziehbar mit Geschichte umgehen, ist leider nichts Neues.

Alleine schon deshalb ist „Lumpenproletariat" kein „ganz normaler Fachbegriff". Sowohl bei Marx als auch den Nazis ist er eine Wertekategorie—und wurde vor allem bei letzteren zur Abwertung von Menschen verwendet. Und auch, wenn ihn Karl Marx erfunden (und wie gesagt selbst nicht gerade positiv gemeint) hat, liefert die NS-Zeit ein ziemlich bedeutendes Kapitel in der Geschichte dieses Begriffs.

Sich allein auf den Ursprung oder den Urheber eines Wortes rauszureden, um die Verwendung im 21. Jahrhundert zu rechtfertigen—und dabei die Geschichte der letzten 100 Jahre völlig auszublenden—, ist mehr als fragwürdig. Auch der Begriff „totaler Krieg" wurde nicht von Goebbels erfunden, sondern existiert bereits seit den 1770ern—trotzdem würde heute wohl niemand sagen, dass es ein normales Wort aus der Zeit der Französischen Revolution ist. Aber dass FPÖ-Mitglieder nicht immer transparent oder nachvollziehbar mit Geschichte umgehen, ist leider nichts Neues.

Verena auf Twitter: @verenabgnr