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Popkultur

Echte Menschen vs. falsche Autoritäten—Ein Interview mit Ulrich Seidl, Teil 1

Wir haben uns mit Ulrich Seidl getroffen und mit ihm über Zynismus, die Kirche, den Unterschied zu 'Alltagsgeschichten' und Babypuppen-Fetischistinnen gesprochen.

Wir waren letzte Woche bei Ulrich Seidl auf einen ausgedehnten Espresso zu Besuch. Hier lest ihr die Einleitung—und hier geht's zum zweiten Teil des Interviews.

VICE: Ihnen wird oft unterstellt, dass sie die Menschen ironisch und mit einem gewissen Zynismus sehen. Wie sehen sie die Menschen wirklich? Ulrich Seidl:Oft zum Glück nicht mehr. Diese Zeit ist ziemlich vorbei. Journalisten und Leute, die sich mit Film beschäftigen und mein Werk verfolgt haben, erheben solche Vorwürfe gar nicht mehr. Das kommt wenn, dann nur von Leuten, die meine Filme lediglich aus der Ferne kennen und selbst keine Entwicklung durchgemacht haben. Als ich angefangen habe, wurde ich sehr lange Zeit angefeindet—ungefähr bis  Tierische Liebe. Mit  Hundstage hat sich das Blatt dann völlig gewendet. Jetzt taucht diese Behauptung nur noch vereinzelt auf. Wenn diesen Vorwurf jemand erhebt, dann nur, weil er selbst genau diese zynischen Vorurteile gegenüber den Darstellern hat.

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Ich habe mir Ihren neuen Film Im Keller im Rahmen einer Pressevorführung angesehen, wo das Publikum oft auch sehr abgeklärt und distanziert ist …

Ja, Journalisten wie Ärzte neigen zu einem gewissen Zynismus.

In diesem Fall ist mir allerdings aufgefallen, dass im Publikum viel gelacht wurde, aber das Lachen vielen im Hals stecken blieb, weil Ihre Einstellungen zu lange dauern, um sich wirklich über die Menschen lustig zu machen. Sie starren einfach zu lange zurück.
Ja. Ich finde es auch gut, wenn die Leute lachen—das Interessante ist ja, dass bei meinen Filmen oft nicht allgemein gelacht wird, weil hier ja keine Pointen gesetzt werden und kein Reflex nach dem Motto „Und jetzt wird gelacht!" heraufbeschwört wird. Stattdessen lacht der eine, während sich der andere über seinen Sitznachbarn ärgert und überhaupt nicht mitlachen kann. Das sagt mir, dass der Humor immer mit einem selbst zu tun hat. Entweder ist einem das peinlich, was man sieht, oder es ist ein befreiendes Lachen oder man ist entsetzt—es kommt immer zu einem selber zurück. Ich finde, das Leben kann für uns alle in vielen Situationen völlig absurd und lächerlich sein, also warum soll man nicht darüber lachen? Wenn es nur dabei bleibt, die Leute auf der Leinwand auszulachen, dann ist das die Verantwortung des Zuschauers. Aber so ist das sicher nicht gedacht.

Das ist der deutlichste Unterschied zwischen Ihren Filmen und dem, was man allgemein „Sozialpornographie" nennt. Im Gegensatz zu den Alltagsgeschichten lassen Sie einen nicht wegschauen, wenn es unlustig wird.
Immer, wenn auch nur die Ahnung eines Vergleichs mit der Spira aufkommt, reagiere ich sehr heftig, weil so eine Parallele nur bei oberflächlicher Betrachtung aufkommen kann. Manche glauben vielleicht, ein gewisses Milieu zu erkennen und mit dem Finger drauf zeigen zu können, aber meine Arbeitsmethode ist eine ganz andere. Ich beschäftige mich mit meinen Protagonisten meistens schon lange vor dem Drehen und treffe mich öfter mit ihnen, bis sich eine Art von Beziehung und ein Vertrauen aufbauen.

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Man hat auch das Gefühl, Sie wollen die Leute nicht in ein bestimmtes Licht rücken.
Die Protagonisten sehen sich darin so dargestellt, wie sie wirklich sind. Wenn jemand anders ein Problem damit hat, liegt das hauptsächlich daran, dass derjenige die Figuren lächerlich oder absurd findet. Ich werte ja nicht in meinen Filmen, und hab demnach nie Probleme mit den Darstellern, auch nicht, nachdem sie den Film gesehen haben.

Diese Eigenschaft, nicht zu werten oder zu verurteilen ist eigentlich auch eine christliche Tugend—das Thema Kirche beschäftigt Sie in Ihrem Leben und Werk ja immer wieder. Haben Sie den Katholizismus ebenfalls so erlebt?
Meiner Erfahrung nach war die Kirche immer das genaue Gegenteil. Ich bin mit einem Katholizismus aufgewachsen, der sehr autoritär und stark von ganz klaren Regeln und Vorschriften bestimmt war: Dieses und jenes ist Sünde, das ist schlimmer als jenes, diese Sache ist zu banal, zu frevelhaft und so weiter. Mein Elternhaus und meine Internatsschule waren stark geprägt von fixen Vorstellungen und Werten—diese Art der Toleranz, die eigentlich im Christentum vorkommen sollte, hab ich da weniger kennengelernt.

Sie sagen auch, dass Sie zwischen Institutionen wie der Kirche und dem Glauben oder religiösen Empfinden von Menschen trennen.
Ich habe weniger gegen Menschen als mehr gegen diese, wie ich sie nannte, falschen Autoritäten rebelliert. Inzwischen wissen wir ja, was die Kirche im Laufe ihres Bestehens alles verbrochen hat und noch immer im Begriff ist zu verbrechen. Es ist dieser menschliche Apparat der Kirche, den ich stark kritisiere.

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Auf der zweiten Seite lest ihr, welche Geschichte bei ,Im Keller' erfunden ist und wie Ulrich Seidl seine Darsteller findet.

Sie meinten vorhin, Sie beschäftigen sich mit Ihren Protagonisten immer lange im Vorfeld. Wie haben Sie im Fall von Im Keller Ihre Darsteller gefunden?
Das war ein sehr schwieriges und langwieriges Unterfangen. Ich wusste von Anfang an, dass ich hier eine Herausforderung angenommen hatte, die nicht so leicht war. Wie findet man Leute, die interessant sind, die Abgründe in sich haben und auch noch bereit sind, das in irgendeiner Form zu zeigen, darzustellen und darüber zu sprechen? Zunächst findet man ja zuhauf Banalitäten. Ich habe also Mitarbeiter ausgeschickt, die in Siedlungen klopfen gegangen sind, Recherche betrieben und herum gefragt haben. Wir haben auch Inserate geschaltet und so weiter. Natürlich melden sich viele Leute, die einfach nur einen schönen Keller herzeigen wollen oder Bierdeckelsammlungen haben oder uns in ihr Jägerstüberl einladen. Auf diesen Zug bin ich aufgesprungen und eine lange Strecke mitgefahren, um herauszufinden, ob auch Menschen dabei sind, die für das Projekt interessant sein könnten. Oft waren es Monate.

Es muss schon sehr viel Vertrauen herrschen, damit sich ein Pärchen dabei filmen lässt, wie die Frau dem Mann ein 1-Kilo-Gewicht an die Hoden hängt. Wie muss man sich den Prozess nach der Anbahnung weiter vorstellen?
Ich habe ein Gefühl dafür. Ich begegne den Menschen so, wie ich selbst bin—und es ist meine Begabung, Leuten das Gefühl zu geben, dass ich mich für sie interessiere, weil das eben auch so ist. Ich arbeite auch nur mit Menschen, die mich wirklich interessieren, sonst kommt nichts dabei raus. Bei dem, was daraus entsteht, weiß man dann auch bereits, dass es für den Film etwas darstellen wird. Wenn dem nicht so ist, ist es nach dem ersten Besuch beendet. Und dann spielt natürlich auch der Zufall eine Rolle. Dass wir so jemanden wie Herrn Ochs mit seinem Nazikeller finden, war ein bisschen Zufall und ist durch Weitererzählen entstanden.

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Gerade bei Herrn Ochs, den Sie grade ansprechen, kam mir dir Dramaturgie fast schon spielfilmartig vor. Zuerst sieht man eine banale Kellersituation und dass er mit seiner Frau nur über Klopfzeichen kommuniziert—und dann, als er seine Tuba spielt, führen Sie uns mit einem Over-shoulder-Shot in den Kellerraum mit den Nazi-Insignien und Hitler-„Fan-Artikeln". Ist diese Verknüpfung von klassisch dokumentarischen Mitteln und Mitteln aus dem Spielfilm beabsichtigt?
Ja, ja. Das ist so. Wir haben nichts per Zufall oder per Überraschung aufgenommen. Alles ist hergestellt, im Sinne einer Cadrage der Kamera. Selbst, wenn eine Handkamera eingesetzt wird, ist die Szene vorher geprobt. Es wird alles genau geplant—das ist auch mein Zugang zum Film. Ich schöpfe zwar immer aus der Wirklichkeit, ich arbeite mit realen Orten und Personen, und will die ja auch wirklich Menschen kennenlernen, die mich interessieren. Aber am Ende ist es kein dokumentarisches Arbeiten, als wäre ich nicht dabei. Stattdessen erhöhe und überhöhe ich—und auf der anderen Seite reduziere ich auch, je nachdem. Es ist mein Blick auf die Wirklichkeit.

Das heißt, wenn Menschen sich—wie bereits bei Tierische Liebe—die Frage stellen, was genau inszeniert und was dokumentarisch ist, dann haben sie eigentlich nicht richtig verstanden, worum es Ihnen geht.
Ich finde, es geht nicht darum, ja. Es geht vielmehr um die Frage, ob etwas glaubwürdig ist, ob eine Sache beim Zuschauer etwas bewirkt, ihn berührt, ihn verstört, ihn emotional herausfordert. Auch im Kellerfilm sind manche Dinge frei erfunden und andere nicht. Das ist aber völlig unerheblich, ich finde das nicht wichtig.

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Ihre Filme sind also eigentlich eine dritte Instanz—eine eigene Wirklichkeit.
Ich finde das interessant, weil es total funktioniert. Viele Leute glauben gar nicht, welche Geschichte komplett erfunden ist.

Welche Geschichte ist bei Im Keller erfunden?
Na, raten Sie!

Ich war mir bei der Frau, die ihre Puppen im Keller wie echte Babys behandelt, nicht ganz sicher. Irgendwie hat mir da der Background gefehlt, aber vielleicht täusche ich mich auch.
Nein, Sie haben schon recht, das ist gespielt. Manche Journalisten sind darüber ganz überrascht, aber das macht ja auch nichts, es funktioniert ja.

Für mich zeigt sich an dieser Geschichte am deutlichsten Ihr humanistischer Zugang: Auf den ersten Blick ist die Frau gruselig, weil sie ihr Glück nicht im konventionellen Wertekanon sucht, aber bei genauerem Hinschauen wirkt sie richtig zufrieden.
Allerdings sagt das natürlich auch sehr viel über die Einsamkeit des Menschen aus. Die Geschichte ist ein Beispiel, wie es wiederum viele gibt. Auch die Haustiere in Tierische Liebe erfüllen einen ähnlichen Zweck—schon damals hab ich ja das Thema Sublimation/Sublimierung bearbeitet. Hier wie dort bekommen Menschen von anderen Menschen nicht genug Befriedigung. In beiden Fällen können sie ihre Liebe oder auch ihren Machttrieb nicht genügend ausleben.

Wie ist diese Zusammenarbeit mit der Puppen-Frau entstanden?
Ich habe die Frau wirklich im Zuge unserer Recherchen zum Thema Keller kennengelernt. Als ich dann in ihrer Wohnung war—die Wohnung und das Stiegenhaus und auch der Keller sind ja alles völlig authentisch—, ist mir da eine realistische Baby-Puppe aufgefallen, die mich irritiert hat. Das habe ich dann weitergesponnen. Wir haben immer mehr Puppen gekauft, sie in Schachteln im Keller versteckt und so eine erfundene Geschichte drum herum gestaltet.

Sie sagen auch, dass die Dialoge in Ihren Filmen nie im Vorfeld gescriptet sind, sondern während dem Dreh entstehen. Wie muss man sich das in diesem Fall dann vorstellen?
Die Darstellerin redet nach meinen Ansagen, aber es muss ihr natürlich liegen. Es muss etwas sein, womit sie sich arrangieren kann—etwas, das in ihrer Welt liegt. Ich habe ihr gesagt, mit welchem Baby sie spricht und sie hat improvisiert. Für viele ist das die unheimlichste Geschichte.

Hier geht's zum zweiten Teil des Interviews—mit Ulrich Seidls Gedanken zu Österreichs Filmlandschaft, authentischer Sexualität und sympathischen Nazis.

Wenn Markus nicht gerade in Pressevorführungen sitzt, findet ihr ihn auch auf Twitter: @wurstzombie