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Reisen

Ein Nachmittag mit Giovanna Spano, einer 108-Jährigen Sardinierin

Der Besuch bei Giovanna Spano beginnt an einer Esso Tankstelle gleich neben der Ölraffinerie Sarras. Das ist die zweitgrößte Ölraffinerie Europas, sehr schön am Meer gelegen, sie gehört Angelo Moratti, der auch Besitzer des Fußballclubs Inter Mailand ist. Wir befinden uns in Sardinien, ungefähr 40 Kilometer westlich der Hauptstadt Cagliari, in Sarroch.
Die Luft  riecht ein bisschen nach Öl. An der Tankstelle wartet ein Fiat, aus dem uns ein Mann, der wie ein alter Tom Selleck aussieht, fröhlich zuwinkt. Das Haus sieht aus, wie irgendwie alle Häuser hier aussehen, davor ist ein Parkplatz und eine Wand aus Büschen, hinter der sich die Raffinerie befindet. Auf dem Parkplatz stehen zwei alte Krankenwagen, ein Auto mit einer Leiter drauf und noch ein Wagen.

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Der Mann, der uns abgeholt hat heißt RenatoVargiu. „Ich bin der älteste Enkel“, sagt er.

Wir gehen durch den Garten in das Haus, wo uns im Gang Iole Pala, die jüngste Tochter, 67, und ihr Mann, Marcello Nocioli, Typ Robert de Niro in sehr alt, begrüßen. Dann gehen wir alle ins Wohnzimmer, es hat einen braun gekachelten Boden und gelbe Wände, ein Sofa, ein Couchtisch mit ein paar Heften drauf, ein paar Stühle. Es sieht etwas leer aus, dort lernen wir Giovanna Spano kennen—geboren am 18. April 1902 in Sarroch, einem Dorf mit damals nur Bauern und Schäfern. Deshalb trinkt sie gerne frische Ziegenmilch, trank gerne Ziegenmilch, heute würde das nicht mehr so gut schmecken, deshalb jetzt lieber Milch von der Kuh.

Sie sitzt auf einem weißen Plastikklappstuhl und wackelt manchmal lustig mit dem Kopf, und manchmal mit den Armen oder den Beinen. Giovanna ist blind. Die Fragen beantworten die anderen. Alle sind sehr gut gelaunt. Man weiß nicht so genau, was in Giovannas Kopf vorgeht.

So sieht also ein Tag in ihrem Leben aus:

Kleines Frühstück mit einer Tasse Milchkaffee und ein Keks.
Um 12 ein paar Nudeln und ein kleines Stück Huhn oder Fleisch oder Fisch.
Nach dem Mittagessen einen Mittagschlaf.
Um 17 Uhr ein Teller Obst.
Spaziergang im Garten mit Tochter Iola. 
Im Sommer um 21 Uhr ins Bett, im Winter um 20 Uhr.
Giovanna trinkt kein Wasser, weil das nicht schmeckt. Ab und zu gibt es deshalb eine Infusion. Sie nimmt davon abgesehen keine Medikamente, etwas Salbeisalbe damit es den Venen gut geht, und ein halbes Aspirin Cardio am Tag. Bis sie 99 war, gab es auch mittags und abends ein Glas Wein.

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Während wir da sind ruft sie zweimal, „Renato, ich sterbe!“, und alle schütteln sich vor Lachen, Giovanna zappelt ein bisschen mehr als sonst, dann fängt sie in einer extrawackeligen Stimme an, ein sardisches Liebeslied zu singen. Viele Wörter darin hören mit einem „U“ auf. Alle lachen wieder. Giovanna kichert und begibt sich wieder in diesen Wackeleinnickzustand.

Sie ist die älteste Frau in der Provinz Cagliari, die zweitälteste in Sardinien und wahrscheinlich die drittälteste auf der Welt. Ihre älteste Tochter ist 84, sie hat 30 Enkel.

Bis sie 96 war lebte sie alleine, leider raubten sie zweimal Kleinkriminelle aus—einmal war das ganze Gold weg („altes Gold…“ raunen die Verwandten) und das andere Mal das ganze Geld. Solche Überfälle sind gerade für ältere Menschen sehr unangenehm, deshalb entschloss sich die Familie, Giovanna nicht mehr alleine leben zu lassen.

„He Chicka, ruft Renato—bete mal!“ Und Giovanna (Spitzname Chicka) rasselt einen Rosenkranz herunter. Früher hatte sie noch die Zählkette mit den Holzkugeln, aber jetzt zählt sie die Bitten an den Knöcheln ab, weil ihr der Rosenkranz irgendwann immer aus der Hand gefallen ist.

Irgendwelche Tipps für die Jugend?
Giovanna murmelt „Amore, amore“.

Dank an Francesco, Lino und Emanuela Rocca