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Popkultur

Achtung: Hier kommt eine Literaturliste, die nicht nur aus 11 weißen Männern besteht

Vor kurzem hat die 'Welt' ihren Kanon von 11 Büchern vorgestellt, die alle Unter-30-Jährigen lesen sollten. Wir hätten da ein paar Ergänzungen.
barbara w. | flickr.com | CC by 2.0

Listen wie diese sagen normalerweise in erster Linie: "Wenn du davon nicht zumindest einige kennst und gelesen hast, bist du ein unbelesener Trottel und ein Ignorant und gehst am besten barfuß und dich dabei noch selbst geißelnd durch den Schnee in die nächste Buchhandlung, um dein Leben zu ändern." Ein Literaturkanon wird dem Volk traditionell von einer intellektuellen Elite heruntergereicht, die bestimmen möchte, was man wissen muss, um irgendwo mitreden zu können—eine gewisse Mindestanforderung sozusagen, die verhindern soll, dass belesene Menschen ständig händeringend um den Block rennen müssen und dabei ausrufen: "Der weiß ja nicht einmal, wer Musil ist!"

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Ein Literaturkanon ist aber nicht nur eine fragwürdigen Unternehmung zur Erhaltung des gesellschaftlichen Friedens zwischen den gebildeten und den eher mittelgut gebildeten Leuten. Ein Literaturkanon ist auch eine Spiegelung und Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen. Wenn also Julia Haase in der Welt ihre Liste der 11 Bücher, die du bis zu deinem 30. Geburtstag lesen solltest, zusammenstellt und sich darauf keine einzige Frau findet—und auch kein Schwarzer oder auch nur eine Person, die nicht aus dem Westen ist—, dann ist das noch mehr: nämlich auch ein Armutszeugnis für die Welt.

Warum soll man diese Bücher überhaupt vor 30 lesen? Der einzige Grund, den es haben könnte, das Alter der Lesenden zum Thema zu machen, wäre eventuell, dass man sich vor 30 noch in der erweiterten Phase der politischen Prägung befindet. Aber auch für diese ist die Liste weitgehend wenig hilfreich.

Julia Haase schreibt sehr richtig: "Bücher können dein Leben verändern, sie haben Macht […], lehren dich das Leben, lassen dich Teilhaben am Gestern, Heute und Morgen. Du tauchst in sie ein, verschlingst ihre Worte und machst sie nicht selten zu deinen eigenen." Und damit unsere Worte nicht nur die von weißen westlichen Männern sind, kommt hier ein Gegenvorschlag, der wie jeder andere Kanon als solcher auch nichts taugt und völlig überflüssig ist, aber dafür voller wärmster Empfehlungen für Unter-30-Jährige ist.

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Jeannette Walls: Schloss aus Glas

Man kann in okayen Verhältnissen aufwachsen—oder man kann von seinen exzentrischen, glücklosen Eltern quer durchs Land geschleift werden und in Vernachlässigung und Verwahrlosung leben, bis man volljährig ist. Jeannette Walls durchlebte eher das Zweite, grollt aber recht wenig und erzählt fast wie ein Märchen von einem Leben mit dem Vater, der immer etwas vom Glasschloss faselt, das man bauen werde. Die Eltern haben kein Geld für Essen, aber immer für Bücher, haben Alkoholprobleme und den Boden der Tatsachen schon länger nicht mehr berührt. Und dann schafft es diese Frau, dass man sich fragt, ob das wirklich in jeder Hinsicht schlechter ist, als eine Kindheit, in der man alles hat und die Eltern nie zu Gesicht kriegt, weil die immer arbeiten sind.

Ta-Nehisi Coates: Zwischen mir und der Welt

Coates schreibt an seinen 15-jährigen Sohn, wie es war, als Schwarzer in Baltimore aufzuwachsen und wie er Gewalt, Bildung und Hoffnung in einem System erlebte, das damals wie heute einen Unterschied zwischen Schwarzen und Weißen machte. Er vergleicht, was es für ihn heißt, schwarz zu sein, mit der Realität, in der sein Sohn aufwächst. Und er testet, was ihm als Wahrheit beigebracht wurde anhand von dem, was er vor sich sieht. Interessant macht das Buch die Lautstärke und Wut, mit der Coates seine Kritik vorträgt. Und der Umstand, dass er nicht unbedingt Gewaltlosigkeit predigt, bei seinem Versuch eines Diskussionsanstoßes zum Thema: Was ist Gerechtigkeit und auf welche Weise soll sie geschaffen werden?

Ismail Kadare: Der General der toten Armee

Ein italienischer General wird beauftragt, die albanische Erde nach toten Soldaten aus dem Krieg zu durchforsten und die seit 1939 dort Liegenden zu exhumieren und in die Heimat zu überführen. Begleitet wird er dabei von einem namenlosen Priester und gemeinsam finden sie bei der makabren Unternehmung nicht nur Knochen, sondern auch die Geschichten der Gefallenen. Sich pausenlos wundernd, wie egal dem Priester offenbar die ganze Sache und wie seltsam die Mission ist, arbeitet sich der General vor, bis das Ganze schließlich in einem Besäufnis endet, das dem düsterkomischen Roman aus Albanien etwas sehr Wienerisches aufsetzt.

Sibylle Berg: Wunderbare Jahre

Dass Sibylle Berg irgendwie anders ist, wird jedem aufgefallen sein, der sie schon mal reden hörte oder twittern sah. Die Deutsche, die sonst brutale Romane schreibt, die einem ein Loch mitten in die Brust sprengen, ist weit gereist und erzählt in ihrem neuesten Buch ausnahmsweise von der wirklichen Welt. Egal ob klassisch irgendwo, wo wir eh alle schon waren oder an einem verwunschenen Ort, bergsplaint sie, was da so los war, schreckt sich vor Böllern in Tel Aviv, fährt im Kosovo nahe an den Krieg heran, denkt an Italienreisen mit der ersten Liebe und ist wie immer eine Gigantin der Wildheit und des maßgeschneiderten Ausdrucks.

Katherine Boo: Slum. Eine Geschichte von Leben, Tod und Hoffnung

Dieses Erstlingswerk ist, was man beim Lesen leicht vergisst, kein Roman, sondern das Ergebnis von drei Jahren journalistischer Arbeit in einem indischen Slum in der Nähe des Flughafens von Mumbai. Es geht um lebendige Charaktere, die vom sozialen Aufstieg träumen, der für sie außer Reichweite liegt. Ungerechtigkeit, Korruption und der Verfall der Moral in verzweifelten Zeiten stehen im Mittelpunkt dieses monumentalen Wirklichkeitsprojekts in literarischer Sprache. Slum. Eine Geschichte von Leben, Tod und Hoffnung hat viele Preise bekommen und wurde von vielen "das Beste des Jahres" oder so ähnlich genannt, ist aber trotzdem unheimlich lesenswert.

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Katharina Winkler: Blauschmuck

Eine kurdische Frau wird von ihrem Mann wiederholt geschlagen und vergewaltigt, ist aber im Herzen eine solche Superheldin, dass es ihm nicht gelingt, sie zu zerbrechen. Sie lernt zu rechnen, welche "Fehlleistung" ihrerseits zu wie vielen Schlägen für sie oder die Kinder führt und sich im Kopf kleine Refugien zu schaffen. Nur einmal im Leben sagt sie Nein zu ihrem Mann, nämlich als dieser sagt, er wolle eine andere Frau heiraten. Daraufhin prügelt er sie beinahe zu Tode. Schon vor zehn Jahren traf die Autorin ihre Protagonistin und schrieb ihre Geschichte schließlich als Roman nieder. Das Ergebnis ist hart, aber auch unkitischig und poetisch und vor allem wichtig.

Gabriel Garcia Marquez: 100 Jahre Einsamkeit

Ja eh. Gabriel Garcia Marquez ist ein Klassiker und bietet alleine deshalb genug Angriffsfläche für zynische Kommentare darüber, wie wenig wir bitteschön von Literatur verstehen. Aber man kann auch anders. Zum Beispiel unzynisch sein, indem man sagt: Das eine Buch, das sich in fast jedem Weltliteraturkanon findet, den man so auftreiben kann, hat seinen Platz dort völlig zurecht. Mehr ist dazu auch nicht zu sagen.

Rob Sheffield: Love is a Mixtape

Ein Rolling Stone-Musikkritiker erzählt die Geschichte seiner Frau, die viel zu jung an einer Lungenembolie starb. Es geht um die große, irre, unlogische Liebe und all die Musik, die sie begleitet hat. Es ist das tollste Buch der Welt, weil es eigentlich ein Mensch ist. Der Autor macht seine Frau und längst vergessene Rockbands wieder lebendig und solange man liest, darf man ein Stück ihres großen, epischen Lebens sein. Man lacht über ihre Witze, kramt in ihrer Stoffreste-Kiste und hört jeden Song, den das Paar jemals gut gefunden hat.

Shani Boianjiu: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst

Es ist alles nicht so einfach mit dem Unter-30-sein. Überhaupt wenn man in Israel lebt und gleich am Anfang des Erwachsenenlebens (als Frau) erst einmal 21 Monate zum Militär muss. Die 25-jährige Autorin erzählt also vom Dienst, vom Sterben, dem ewig andauernden Krieg und wie dieser eine ganze Gesellschaft bis in die letzte Faser durchwirkt.

Um der Langeweile und Einsamkeit zu entkommen, sucht sich jede Protagonistin ihre Exit-Strategien, vom Tagtraum über wahllosen Sexgeschichten bis zum Weg ins Gefängnis. Und als sie nach beinahe zwei Jahren unter dieser Lebensphase hindurchgetaucht sind, ist nichts mehr in Ordnung und sie müssen trotzdem weiterleben—was wohl am besten mit dem morbiden Schmäh geht, den die Autorin einfließen lässt. Immerhin hat sie selbst zwei Jahre Militärdienst abgeleistet. Exit-Strategie kann sie also.

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Truman Capote: Kaltblütig

OK, das ist fast so alt wie unsere Eltern und vielleicht haben eh alle schon den Film gesehen. Trotzdem: Truman Capote reiste in den 1960ern in ein Kaff in Westkansas, in dem ein 28-Jähriger und ein 30-Jähriger bei einem Einbruch, bei dem es eigentlich nur um Geld gehen sollte, fünf Menschen umgebracht hatten. Capote ist sofort angefixt von der Unerklärlichkeit des Verbrechens, das sich vor ihm entrollt und kippt auf die Lebensläufe der Mörder hinein, die er bis in die Todeszelle begleitet. Es entsteht eine Beziehung zwischen ihm und besonders einem von beiden. Wenn man außerdem im Kopf hat, dass Capote zur Bewerbung des Buches eine Riesenparty in New York schmiss, ist das ganze Buch einfach nur irre.

Anna Seghers: Das siebte Kreuz

Reden wir von Exilliteratur, dann geht es immer um die Manns und den Zweig. Seghers wird dann auch erwähnt, aber eher von der Literaturwissenschaft und weniger vom Mainstream. In Südfrankreich sitzend schrieb sie 1938 die Geschichte von sieben Gefangenen eines Konzentrationslagers, die aus demselben entkamen. Der Kommandant des KZ lässt daraufhin sieben Kreuze aufstellen und befiehlt, sie innerhalb von sieben Tagen wieder einzufangen.

Am Ende bleibt nur ein Kreuz leer—das des Kommunisten. Wenn es also etwas aus dieser Zeit und zu diesem Thema sein soll, kann man ruhig erst mal zu Seghers greifen, bevor man sich mit Zweig und der Familie Mann herumschlägt.


Titelbild: barbara w. | flickr.com | CC by 2.0