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Die Flüchtlinge in Berlin geben den Protest nicht auf—und besetzen eine Kirche

Die Flüchtlinge in der Kirche sind vor allem die, die der Senat nach seinem Wortbruch auf die Straße gesetzt hatte.

Fotos: Jermain Raffington

„Geht in kleinen Gruppen. Wir wollen nicht auffallen“, lautete die Anweisung, als sich gestern Abend gegen halb sieben rund 70 Flüchtlinge plus 20 Supporter auf den Weg in die Kreuzberger Kirche St. Thomas machten. Zuvor hatten sie sich im nahegelegenen Kunstraum-Bethanien getroffen, wo letzte Einzelheiten der Aktion besprochen wurden und Lebensmittelvorräte lagerten. Eigentlich hatte man ein Dach besetzen wollen, erzählte einer, da aber der Schlüssel nicht aufzutreiben gewesen sei, habe man sich nun für Plan B entschieden: Die Besetzung der Thomaskirche.

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Die Kirche St. Thomas ist ein spätklassizistischer Backsteinbau am Mariannenplatz und wegen ihrer ehemaligen Frontstellung direkt am Mauerstreifen von einiger historischer Bedeutung. Bei den Männern, die sich mit Schlafsäcken und Wasserflaschen auf den kurzen Weg hinüber zu Sankt Thomas machten, handelte es sich größtenteils um jene Flüchtlinge, die vor gut drei Wochen vom Berliner Senat auf die Straße gesetzt wurden und die seitdem obdachlos durch die Stadt irren. Zwar hatte ein kleiner Teil von ihnen öffentlichkeitswirksam auf dem Dach der ehemaligen Unterkunft an der Berliner Gürtelstraße ausgeharrt, bevor sie aufgrund der Tatsache, dass sie kein Wasser mehr hatten, ihren Protest aufgeben mussten, aber der weitaus größere Teil der Abgewiesenen landete auf der Straße. Angewiesen auf die Hilfe von Unterstützern gelang es nicht allen der insgesamt rund 300 von der Regelung betroffenen Refugees, eine neue Bleibe zu finden, weswegen sie sich nun zusammenfanden, um über andere Wege nachzudenken.

Nach und nach füllten sich dann also die Reihen des Gotteshauses, das wie immer am Donnerstag zum stillen Gebet geöffnet war. Die anwesenden Gemeindemitarbeiterinnen waren sichtlich erstaunt, als nach ungefähr zehn Minuten 90 Leute auf den Kirchenstühlen saßen, zeigten sich aber auch positiv überrascht über den regen Andrang. Man freue sich, dass so viele Menschen den Weg in die Kirche gefunden haben, erklärte eine der beiden Frauen, würden sich normalerweise doch nur zwei oder drei Personen zum Gebet einfinden. In einer kleinen improvisierten Rede versuchte sie, dem Ganzen eine gewisse Form zu geben, verlas eine Fürbitte, in der Gott gedankt wurde, dass er einen vor den Gefahren des Tages bewahrt habe und nun auch am Abend seine schützende Hand über uns halte. Danach legte sie eine CD mit sphärischen Klängen ein, die den meditativen Charakter der Veranstaltung unterstreichen sollte. Dass sich die Flüchtlinge in Sachen Unterkunft nicht mehr nur auf die Hilfe Gottes verlassen wollten, war den beiden Damen zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz klar.

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Keine Frage, irgendjemand würde ihnen erklären müssen, dass man die Kirche nach Beendigung des Gebets nicht verlassen würde. Die Erkenntnis kam dann sozusagen von außen. Schnell hatte die Besetzung der Kirche im Netz die Runde gemacht und vor der Kirche wurde ein Transparent mit der Aufschrift „Refugees Welcome“ entrollt.

Nun war es offiziell und verzweifelt versuchten die beiden Frauen, die eigentlich nur einen stillen Gebetskreis hatten leiten wollen, die zuständige Pfarrerin von Sankt Thomas zu erreichen. Da diese aber augenblicklich in Hannover weilt, erschien Jugendkreispfarrerin Silke Radosh-Hinder, die zuständig für den gesamten Bezirk ist und auch gleich Gespräche mit den Flüchtlingen aufnahm. Diese erklärten eindringlich ihr Anliegen, was Radosh-Hinder auch zur Kenntnis nahm, gleichzeitig aber auch betonte, dass man die Kirche leider, leider nicht als Schlafplatz nutzen könne und dass dies ja auch keine Lösung des Problems darstellen würde. Das sahen die Flüchtlinge anders und so wiederholte sich der folgende Dialog wohl noch ein gutes dutzend mal. „We need a place to sleep. We have no roof over our head.“ –  “Yes I understand and we are terrified about the politics of the Berlin Senat and the german government, but this is not a solution. This is no place for sleeping. You can’t stay here and so I ask you to peacefully leave this house.”

„We have no where to go, thats why we come here“, entgegnete einer der Flüchtlinge. Andere appelierten an die Pfarrerin, sich für sie einzusetzen. „We are here because we know that Senator Henkel will listen to you“, sprach einer aus der Gruppe. „We need a place to stay. We are peaceful people.“ Mehr und mehr der gekommen Flüchtlinge meldeten sich zu Wort, versuchten klarzumachen, wie der Senat sie getäuscht hat und wie ausweglos ihre Situation ist.

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Auch im einberufenen Plenum wiederholte sich diese Argumentation. Immerhin kam man zu dem Ergebnis, dass die Kirchengemeinde vorerst nicht die Polizei einschalten wolle und die Geflüchteten zumindest für diese Nacht in der Kirche bleiben können. Aus diesem Grund spricht die Berliner Polizei bis jetzt auch nicht von einer Besetzung, denn solange die Kirchengemeinde nicht von ihrem Hausrecht Gebrauch macht, handele es sich nur um eine Veranstaltung, erklärte ein Sprecher. Die herbeigeeilte Einsatzhundertschaft wurde also nicht eingesetzt, die anwesenden Zivilbeamten hatten ausschließlich eine beobachtende Funktion. Die erste Nacht in der Kirche verlief ruhig.

Heute hat der Gemeinderat von St. Thomas getagt. In der am Nachmittag veröffentlichten Stellungnahme sicherten die Vertreter zwar ihre Unterstützung der Anliegen der Flüchtlinge zu, erklärten aber auch, dass „ein Aufenthalt der Flüchtlinge und Aktivisten in der Kirche über diese eine Nacht hinaus unmöglich ist.“ Als Grund führt der Text fehlende sanitäre Einrichtungen, mangelndes Personal und die „unübersichtliche Lage“ an. „So wurden bereits der Aufgang zur Empore, die Glöckner-Stube sowie der Zugang zum Heizungskeller aufgebrochen, ohne dass hierfür jemand Verantwortung übernommen hätte“, beschwert sich die Gemeinde.

Schlussendlich appeliert das Schreiben an Bezirk und Senat, „seinen Pflichten unverzüglich nachzukommen und den Menschen eine Unterkunft anzubieten.“ Ein längerer Aufenthalt in der Kirche sei nämlich „für alle Beteiligten unzumutbar und löst das Grundproblem der Flüchtlinge nicht.“ Ob das bedeutet, dass die Kirche demnächst doch einen polizeiliche Räumung fordern wird, ist im Moment noch unklar.

13:00 Es wird über den weiteren Verlauf gesprochen. Kirche will den Refugees nämlich keine dauerhafte Unterbringung zusagen. #thomaskirche

— Info Gürtelstraße (@guertelstr) 12. September 2014