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Homo heiratet Hetero

Was bewegt homosexuelle Menschen dazu, eine Ehe mit dem anderen Geschlecht einzugehen?

Illustrationen: Tom Scotcher

Nach 20 Jahren Ehe hielt es Mark einfach nicht mehr aus. Zwar liebte er seine Frau und sie lag ihm immer noch sehr am Herzen, aber er hatte auch angefangen, Gefühle für einen engen Freund zu entwickeln. Diese Gefühle, die mit der Zeit immer stärker wurden und Marks Gedankenwelt bestimmten, und der Drang, jetzt mit 40 aus dem Alltagstrott auszubrechen, brachten alles ans Licht.

Nach einer durchzechten Nacht hatten die beiden Freunde Sex. Das wurde schon bald zur Gewohnheit und Mark gibt rückblickend zu, die ganze Sache „etwas gleichgültig" betrachtet zu haben und davon ausgegangen zu sein, niemals erwischt zu werden. Seine Gelassenheit wurde ihm und seinem Freund zum Verhängnis: Eines Tages bekam Marks Frau mit, wie sich die beiden in ihrer Küche küssten.

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Marks Affäre war eine Überraschung, seine Partnerwahl jedoch nicht. Schon kurz nach der Hochzeit mit Anfang 20 hatte Marks Frau bei ihm einen Stapel Schwulenpornos gefunden und er hatte vor ihr (und wirklich nur vor ihr) mit 28 sein Coming-Out. Trotz seiner Neigung versprach Mark seiner Frau, niemals mit einem anderen Mann zu schlafen und während ihrer Ehe treu zu bleiben.

Nach dem Vorfall in der Küche war jedoch nicht alles zu Ende. Nach 30 Jahren sind die beiden heute immer noch zusammen.

Wenn eine homo- und eine heterosexuelle Person versuchen, eine Ehe zu führen, dann erscheint das wie eine ziemliche Qual, die man sich auferlegt. Trotzdem gehört es für die Millionen Menschen, die in einer gemischtorientierten Ehe leben, einfach dazu.

Wenn Psychologen und Eheberater über diese Art der Beziehung sprechen, dann meinen sie damit, dass ein Partner offen homosexuell und der andere heterosexuell ist. Solche Ehen kommen viel häufiger vor, als man vielleicht glauben mag. Für Deutschland gibt es zwar keine offiziellen Zahlen, aber laut den Statistiken des Straight Spouse Networks, einer Organisation zur Unterstützung der weiblichen Partner von schwulen Mormonen aus Utah, gibt es allein in den USA zwei Millionen gemischtorientierte Ehen.

Auch wenn es viel geläufiger ist, dass der homosexuelle Partner erst nach der Eheschließung sein Coming-Out hat, ist das laut Douglas Chay noch lange nicht die Norm. Chay ist ein Therapeut aus Maryland mit einer eigenen Praxis namens Pride Counselling, der sich selbst als Spezialist für gemischtorientierte Ehen beschreibt.

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Er konnte Folgendes beobachten: „In einigen Fällen einigen sich die Partner vor der Trauung darauf, eine in ihren Augen unkonventionelle Ehe zu führen. Sie legen Regeln fest, zum Beispiel ob der homosexuelle Partner mit anderen Leuten schlafen darf. Vielleicht gibt es auch einen Deal, dass beide außerehelichen Sex haben dürfen. Oftmals geht dieser Wunsch jedoch nur von der homosexuellen Seite aus."

So lange sie es nicht offen zur Schau stellen, können sie nach Lust und Laune leben und gleichzeitig die Freundschaft zu ihrer Frau wahren—Enthaltsamkeit ist jedoch weiterhin ein Muss.

Mark selbst ist schon seit Langem Teil der Unterstützungsgruppe Gay Married Men, die sich in Manchester trifft und ungefähr 50 Mitglieder (zwischen 20 und 50 Jahren) zählt. Die große Mehrheit davon hat den Ehefrauen bereits alles gestanden.

„Diejenigen, die ihre Ehe weiterführen, haben eine ähnliche Vereinbarung getroffen wie ich", erzählt Mark. „So lange sie es nicht offen zur Schau stellen, können sie nach Lust und Laune leben und gleichzeitig die Freundschaft zu ihrer Frau wahren—Enthaltsamkeit ist jedoch weiterhin ein Muss."

Laut Mark ist Gay Married Men keine Beratungsgruppe. Es werden nur regelmäßig Treffen abgehalten, bei denen „die Leute ihre Erfahrungen teilen können, ganz egal ob nun im Bezug auf ihr Coming-Out, ihr Klarkommen mit ihrer Sexualität, ihr eventuelles Beziehungsende oder ihren Kampf mit dem Weitermachen." Es geht jedoch nicht immer nur um ernsthafte emotionale Unterstützung: Manchmal tauschen die Mitglieder untereinander Tipps aus, wo man in der nahen Umgebung am besten neue Leute kennenlernt. So bekommt man den Eindruck, dass es wohl unterschiedliche Auffassungen über die oben genannte Enthaltsamkeit gibt.

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Bei der großen Anzahl solcher Gruppen verwundert es, dass die große Mehrheit davon auf Männer abzielt. Das legt nahe, dass der homosexuelle Partner einer gemischtorientierten Ehe eher der Mann ist.

Courage, eine der ältesten Unterstützungsgruppen dieser Art, wurde 1988 von Jeremy Marks gegründet, der sich damals selber auf eine gemischtorientierte Ehe einließ. Jeremy ist bekennender Christ und wusste laut eigener Aussage schon in der Pubertät, dass er sich zu Männern hingezogen fühlt. Er konnte jedoch nicht zu seiner Neigung stehen, weil „die Leute ihn deshalb verachten würden. Das war alles sehr entmutigend—in den Augen der Gesellschaft warst du ein Monster."

Nach Jahren des enthaltsamen Single-Lebens fing Jeremy in den späten 80er Jahren eine platonische Beziehung mit einer langjährigen Freundin an, die seine Begeisterung für die Kirche teilte. „Ihr war vollkommen bewusst, dass ich schwul bin, aber sie wusste nicht, was das bedeutete—ich hatte ja nie irgendwelche homosexuellen Liebschaften. Vielleicht hatten wir einfach nur irgendwie Angst vor dem Alleinsein und wollten unsere Familien glücklich machen", erinnert er sich.

„Vor der Trauung waren wir ungefähr 18 Monate lang ‚zusammen'. Uns verband eine tiefe Freundschaft, aber wir haben nie miteinander geschlafen. Selbst als Ehepaar sind wir nie intim geworden, in diese Richtung hat sich das Ganze einfach nicht entwickelt."

Obwohl sich das Paar inzwischen getrennt hat, verbringt Jeremy jetzt seine Zeit damit, anderen Menschen bei ihrer GOE zu helfen. Er hat Courage hinter sich gelassen und betreibt jetzt seine eigene Beratungsstelle, die „spirituelle Richtlinien" anbietet. Laut ihm steht er zur Zeit in regelmäßigen Kontakt mit 20 bis 30 gemischtorientierten Ehepartnern aus der ganzen Welt.

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„Viele von ihnen haben Kinder. Für den Mann ist das ein schreckliches Dilemma—für die Frau ist es natürlich auch sehr schwierig", sagt Jeremy. „Einige Männer stehen auf der Kinsey-Skala eher in der Mitte und Sex bereitet ihnen Vergnügen. Allerdings herrscht bei ihnen eben immer eine gewisse Spannung, weil sie ja auch gerne eine gleichgeschlechtliche Beziehung führen würden."

Trotz der ganzen sexuellen Hürden, die eine GOE betreffen können, haben viele Schwule schließlich Kinder. Langfristig gesehen kann das die Sache nur noch komplizierter machen.

Einer dieser Schwulen ist Steve Williams, der Betreiber von Gaydadsupport. Diese Website dient dazu, Online-Gespräche und Treffen zwischen homosexuellen Vätern zu erleichtern. Steve wusste zwar bereits mit fünf Jahren, dass er schwul war, und seine ersten sexuellen Erfahrungen waren alle mit Männern, aber er ist dennoch vierfacher Vater.

Anfang 20 traf Steve durch Zufall eine Frau, nachdem er im Bus eingeschlafen war. Die beiden verstanden sich auf Anhieb super. In der englischen Stadt Basildon hatte man es damals als Heterosexueller viel einfacher. Steve erinnert sich, dass seine erste Beziehung mit einer Frau „nicht Liebe auf den ersten Blick, sondern eher zweckmäßig war."

Schon bald verlobten sich die beiden und während der Hochzeitsplanung kam heraus, dass Steves Partnerin schwanger war. „Ich hatte Glück, dass es so schnell ging", erzählt er, „so mussten wir nicht oft miteinander schlafen. Das bereitete uns zwar keine Probleme, aber eben auch kein wirkliches Vergnügen. Wenn wir aber doch mal Sex hatten, dann führte das mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Schwangerschaft."

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„Ich hatte eigentlich nie vor, meiner Frau von meiner Homosexualität zu erzählen. Ich glaubte wirklich, dass ich für den Rest meines Lebens mit dieser Lüge leben könnte. Aber schon kurz nach meiner Hochzeit tauchte ein Ex-Freund wieder auf und meine Frau kannte ihn anscheinend. Ich musste ihr also alles beichten. Aber selbst dann nahm sie—wie viele Frauen—einfach an, dass ich bi und nicht schwul war. Ich hielt es für besser, sie in diesem Glauben zu lassen."

„Wir hatten weiterhin sporadischen Sex und so kam es zu den Kindern. Mit der Zeit schliefen wir dann aber in getrennten Betten, später in getrennten Räumen und schließlich entwickelte sich unsere Ehe zurück zu einer Freundschaft. Unter dem Vorwand, dass wir uns sowieso irgendwann scheiden lassen würden, durfte ich mich mit anderen Leuten verabreden und sie auch. Wir wollten beiden jemanden finden, für den sich diese Scheidung lohnt."

„Letztendlich habe ich jemanden gefunden, zu dem ich mich stark hingezogen fühlte. Eines Tages sollte ich mich zwischen ihm und meiner Frau entscheiden. Meine Wahl fiel auf ihn."

Einige Paare schaffen es trotz der ganzen schlechten Vorraussetzungen, ihr Ding durchzuziehen.

Alle drei hier erwähnten Männer haben ihre GOE auf verschiedene Art und Weise geführt. Durch ihre Unterstützung von anderen Menschen haben sie jedoch einen guten Überblick über das ganze Thema gewonnen.

Gibt es nun eine „typische" demographische Gruppe für gemischtorientierte Ehen? Die Drei sind sich einig, dass es hier keine konkrete Antwort gibt.

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Mark ist sich sicher, dass es dafür „keinen vorherrschenden Typ Mensch gibt, die meisten jedoch einen hohen Bildungsstand besitzen. Es scheint sich vor allem um Menschen zu handeln, die eine Karriere anstrebten und deshalb das tun mussten, was man von ihnen erwartete."

Steve sagt dazu Folgendes: „Ich würde hier gerne über ein bestimmtes Stereotyp reden, aber das gibt es nicht. Ich hatte schon mit allen möglichen Menschen zu tun, von Doktoren bis hin zu Piloten. Wenn überhaupt, dann sind höchstens weniger handwerkliche Berufe vertreten. Fabrikarbeiter sind nur selten dabei—das liegt wohl an ihrem Arbeitsumfeld."

Die drei Männer stimmen auch darin überein, dass die große Mehrheit der gemischtorientierten Ehen irgendwann geschieden wird. Das ist allerdings bei Weitem nicht die Regel: Einige Paare schaffen es trotz der ganzen schlechten Vorraussetzungen, ihr Ding durchzuziehen.

Auf die Frage, wie das möglich sei, antwortet Mark: „In gewisser Weise ziehen sie es wegen der Angst vor dem Unbekannten und der Einsamkeit durch. Auch wissen sie zu schätzen, was sie haben, nämlich eine gute Freundschaft. In den meisten Fällen sehen das beide Seiten so. Die Ehefrau hatte die Chance, das Ganze zu beenden, und nutzte sie nicht."

„In meinem Fall waren und sind wir einfach die besten Freunde und wir hatten unserer Meinung nach da etwas Gutes. Ich wünschte, ich könnte sagen, warum meine Frau bei mir geblieben ist. Ich glaube, sie hatte Angst, die Trennung ihrer Familie zu erklären. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das gut gehen würde."

Irgendwie zeichnen die Erzählungen von Steve, Mark und Jeremy kein allzu gutes Bild der GOE. Die von ihnen beschriebene Welt ist geprägt von Angst, Scham und dem Wunsch, es allen Recht zu machen außer sich selbst. Vielleicht schauen wir irgendwann mal mit Mitleid auf gemischtorientierte Ehen zurück, so wie die Generationen nach der Aufklärung die Gottesfürchtigen des Mittelalters verspotten.

Wir sollten aber genauso die Opfer anerkennen, die diese Menschen für das Funktionieren ihrer Ehe erbracht haben. Eine Hetero-Ehe war niemals ihr Traum, aber sie sind ihm trotzdem bis zum Ende des Regenbogens gefolgt.