12 Stunden auf dem Weihnachtsmarkt

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Popkultur

12 Stunden auf dem Weihnachtsmarkt

Vom Weihnachtsmarkt am Alexanderplatz hört man oft: Diebstähle, zu viele Touristen, Gewalt. Wir haben uns dort auf die Suche nach dem Glück gemacht.

Zugegeben, der Weihnachtsmarkt am Alexanderplatz in Berlin ist kein romantisch-beschaulicher Ort. Der U-Bahn-Hof gilt als der gefährlichste in Berlin, auch der Platz selbst ist ein Hotspot für die Polizei: rund 600 Gewalttaten von Raub bis Körperverletzung im letzten Jahr, und über 1.500 Diebstähle. Genau hier steht von Ende November bis Anfang Januar der Weihnachtsmarkt, zwischen Primark, Saturn und Galeria Kaufhof. Hier gewinnen Kinder Kondome als Preise für ein Automaten-Glücksspiel, ein übergroßer Eselskopf singt über der Glühweinschenke weihnachtliche Hits, das Bierzelt nennt sich "Partyhaus vom Nikolaus". Es flanieren Menschen in Neonazi-Klamotten, Jugendliche pöbeln, am Rand vegetiert Kotze.

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An einem Samstag verbringe ich 12 Stunden hier, um Glück zu finden.

Millionen von Menschen kaufen jedes Jahr auf über 1.500 Weihnachtsmärkten in Deutschland ein. 85 Millionen Besuche zählte der Deutsche Schaustellerbund in seiner letzten Statistik—das ist ein Vielfaches der Stadionbesuche in der Bundesliga. Der Umsatz mit Glühwein, Holztafeln und Süßem geht in die Milliarden.

In Berlin gibt es über 60 Weihnachtsmärkte, manche mit selbstgebastelten Sitzgelegenheiten und fancy Minz-Getränken. Der Markt am Alex ist ein anderer Ort. Hier schieben sich die Besucher durch die breiten Gänge zwischen Touri-Shirts, "Meine süße Schnecke"-Herzen und Glitzer-Reiskörnern, auf die ein Mann Namen graviert. (Danke dafür, Zivilisation.)

Glück eins, 10 Uhr: Einen Job haben

Als ich ankomme, ist es noch leer. Die Fahrgeschäfte stehen als leblose Klötze zwischen S-Bahn und Einkaufscenter, eine Studentin mit Schlaf in den Augen drapiert Nutella-Gläser in der Vitrine des Crêpe-Stands.

Uschi, 66, wippt an ihrem Stand auf und ab, um sich warm zu halten. Die neuen LED-Figuren hat sie schon eingeräumt, noch ist aber nicht viel los. Sie steht also und wartet auf Menschen, die kaufen. Uschi verdient auf dem Weihnachtsmarkt Geld, das sie braucht. "Die Rente allein reicht nicht", sagt sie. Mit über 50 verlor sie ihren Job, weil der Fotoladen, in dem sie Filialleiterin war, pleite ging. Auf der Suche nach einer neuen Festanstellung hieß es dann oft: Sorry, aber wir stellen nur bis zur Altersgrenze 50 ein. Der Weihnachtsmarkt hält sie im Winter über Wasser, im Sommer verkauft Uschi Obst im Einkaufscenter. Fast eine Million Rentner in Deutschland stocken wie sie mit Minijobs auf. "Glück heißt für mich zu wissen: Davon komme ich wieder eine Weile durch", sagt Uschi.

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Am Umsatz des Tages verdient sie nicht mit, sie wird pro Stunde bezahlt. Trotzdem: "Es ist schön, wenn die Kasse voll ist, dann sehe ich, was ich geschafft habe."

Die Glasfiguren, in denen Glitzer und Lämpchen eingebaut sind, kosten in der Herstellung nur einen Bruchteil der 40 Euro, die sie teilweise hier am Stand kosten. Klar: Wenn ich Uschi eine LED-Figur abkaufe, zahle ich quasi auch die Standmiete, den Strom und ihr Gehalt mit. Uschis Chef verdient an dem Verkauf auf dem Weihnachtsmarkt wesentlich mehr als sie selbst. Er hat nicht nur einen, sondern mehrere Stände in verschiedenen Städten. Der Markt besteht aus Klein- bis Kleinstbetrieben—mit mehreren Ständen und einem Dutzend Angestellten gehört er zu den größeren.

Sechs Stunden hat Uschi heute noch vor sich. "Ich bin froh, wenn ich heute Abend wieder nach Hause gehen kann", sagt Uschi und lacht. Verbittert ist sie nicht. Zwei australische Touristen finden ihre Figuren währenddessen "so beautiful".

Glück zwei: Das Leben ist ein Karussell

13 Uhr. Am Glühwein-Stand "Pyramiden-Treff" schaut sich ein Renter-Ehepaar vertraut in die Augen. Sie hat einen weißen Glühwein in der Hand, er trinkt roten. Sie fahren durch die halbe Stadt, um hier zu trinken, wie früher in der Mittagspause, als sie in der Nähe gearbeitet haben. "Der ist der glücklichste Mensch, der das Ende seines Lebens mit dem Anfang in Verbindung setzen kann", sagte Goethe. "Bevor es hier voll wird, sind wir wieder weg", sagt die Rentnerin.

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Auf dem Karussell fahren drei Kinder im Feuerwehrauto: eine blond, einer pausbäckig, eine fast schon zu groß fürs Karussell. Die eine jauchzt, der andere gluckst, die Dritte ist völlig aus dem Häuschen und steht plötzlich auf. Wäre sie nicht so jung, würde ich jetzt sagen: Zu viel My Super Sweet 16 auf MTV geschaut, da sind auch immer alle in der Limousine aufgestanden. "Hinsetzen im Feuerwehrauto, hallo-ooo?", schallt es aus den Lautsprechern. Der Schausteller ist hörbar genervt. Die Freude der drei kann er aber nicht zerstören. Runde um Runde schauen sie auf Menschen mit rosa-farbener Zuckerwatte, bunte Reklame und ihre Eltern, die winken. Um vergnügt zu sein, brauchen die drei Kinder ein Karussell mit Feuerwehrauto und viele Lichter. Das Leben kann so einfach sein. Und Glück ist offensichtlich eine Frage der Perspektive.

Glück drei: Bei Versuch Nummer 12 kommt der verdammte Schneemann endlich aus dem Supergreifer-Automaten

Drei Uhr nachmittags, Kinderwagenzeit. "Uoi-uoi-uoi", surrt der XXL-Toy-Automat. "Nirgendwo wird so viel gewonnen", dröhnt es metallisch aus den Lautsprechern. Lüge. Da drüben gewinnt jedes Los. Hier denken die Leute zwar die ganze Zeit, dass sie gleich gewinnen, aber kurz nachdem die Greifarme das Kuscheltier zur Öffnung des Automaten zu tragen scheinen, plumpst der Schneemann oder das Bärchen doch wieder nach unten. Eine schlanke Frau mit Kurzhaarschnitt und rotem Glitzerstein-Septum lässt sich davon aber nicht entmutigen. Sie will diesen Schneemann für ihre Tochter. Sie springt, sie lacht, sie flucht. Sie wirft einen weiteren Euro ein. "Thank you", sagt der Automat.

So geht das minutenlang: Euro rein, Knöpfe drücken, Hoffnung, zerstörte Hoffnung, neuer Euro. Mittlerweile hat sich eine Traube um sie gebildet. Alle fiebern mit. Nach Versuch zehn scheint es ein Ding der Unmöglichkeit, den Kuschel-Schneemann jemals aus dem Supergreifer zu ziehen. "You can't always get what you want", würden die Rolling Stones sagen. Aber unterschätze niemals die Kraft einer Mutter. Bei Versuch zwölf zieht sie den Schneemann aus der Luke, ihre Tochter springt aus dem Kinderwagen, ihr Freund umarmt sie. Mick Jagger hat wohl noch nie am Supergreifer-Automaten gespielt.

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Viertel nach vier, aus der Ferne erklingt Christen-Rock. Eine Band spielt Popsongs, in denen jedes dritte Wort "Jesus" ist. Als ich ankomme, kündigen die Kirchenfreunde gerade den nächsten Act an, eine Beatbox Performance, bei der auch jedes zweite Wort Jesus ist. Wenn das hier der Ballermann unter den Weihnachtsmärkten ist, dann ist dieser Beatboxer der Dieter Bohlen des Christentums.

Glück vier: Free Fall – nach Todesangst bist du besonders froh, am Leben zu sein

Im Free Fall Tower sitzt ein 15-Jähriger mit Lederjacke und ruckelt nervös an der Halterung seines Sitzes. Sicher fühlt er sich offensichtlich überhaupt nicht. In der Schlange stand er noch cool und lässig mit seinen Kumpels herum, jetzt ist er nur noch blass. "Scheiße", murmelt er, während wir langsam nach oben fahren. "Scheiße", murmel ich neben ihm. "Uahhh", ruft eine Mutter in beigem Mantel neben mir. Ihre Stimme ist unnatürlich hoch. Wir sind oben, 90 Meter über dem Alex. Eine Drehung, zwei Drehungen, drei Drehungen.

Fall

Der Philosoph Epikur sagte einst: Glück ist Schmerzlosigkeit. Und im Umkehrschluss: Ohne Schmerz keine Freude. Ohne Angst keine Erleichterung. Und die verspüren wir gerade. Für einen kurzen Augenblick sind wir nicht Mutter, cooler Typ oder Journalistin, sondern nur noch verzogene Gesichter mit verwuschelten Haaren und freuen uns, dass wir gerade nicht gestorben sind.

Die Angst, die uns gerade zusammengeführt hat—was ist, wenn die Sicherung aufgeht?—, ist natürlich eine konstruierte. Wir fühlen uns erleichtert, weil wir aus einem blinkenden Free Fall Tower steigen, in dem wir statistisch sicherer sind, als wenn wir über die Straße laufen. Nicht, weil wir uns gemeinsam vor Bomben verstecken müssen oder in Fischerbooten übers Meer fahren müssen. Wir holen uns den Angst-Kick zum Spaß, nicht weil wir tatsächlich Angst um unser Leben haben müssen. Das ist wohl das größte Glück, das man haben kann.

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Nach ein paar taumelnden Schritten haben sich alle wieder gefangen. Die Mutter ist wieder Mutter und überlegt laut, ob sie jetzt Wurst oder Crêpe mit ihrem Sohn isst, der 15-Jährige zieht seine Lederjacke zurecht und holt eine Zigarette aus der Hosentasche. Wir sind wieder am Boden des Weihnachtsmarktes. Im Bierzelt "Partyhaus vom Nikolaus" steigt eine Frau auf die Bierbank. In der Glühweinschenke fällt der 26-jährigen Alice ein Holzschuh auf den Kopf. Er hing an der Wand hinter ihrem Tisch, neben einer Holztafel mit Voltaire-Zitat: "Eines Tages wird alles gut sein, das ist unsere Hoffnung. Heute ist alles in Ordnung, das ist unsere Illusion." Alice blieb unverletzt.

Glück lässt sich nicht festhalten: "Aber ich will noch 'n bisschen bleiben."

Um zu sagen, dass es Punkt zehn Uhr ist, muss man nicht aufs Handy schauen. Alle Lichter gehen aus, die Schausteller rollen die Planen zusammen, das Surren der Automaten verstummt. Zwei Minuten später sind die Gänge dunkel, leer und voller Müll. Nur die Schausteller sind noch da, die Crêpeeisen abwischen oder Pfeile im Bogenschießstand einsammeln.

An der S-Bahn-Station rennt ein Jugendlicher nach einer Prügelei vor der Polizei weg. Erst macht er einen wahren Filmstunt: Er huscht über die Gleise, bevor die Straßenbahn kommt, und verschwindet dahinter. Wenige Meter weiter bekommt eine Beamtin ihn aber doch zu fassen. Ein Polizeiauto kommt nach. Es ist eines der 32 Streifenwagen, die an diesem Samstag am Weihnachtsmarkt vorgefahren sind, sagt uns der Polizeisprecher später. Seit der Weihnachtsmarkt Ende November aufgemacht hat, habe es vor allem Diebstähle (60 Prozent), aber auch Körperverletzungen und einen Raub gegeben. Von dem, wie die B.Z. titelte, "Kriminalitätsproblem" am Alexa-Weihnachtsmarkt, haben wir aber nichts gemerkt.

Am Rummel schiebt ein Security-Mann sachte eine zarte Frau in ihren Dreißigern zum Ausgang. Sie redet auf ihn ein und will nicht verstehen, dass das Glühweingelage wirklich schon vorbei ist. Sie sieht dabei aus wie ein Dreirad, das sich mit einer Harley Davidson anlegt. Ihre Freundinnen, nicht ganz so sehr betrunken wie sie, versuchen, ihr das schonend beizubringen: "Komm, wir ziehen noch in eine Bar weiter." Für manche sind Wilde Maus, Glühwein und Riesenbratwurst offenbar eine solche Wonne, dass sie gar nicht mehr loslassen wollen.

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