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Vice Blog

Schafskopfaugen, Frauenraub und ein Nackter im Hof: 3 Monate Kirgistan

Vielleicht ist Kirgistan das unbekannteste und zugleich absurdeste Land der Welt. Unsere Autorin hat dort drei Monate lang für ihr Buch recherchiert.

Die österreichische Schriftstellerin Daniela Emminger ist derzeit mit ihrem dritten Roman „ Die Vergebung muss noch warten" (256. S., Czernin 2015, 21,90 EUR) in den Bücherregalen und auf Lesetour. Hier beschreibt sie ihre Recherche-Erfahrungen für das nächste Buch.

Jetzt gibt das ferne Kirgistan ja schlagzeilentechnisch derzeit nicht viel her. Die jüngsten Parlamentswahlen Anfang Oktober sind vergleichsweise zivilisiert ausgefallen: Ein paar kleinere Putsch-Versuche hier, ein paar Korruptionsquerelen da—ein kirgisischer Pappenstiel also.

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Präsident Atambajew sitzt, nach der unglaublich korrupten und von Gewalt dominierten Ära seines Vorgängers Bakijew, der 2010 in einem blutigen Volksaufstand mit 87 Toten gestürzt worden war und dessen Gewalt- und Korruptionsregister auf keiner Kuhhautherde Platz hat, seither relativ stabil im Sattel. Er versucht, die junge, krisengebeutelte und von Armut dominierte Demokratie in guter alter Manas-Manier in Richtung Zukunft zu reiten. Die kann freilich überraschend ausfallen, denn die liberale Oase inmitten des sonst eher autoritär regierten Zentralasien ist nicht nur politisch für aufregende Handlungsstränge und überraschende Wendungen gut (gute wie schlechte).

Ganze Romane ließen und lassen sich schreiben über das arme, wilde, schräge, laute, mutige, wunderschöne und wahnsinnig aufregende Land—in dem die Tradition am Aberglauben kratzt, Nomaden noch in Jurten hausen, das Patriachat ungehemmt regiert, Schafskopfaugen zum Frühstück serviert und Frauen auch im 21. Jahrhundert noch geraubt werden und wo einen der post-sowjetische Charme von Stutenmilchverkäufern an jeder Ecke aus den Socken hebt. Und genau deswegen bin ich ja auch hier – trotz ausgeschriebener Reisewarnung und erhöhtem Sicherheitsrisiko: um einen Roman zu schreiben.

Natürlich sind erste Eindrücke oft falsch, aber eben auch authentisch und ungefiltert. Es ist unglaublich heiß, trocken und staubig, als ich im Sommer in der Hauptstadt aufschlage. Ich hab mir die Haare abgeschnitten und schwarz gefärbt, zwei Jeans und ein paar T-Shirts dabei, und will unter- oder vielmehr einzutauchen in diese Welt.

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Und da sind sie auch schon, an allen Ecken und Enden: übergroße Leninstatuen, die man von den Prunkstraßen in die schäbigen Hinterhöfe verfrachtet hat. Ganz trennen kann man sich noch nicht von ihnen, uniformierte Wachmänner mit viel zu großen Schirmkappen, die vor den Staatseinrichtungen salutieren, alte Mütterchen, die am Straßenrand Margeritensträuße, Obst und Häkelstrick verkaufen und einem für 5 Som (1 EUR = 76 Som) auf alten Personenwagen das Gewicht feststellen.

Die Jugend trägt Fake-Labels, will modern sein und alles haben, was Westen schreit. Ich hingegen will mich akklimatisieren, die Post- und die Sowjetzeit verstehen und mit dem Allernötigsten auskommen. Ich entdecke relativ schnell die Händchenhalte- und Schmusebänke im Panfilow-Park, trinke abwechselnd gegorene Stutenmilch und Getreidesaft—beides erfrischend, aber gewöhnungsbedürftig.

In meinem Hof nächtigt eine Woche lang ein Nackter auf einer Matratze. Ich habe keine Ahnung wo er herkommt, doch als ich ihn fragen will, ist er wieder verschwunden.

Ich schleppe riesige Wasserkanister in mein Appartement und zapfe Strom von der benachbarten Restaurantbesitzerin ab, die im Gegensatz zu mir täglich über Elektrizität und Internet verfügt. Ein ganzer Tag mit Strom, Weltanschluss und Wasser ist hier ein ziemlich guter. In meinem Hof nächtigt eine Woche lang ein Nackter auf einer Matratze. Ich habe keine Ahnung wo er herkommt, doch als ich ihn fragen will, ist er wieder verschwunden. Meine Nachbarin arbeitet für eine der zahlreich präsenten deutschen Hilfsorganisation und schenkt mir eine Stirnlampe—nicht nur, wenn es drinnen stockfinster ist, sondern auch für die Gehwege, die hier vor sich hin holpern und poltern (nicht selten fehlt ein Kanaldeckel, das Material ist heißbegehrt). Angst habe ich übrigens keine.

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Ich überlege, ein Musikstück zu komponieren, der Klangteppich hier gibt einiges her: Überall krähen Hähne, Esel jaulen um die Wette, ein Klopfen und Schlagen und Hämmern von den zahlreichen Baustellen liegt in der Luft, dazwischen aufheulende Polizeisirenen und Alarmanlagen, die mich an billige Plastikroboter „made in China" erinnern. Kinderlachen, das monotone Knattern von Stromaggregaten und beruhigender Verkehrslärm.

Ich klappere diverse Museen, Archive und Bibliotheken ab, befreunde mich mit einer kirgisischen Zahnärztin, die mir knallorange Turbo-Tabletten gegen Reise-Diarrhoe verschreibt—überhaupt gibt es hier so gut wie alles ohne Rezept. Ich date kirgisische Männer, an denen Alice Schwarzer ihre Freude hätte, lese das Manos-Epos—die wichtigste Helden- und Gründungsgeschichte der Kirgisen—, zähle täglich die Filzhutträger und vermummten Frauen (die Filzhüte führen bei weitem), beobachte einen Mann, der einen toten Pfau in einer karierten Stofftasche spazieren trägt, schreibe aufgrund der unerträglichen Hitze nur noch frühmorgens von fünf bis elf und plane schließlich meine Reiseroute durchs Land. Denn das ist groß und weit. Und tickt in vielem ganz anders als die Metropole.

Sämtliche Reiseeindrücke hier sind postkartenreif. Ich verliebe mich am Issyk Kul in Juri Gagarin, der sich anno dazumal vom Mond aus seinerseits verliebt hat, in den größten Tigeraugen-See des Landes und in einem Sanatorium bei Tamga von den Weltraumstrapazen erholte. Ich schließe mich einer Gruppe von Lepidopterologen aus Europa an und fange seltene Schmetterlinge im hohen Tien Shan.

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Ich verbringe eine Woche bei einer Nomadenfamilie auf 4.000 Metern Höhe, esse Schafskopfaugen, Gedärmkringel und Hufen-Mark, forme Kurut-Bällchen mit den Kindern, trinke kirgisischen Cognac (den guten mit den sieben Sternen) und sitze wie ein Pünktchen ohne Anton mitten im gewaltigen Nirgendwo. Die Landschaft ist unglaublich schön.

Ich reise zu einer Hochzeit in den ethnisch konfliktreicheren Süden und werde am Basislager des Pik Lenin von zwei Idioten mit Fieber und einem Anflug von Todesangst zurückgelassen, schaffe es aber mit Hilfe eines Freundes aus Bishkek, in einem 78-stündigen Trip mit Sammeltaxis, wo ich eingepfercht zwischen waschechten Kirgisen sitze, zurück in die 900 Kilometer entfernte Hauptstadt und denke mir: Auf zwei Idioten von hundert netten zu treffen, ist eigentlich ein guter Schnitt.

Im Bus entfacht ein skurriles Gespräch über Conchita Wurst, die man auch am anderen Ende des Globus kennt, aber nicht mag. Homosexualität, Transvestitismus & Travestie haben in Kirgistan nichts verloren. Ich bin zwar noch immer nicht des kyrillischen Alphabets mächtig, merke aber schnell bei meiner Aufklärungsstunde in Sachen Sexualität, dass Kirgisen für fortschrittliche, alternative Lebenskonzepte nicht unbedingt zu haben sind.

Gleichberechtigung, wie wir sie kennen, lässt sich hier überhaupt nicht buchstabieren. Mann trifft Frau, checkt die sieben Vorfahren auf etwaige Überschneidungen in der Erbfolge ab, um nomadenbedingten Inzest zu vermeiden, und gründet eine Familie. Die jüngste (Schwieger-)Tochter—egal, ob Ärztin oder Supermarktkassiererin—hat die Arschkarte gezogen. Sie fegt den Hof, serviert Tee, kocht, putzt, wäscht und erledigt auch sonst den Haushalt. Der älteste (Schwieger-)Sohn hingegen macht den Lottogewinn, ist Sultan (und heißt oft auch so), führt den Clan an und ein verhältnismäßig schönes Leben. Es lebe das traditionelle Familienkonzept. Ich weiß nicht, wer nach dem Gespräch mehr frustriert ist.

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Nicht minder starker Tobak ist für mich das Kapitel Frauenraub. Ich selbst bin da ja ungefährdet, weil erstens Ausländerin und zweitens zu alt. Das mindert aber nicht mein Interesse an der Sache. Im Gegenteil. Meine diesbezüglichen Fragen werden abgewiegelt und belächelt, Frauenraub gäbe es hier längst nicht mehr.

Jetzt muss man zwar verstehen, dass der Ursprung für die arrangierte Ehe oder Zwangsverheiratung durchaus Sinn ergab, um etwaige Standesdünkel und horrende Hochzeitsausgaben zu umgehen. Doch seit einigen Jahren wird die freiwillige, abgesprochene Brautentführung wieder zunehmend durch echtes Kidnapping—inklusive Vergewaltigung und Zwangsehe—durchwachsen.

Ich schaue den mehrfach prämierten Film PureCoolness und spreche endlich auch mit einer nationalen Expertin des kirgisischen Parlaments, die ein Treffen mit einer Betroffenen arrangiert. Die Zahl der offiziell gemeldeten Entführungsfälle ist erschreckend: 32 Frauen pro Tag waren es allein im Jahr 2012. Und weniger seien es garantiert nicht geworden. Ich zünde mir eine Papiróssy an. Und bin auch schon direkt im nächsten Film:

Egal wohin ich fahre, der scharfe Geruch von Hanf begleitet mich. In meinem Hinterhof in Bishkek, auf dem Friedhof in Rotfront, entlang der Straßen in Richtung Süden. Gemeinsam mit meinem Reiseführer ernte ich einen Strauß des Grünzeugs und frage mich, ob das vielleicht ein zukünftiger Agrarzweig werden könnte. Kirgistan ist ein echtes Paradies für Raucher. Auch die Schachtel Zigaretten kostet nur 45 Som.

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Für alle, die es in ihrem Leben sucht- und substanztechnisch übertrieben haben, betreibt der umstrittene Psychiater Jengishbek Nazaraliev seit 1991 eine private Entzugsklinik etwa 20 Kilometer außerhalb von Bishkek. Ich finde es gruselig in den gekachelten Kellerräumen, in denen reiche Prinzen aus Saudi-Arabien und international betuchtes Klientel mittels Spritzencocktails ins Koma versetzt werden, um ihrer jeweiligen Sucht Herr und Frau zu werden. Für Kirgisen ist das mehrstufige Programm, das zwischen 7 und 45 Tagen dauert, natürlich nicht einmal ansatzweise leistbar. Bis zu 15.000 Euro kostet eine Behandlung beim selbsternannten „Doc Cocaine", der mit martialischen Methoden und recht umstrittenen Therapieformen lebenstechnisch den Reset-Knopf drückt.

Der Besuch im Center und die anschließende Besteigung des Tashtar Ata—einem spirituellen Hügel auf dem Klinik-Areal, der mit „Plates of Hope" genannten Grabsteinen fürs Alte Ich übersät ist—hinterlassen ein seltsames Gefühl bei mir.

„From stone to stone, from heart to heart, … I am burning the thing that reminds me of past", soweit der Glaubenssatz des exzentrischen Mittfünfzigers, der mich eher an einen marketingversierten kleinen Putin erinnert, der das Blut kleiner Kinder trinkt, denn an einen seriösen Arzt. Gestorben ist hier angeblich noch keiner.

Womit wir am vorläufigen Ende meiner Kirgistan-Erlebnisse angekommen wären. Auch ich lebe noch. Mit dem Roman dauert es noch ein wenig, aber richtig bin ich hier auf jeden Fall. Widersprüche, Absurditäten und die Fremde zwingen einen dazu, Dinge zu hinterfragen und neu zu definieren. Und das ist bekanntlich ja nicht das Schlechteste.

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