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Der katholische Publizist Martin Lohmann, der den "Marsch für das Leben" organisiert, veröffentlicht regelmäßig Artikel in der neurechten Zeitung Junge Freiheit. Die wiederum wirbt für Lebensschutzorganisationen und berichtet seit Jahren wohlwollend über Proteste gegen Abtreibungskliniken. Der Marsch in diesem Jahr richtet sich vor allem gegen die medizinische Früherkennung von Behinderungen. Für Lohmann ist es "Selektion": "Wir finden uns nicht damit ab, dass nur noch qualitätsgeprüfte Menschen geboren werden sollen und alle anderen im Müll landen", schreibt er VICE in einer E-Mail.Die Gegnerin der Lebensschützer, Sarah Bach von "What the Fuck?!", findet aber, dass die religiösen Aktivisten Behinderte für ihre Zwecke instrumentalisieren. Die Lebensschützer sind "Antifeministen" und "kämpfen gegen die Selbstbestimmung der Frau", sagt sie.Abtreibung ist eigentlich von jeher nicht nur ein religiöses, sondern auch ein politisches Thema. Seit der Gründung der Kirche haben Theologen darüber gestritten, ab wann der Mensch eine Seele hat—also wirklich ein Mensch ist. Die gängige Lehrmeinung besagte, dass das frühestens ab der vierten Woche der Fall sei. Erst im 19. Jahrhundert setzte sich im Vatikan die Theorie durch, der Mensch sei schon unmittelbar nach der Empfängnis beseelt. Das war bis dahin die Meinung einer Minderheit. Das Abtreibungsverbot ist erst seit 1917 im katholischen Kirchenrecht verankert. Gegner werfen den Lebensschützern heute vor, sie seien im "Mittelalter" stehen geblieben. De facto war die mittelalterliche Kirche in dieser Frage aber liberaler als die heutige.Die moderne Pro-Life-Bewegung formierte sich in Europa und den USA Ende der 1960er Jahre als Widerstand gegen die Frauenbewegung und die Anti-Baby-Pille. Am aktivsten ist sie in den Vereinigten Staaten. Nachdem der Oberste Gerichtshof 1973 das Recht auf Abtreibung bestätigt hatte, versuchten religiöse Gruppen, Mitgefühl für das "ungeborene Leben" zu wecken. Sie verteilten zum Beispiel Fötus-Modelle aus Plastik in Fußgängerzonen. Für viel Aufsehen und viel Kritik sorgte 1984 ein Film namens The Silent Scream, der eine Abtreibung in Ultraschallaufnahmen zeigt. Dabei wirkt es, als würde der Fötus schreien. Ärzte bezeichneten den Film als irreführend, aber der damalige Präsident Ronald Reagan ließ ihn sogar im Weißen Haus zeigen.In Washington protestieren beim "March for Life"—dem Vorbild für den "Marsch für das Leben" jährlich Hunderttausende Menschen gegen Abtreibungen. Es wäre zu einfach, sie alle als Haufen fundamentalistische Spinner abzutun. Zu heterogen ist die Gruppe: Katholiken, evangelikale Freikirchen und politische Organisationen, die meist den Republikanern nahe stehen. Im Wahlkampf nutzen die Konservativen das Thema, um Stimmen am rechten Rand zu fangen.In Deutschland haben die Lebensschützer zwar weniger Einfluss, aber auch hier verfolgen sie eine politische Agenda. Dass die AfD rechte Ideen salonfähig macht, muss ihnen wie ein Gottesgeschenk erscheinen: die Frau vor allem als Mutter, die heterosexuelle Kleinfamilie als natürliche Grundlage von Staat und Gesellschaft. Einige AfD-Politiker suchen ihrerseits die Nähe frommer Kirchgänger, sie sollen der Partei dabei helfen, noch einflussreicher zu werden. Die Menschen, die am Wochenende durch Berlin marschieren, trauern also ganz sicher nicht nur wegen ungeborener Babys. Sie wollen die Gesellschaft verändern. Individuelle Freiheit hat in diesem Weltbild wenig Platz.