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"Man lernt mit der Zeit sogar, die unterschiedlichen Bomben auseinanderzuhalten"

Ein freiwilliger Helfer erzählt aus seinem Alltag in Aleppo.
Ein Kind in Syrien, September 2013 | © Shutterstock | ART production

Es ist schwer zu begreifen, dass die Situation noch schlimmer werden kann. Aleppo hat in den letzten Wochen ein beispielloses Ausmaß an Zerstörung erlebt. Etwa 250.000 Menschen sind hier eingeschlossen und stehen unter fast täglichem Beschuss.

"Im letzten Monat konnte ich wegen der ständigen Luftangriffe nicht schlafen", erzählt mir Hassan während unseres Telefonats, das wir über eine Internet-App führen. Die Verbindung wird immer wieder unterbrochen, schließlich klappt es doch. "Man lernt mit der Zeit sogar, die unterschiedlichen Bomben auseinanderzuhalten. Wenn es sich so anfühlt, als ob die Erde bebt, dann weiß ich: Das war eine bunkerbrechende Bombe. Wenn die Nacht hell wird wie der Tag, ist eine Phosphorbombe explodiert. Und wenn ich viele laute Explosionen gleichzeitig höre, dann war es eine Streubombe."

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Während unseres Gesprächs kracht es im Hintergrund immer wieder. "Explosionen", sagt Hassan. Er schätzt, dass sie etwa einen halben Kilometer entfernt sind. Hassan, 29 Jahre alt, arbeitet bei einer Partnerorganisation der privaten Hilfsorganisationen CARE im nördlichen Syrien. Seit vier Jahren arbeitet er nun als Helfer, derzeit koordiniert er den Einsatz von vier Rettungswagen. Vor dem Krieg wusste Hassan nichts über das, was er jetzt täglich macht: Bombenopfer, Verletzte und Verwundete retten. Damals studierte der junge Syrer Wirtschaft und arbeitete nebenbei am Bahnhof von Aleppo, um sich etwas dazuzuverdienen.

Das ist lange her—ein Schatten aus einem längst vergangenen Dasein. Das Leben im kriegsgebeutelten

Aleppo

steht still. Straßen sind abgeriegelt, die Menschen gefangen. Ein unbeschwertes Lachen hat man hier schon lange nicht mehr gehört. Schulunterricht gibt es nicht. Unterirdische Klassenzimmer können jederzeit ausgebombt werden. Spitäler müssen, sofern sie noch existieren, ohne Medikamente arbeiten.

Es gibt nichts mehr: keinen Strom, keinen Treibstoff, keinen öffentlichen Verkehr. Die Geschäfte haben nichts mehr zu verkaufen und wo es noch etwas gibt, ist es kaum leistbar. Die Mobilfunknetze sind zusammengebrochen, einzig Walkie-Talkies funktionieren—wenn man denn eines hat. Nicht einmal mehr sauberes Trinkwasser haben die Einwohner von Aleppo: Seit das zentrale Wasserkraftwerk getroffen wurde, müssen die Menschen schmutziges Grundwasser trinken.

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"Jedes Mal überlebe ich. Es ist wie ein Wunder."

Der schwere Beschuss macht die Arbeit der Helfer zu einer extrem gefährlichen und erschöpfenden Sache. Da ist das Geröll, das die Straßen blockiert. Da sind unzählige Stunden, die man damit verbringt, Zivilisten aus dem Schutt zu befreien, während die Jets am Himmel donnern. "Wenn eine Rakete ein Gebäude trifft, muss ich der Erste dort sein", schildert Hassan seine ganz persönliche Arbeitsdevise.

"Ich verbringe die meiste Zeit damit, Verwundete in Spitäler zu bringen. Verletzte bitten mich oft, sie nach Hause zu fahren und nicht in ein Krankenhaus. Ich war dabei, als sieben Luftangriffe ein Spital und alles im Umkreis von 50 Metern trafen." Es ist die systematische Zerstörung von medizinischen Einrichtungen. "Jedes Mal überlebe ich. Es ist wie ein Wunder."

Die Organisation "Ärzte für Menschenrechte" hat seit Beginn des Kriegs 2011 genau 382 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen und 757 getötete Mitarbeiter gezählt. CARE und andere internationale Organisationen drängen daher vehement auf ein Ende der Angriffe auf Zivilisten, Spitäler und Schulen und verlangen sofortigen humanitären Zugang.

In Ost-Aleppo zu leben bedeutet, jederzeit mit dem nächsten Bombenangriff zu rechnen. Kürzlich wurden Hassans Rettungswagen sechsmal in nur einer Woche von Granatsplittern getroffen. In den Rettungswagen ist kein einziges Fenster mehr intakt. "Ersatzteile gibt's hier nicht", sagt Hassan.

Hassans Rettungswagen wurde sechsmal in nur einer Woche von Granatsplittern getroffen.

Staffan de Mistura, der UN-Sondergesandte für Syrien, sagte vor kurzem vor Journalisten, dass Ost-Aleppo in den nächsten Wochen komplett zerstört werden könnte: "Tausende Zivilisten, nicht Terroristen, werden getötet werden. Und Abertausende werden wahrscheinlich versuchen, zu flüchten, um all dem zu entkommen."

"Die Situation in Aleppo muss den Vereinten Nationen und der Welt nun endgültig klar sein", sagt Hassan. "Aber wer sieht denn die Raketen, die ein fünfstöckiges Gebäude zerstören, bis in den Keller vordringen, explodieren, alle Bewohner töten? Ist es im Einklang mit internationalem Recht, dass Zivilisten getötet werden? Dass Ärzte wegen Hilfeleistung angegriffen werden?"

Hassan weigert sich trotz allem, aufzugeben. "Ich mache das für mein Land und die Menschen hier. Dieser Sache widme ich mein Leben. Wenn ich jemandem helfen kann, der auf mich wartet und mich braucht, dann bedeutet das alles für mich." Während Millionen Syrer geflohen sind, sind tausende Helfer geblieben. Sie opfern ihre eigene Sicherheit, um andere Menschen zu retten. "Was mich veranlasst zu bleiben? Dass ich helfen kann."