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Warum sind wir so besessen von Flugzeugabstürzen?

Fliegen ist für uns Menschen nichts Natürliches—kein Wunder, dass es uns besonders verstört, wenn ein Unglück geschieht.

Ein Flugzeug kurz vor der sicheren Landung in Sint Maarten. Foto: Steven Conry | Flickr | CC BY 2.0

Gestern stürzte der Germanwings-Flug 4U 9525 von Barcelona nach Düsseldorf über den französischen Alpen ab, wobei alle 144 Passagiere und 6 Crewmitglieder ums Leben kamen. Unter den Opfern waren deutsche, spanische und türkische Staatsbürger sowie eine deutsche Schulklasse auf der Rückreise nach einem Austausch. Man bemüht sich noch um die Bergung des Wracks in der Nähe des entlegenen Ski-Örtchens Barcelonette an der italienischen Grenze, und die Berichterstattung hat ebenfalls einen Gang zugelegt.

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Da es sich um eine große Tragödie handelt, ist ein gewisses Maß an Berichterstattung zu erwarten. Flugzeugabstürze sind immerhin entsetzlich. Sie erinnern uns Menschen daran, dass es für uns eigentlich unnatürlich ist zu fliegen; da ist es kein Wunder, wenn es uns besonders verstört, wenn etwas schiefgeht. Vielleicht ist das auch der Grund, warum die Medien so versessen darauf sind, darüber zu berichten—wie dieser Artikel zeigt, ist auch VICE da keine Ausnahme. Dennoch, die Live-Ticker, die Arbeitsstunden, die auf Kosten anderer Themen auf diese Geschichte verwendet werden (ein Muster, das wir letztes Jahr bei anderen großen Flugzeugunglücken gesehen haben), und die Vorherrschaft dieser Story auf sozialen Netzwerken fühlen sich manchmal an wie eine Art des Gaffens. Da der Grunde für den Absturz momentan noch nicht geklärt ist und sich die Überreste in kaum zugänglichem Terrain befinden, wird die Berichterstattung vermutlich noch eine Weile so weitergehen und uns dazu zwingen, uns zu fragen, warum wir alle so eine krankhafte Obsession mit dem Flugzeugabsturz-Gaffen haben.

Die offensichtliche Antwort für die momentane Situation ist, dass wir durch ein besonders tödliches Flugjahr schon dazu konditioniert sind, auf tödliche Flugzeugabstürze zu achten. Es gab da das Verschwinden von MH470 vor einem Jahr, den Abschuss von MH17, den Absturz des Air-Algérie-Flugs 5017 letzten Juli und den Absturz des AirAsia-Flugs 8501 im Dezember, und das waren nur vier der acht tödlichen Abstürze 2014. Insgesamt kosteten Unfälle gewerblicher Fluglinien 2014 mindestens 992 Menschen weltweit das Leben, die höchste Anzahl dokumentierter Todesfälle seit 2005.

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Doch auch wenn 2014 ein besonders tödliches Jahr war, zeigte die Berichterstattung nur, dass Fliegen sicherer ist denn je und dass Flugzeuge immer noch sehr viel sicherer sind als jedes andere Fortbewegungsmittel. Basierend auf den Statistiken von 2000 hätten wir 2014 bis zu 39 Abstürze mit Todesfällen erleben sollen (weniger als ein Viertel aller Flugunglücke haben Tote zur Folge). Die Tatsache, dass es acht solcher Unglücke gab, ist ein Beweis dafür, wie genau Fluglinien auf Sicherheit und Wartung achten—Privatflugzeuge sind definitiv weniger sicher. Selbst nach all diesen Tragödien liegt das Risiko, bei einem Flugzeugabsturz zu sterben, bei 1 zu 8.321 im Laufe eines ganzen Lebens (verglichen mit etwa 1 zu 723 für Todesfälle bei Fußgängerunfällen oder 1 zu 119 für versehentliche Vergiftung). Tode in Autos und auf Motorrädern sind pro Fahrt 100 bzw. 3.000 Mal wahrscheinlicher.

Es gibt auch schon ein paar Berichte über den Absturz in den französischen Alpen, die an Panikmache grenzen, wo behauptet wird, es habe vielleicht deutliche Warnsignale gegeben oder es existieren endemische Probleme mit Airbus-Maschinen des Typs A320. Doch diese Flugzeuge—selbst das 24 Jahre alte Modell, das abgestürzt ist—gehören zu den automatisiertesten und sichersten Maschinen im Flugverkehr. Weltweit sind etwa 5.600 von ihnen im Dienst, 2014 transportierten sie mehr als eine Milliarde Menschen (wenn man die Typen A319 und A321 mitzählt), und seit ihrem ersten Einsatz 1988 waren diese extrem beliebten Flugzeuge in nur 12 tödliche Unfälle verwickelt (sowie in eine gewisse Anzahl nicht-tödlicher Abstürze, wie beim Wunder vom Hudson 2009). Das bringt den A320 laut Boeing-Sicherheitsexperten auf bemerkenswerte 0,14 Unfälle pro 1 Million Flüge.

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Obwohl wir wissen, dass es keine anhaltenden Sicherheitsprobleme gibt, schenken wir Flugzeugtoden zweifellos mehr Aufmerksamkeit als verbreiteteren und tödlicheren Tragödien. Laut einer Google-Trends-Analyse berichteten die Medien 2014 ganze 43 Prozent mehr über die 992 gewerblichen Flugzeugtode als über alle 1,24 Millionen Verkehrsunfälle, die in diesem Zeitraum auf der Erde passierten. Das überrascht natürlich kaum. Ein großer Grund hierfür ist die Gebundenheit der Nachrichtenquellen an Einschaltquoten und Umsatz. Die Zuschauerzahlen von CNN stiegen laut Nielsen Ratings während der Berichterstattung über MH370 zur Primetime um 68 Prozent, was sie vermutlich in ihrer Entscheidung bestärkte, die Story obsessiv zu verfolgen. Dem Absturz waren zum Höhepunkt täglich 1 Millionen Tweets gewidmet. Die 17 von der BBC veröffentlichten Beiträge brachten ihr den höchsten Traffic seit dem Tsunami 2011 in Japan. Geschichten über Flugzeugabstürze sind so attraktiv, dass National Geographic vor Kurzem eine Serie entwickelt hat, die Air Crash Investigation heißt und diese Woche zum ersten Mal ausgestrahlt wird. Bei Spiegel.tv gibt es online den Kanal Mayday.

Doch woher kommt diese exzessive Nachfrage nach Berichterstattung über Flugzeugabstürze? Mehrere Faktoren scheinen im Spiel zu sein. Ein Teil davon ist der allgemeinen Katastrophenbesessenheit geschuldet, von der Eric Wilson, Professor an der Wake Forest University und Autor von Everyone Loves a Good Train Wreck: Why We Can't Look Away, sagt, sie entstehe aus sowohl voyeuristischen wie empathischen Impulsen:

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„Eine Fixierung auf Katastrophenberichte bringt das Schlimmste sowie das Beste in uns zum Vorschein—einerseits bekommen wir einen Kick, andererseits aber Mitgefühl für Leidende und ein tieferes Verständnis für die Bedeutung von Leiden und Tod", sagte Wilson VICE. „Ich denke auch, dass wir wahrscheinlich Erleichterung verspüren, wenn wir Katastrophenberichterstattung sehen. Wir sind erleichtert, dass diese schreckliche Sache nicht uns passiert ist."

Wilson erklärte weiter, Flugzeuge würden vermutlich besonders zum Gaffen einladen, weil sie so groß seien und wir sie mit cinematischen Bildern in Verbindung brächten.

„Anders als Autounfälle töten diese Abstürze meist Hunderte von Menschen auf einmal", sagte er. „[Außerdem] stellen wir uns vor, selbst so einen Absturz zu erleben—wenn es ihnen passieren kann, dann kann es auch uns passieren. Die meisten von uns können sich nicht auf diese Art vorstellen, in einem Krieg zu sterben, denn die meisten von uns haben noch nie in einem Krieg gekämpft."

Zusätzlich zum Spektakel verleihen die Sicherheit des Flugverkehrs und die Seltenheit großer Unfälle ( die dann Kurznamen und Gedenktafeln erhalten) diesen Geschichten etwas „Mann beißt Hund"-artiges. Kollisionen in der Luft (die nur 10 Prozent aller tödlichen Flugzeugunfälle ausmachen) schwimmen besonders auf dieser Welle mit. Und wenn dazu an der Story noch etwas Mysteriöses dran ist, wie bei MH370 oder Air-France-Flug 447 im Jahr 2009, dann bleiben die Geschichten viel länger in den Nachrichten, da neue Hinweise Stück für Stück ans Licht kommen und die Berichterstattung jedes Mal neu starten.

Aufmerksamkeit auf diese seltenen und eindrücklichen Ereignisse zu lenken, spielt verbreiteten Neurosen in die Hände. In den USA leiden laut einer Angststudie der Chapman University von 2014 etwa 43 Prozent aller Menschen an einer milden Flugangst (sowohl weil es sich dabei um FLIEGEN handelt, als auch weil wir nicht so viel Kontrolle haben wie etwa am Steuer eines Autos) und 9 Prozent haben große Angst oder weigern sich zu fliegen. Wie bei jeder guten krankhaften Obsession gibt es für diese Paranoia eine App, Am I Going Down?. Damit lässt sich in dieser verbreiteten Angst schwelgen, indem man die Wahrscheinlichkeit prüft, ob der eigene aktuelle Flug abstürzt.

All dies—das Gaffen, die Größe und der Anblick von Flugzeugabstürzen, der „Mann beißt Hund"-Effekt und unsere kollektiven Flugneurosen—ergeben zusammen ein wirksames Rezept für Medienübersättigung. Zum Glück scheint diese kulturelle Obsession das Vorkommen von Flugangst nicht zu verschlimmern; sie bleibt über Jahrzehnte und Kulturen hinweg relativ gleich. Doch diese konstante Berichterstattung kann für unsere allgemeineren Ängste und unser kollektives geistiges Wohlbefinden nicht gut sein—und es ist definitiv nicht gut für das Wohlergehen der Betroffenen, wenn Tragödien in den Augen der Zeugen zu Spektakeln werden.