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Liebe, Lust und Laster auf dem Land

Schweizer Landjugendliche über Pornos, Homosexualität und ihr Frauenbild

Wir haben eine Aufklärungsstunde bei 14- und 15-Jährigen im Zürcher Umland besucht und mit den Jugendlichen über ihre Erfahrungen und Meinungen diskutiert.
Foto von Pixabay

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Wie lebt, liebt und vögelt die ländliche Schweiz? Wie kommt sie mit Sexualität und Geschlechterrollen klar? In unserer Reihe "Liebe, Lust und Laster auf dem Land" versuchen wir, diese Fragen zu beantworten.

Vorurteile sind das Copy-Paste der gesellschaftlichen Zusammenhänge—sie lassen sich ohne grossen Aufwand auf jeden Menschen anwenden, sind aber nur selten genau genug für ein differenziertes Resultat. Doch was so bequem ist, wird natürlich trotz dieser Ungenauigkeit gerne gebraucht. Und so unterstellt die Schweizer Landbevölkerung den Städtern oft, nicht einmal den Unterschied zwischen einer Kuh und einem Pferd zu kennen und zudem trotz dieser biologischen Bildungslücke total überheblich zu sein. In der Stadt gelten Landbewohner handkehrum oft als hinterwäldlerisch—nicht umsonst würden Menschen, die sich entfalten wollen, zu ihnen in die Stadt ziehen.

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Wie so oft, haben aber auch solche Vorurteile, trotz ihrer ungenauen Copy-Paste-Kultur, einen wahren Kern. Der Politologe Claude Longchamp, Direktor des Meinungsforschungsinstituts gfs.bern, bezeichnete in einem Artikel von swissinfo.ch etwa die verschiedenen Weltansichten der Stadt- und Landbewohner als "den bedeutensten politischen Konflikt der Schweiz". Laut Bundesamt für Statistik gehört etwa ein Viertel der Schweiz den ruralen, also ländlichen, Gebieten an.

Doch nicht nur bei Städtern und Landbewohnern greifen solche Vorurteile. Ganz ähnlich sehen diese bei Jungen und Alten aus. Die Jungen seien fortschrittlich, liberal und weltoffen, die Alten konservativ, voreingenommen und auf sich selbst fixiert. Die Jungen akzeptierten Homosexualität, Gleichberechtigung und freie Liebe eher, während die Alten an ihren festen Rollenbildern festhingen. Kurzum: Die Jungen seien die Zukunft, die Alten die Vergangenheit.

Ich war in einem 5.300-Seelen-Dörfchen im Kanton Zürich, um einen kleinen Einblick zu bekommen, wie es tatsächlich um die Lebenswelt der Jungen auf dem Land steht. Dort habe ich eine zweite Sekundarstufe mit 14- und 15-Jährigen Jugendlichen während ihrem Aufklärungsunterricht besucht und mit ihnen über Homosexuelle, Transgender und die Rolle der Frau in der heutigen Gesellschaft diskutiert. Die Namen der Teenager im Text sind geändert.

Das Thema des Aufklärungsunterrichtes ist "das erste Mal". Um ihre bereits gemachten Erfahrungen zu teilen, müssen die Schüler auf Zetteln festhalten, was sie von diesen magischen 30 Sekunden schon gehört haben und was sie sich darunter vorstellen. "Netflix and chill" und "Blowjob" schaffen es dabei nicht nur einmal auf die Tafel.

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Einige beschämte Blicke und verlegene Kicherer später schauen wir uns einen Film an, in dem Leute von besoffenen One-Night-Stands, schnellen Solarium-Ficks und homosexuellen Zärtlichkeiten berichten. Die Folge: Verwirrte Blicke (vor allem seitens der Jungs), als ein 18-jähriger Junge seine Erfahrungen bei seinem ersten Mal mit den Worten "mit einem Mann" beendete. Meine Neugier auf die anschliessenden Diskussionsrunden, bei denen ich Mädchen und Jungs separat befragen würde, steigt.

Der Aufklärungsunterricht wird von der Klassenlehrerin durchgeführt. Ich frage mich, ob das nicht zu Hemmungen auf Seiten der Schüler führen kann. Doch zumindest die Mädchen versichern mir, dass sie es gut fänden, den Unterricht mit ihrer vertrauten Lehrerin durchzuführen. Die Knaben hingegen würden einen Profi auf diesem Gebiet bevorzugen (zwar fiel einige Male das Wort Pornodarstellerin, doch am Schluss konnten sie sich auf "so einen offiziellen Typ, der von Schule zu Schule geht" einigen).

Bei persönlichen Themen wie der Menstruation werden die Klassen getrennt unterrichtet, ansonsten bleiben die Geschlechter während des Aufklärungsunterrichtes gemischt. Auch hier frage ich mich, ob die gemischte Klassenkonstellation keine Hemmungen zur Folge hat, über peinliche Themen zu reden. Doch fast alle Schüler sagen, sie seien offen und würden sich deshalb nicht scheuen, das Eis zu brechen. Die Mädchen seien sogar auf die Jungs angewiesen: "Sie machen immer einen blöden Kommentar, wir müssen alle lachen und können dann frei reden." Aber eben nur fast alle sind dieser Auffassung: "Ich getraue mich zwar zu reden, aber ich habe immer Angst, dass das jemand aufnimmt und per WhatsApp verschickt", verrät Jan.

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Auch wenn alle Jugendlichen wissen, dass es einen Aufklärungsunterricht geben wird, konnte sich anscheinend keiner von ihnen so richtig etwas darunter vorstellen. "Es wird einem zwar gesagt, was Sex ist, aber nicht, wie er richtig gemacht wird", kritisiert ein Junge den Unterricht. "Dafür kannst du ja Pornos schauen", rät ihm ein Klassenkamerad. Die Mädchen halten das jedoch gar nicht für nötig: "Schlussendlich macht jeder seine eigenen Erfahrungen und dann findet man schon heraus, wie es funktioniert", erklärt eines von ihnen.

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Ich werde neugierig und möchte ein wenig mehr über ihre Erfahrungen herausfinden. Jungs sowie Mädchen sagen, dass praktisch jeder aus der Runde schon mal einen Pornofilm gesehen habe. Im Unterricht wurde dieses Thema jedoch nie behandelt. Der Wunsch, diesen Bereich ein wenig genauer unter die Lupe zu nehmen, scheint eher bei den Jungs als bei den Mädchen vorhanden zu sein.

Auf die Frage, ob sie wegen der frei zugänglichen Pornografie das Gefühl haben, übersexualisiert zu sein, reagieren Mädchen und Jungs verschieden. Die Mädchen finden die Übersexualisierung der Jugend ein bisschen extrem. "Ich finde, man sollte darauf achten, dass nicht jeder Pornos schauen kann. Eine Altersbegrenzung einführen. Ab zehn Jahren oder so", meint eines von ihnen. Die Knaben hingegen sehen darin kein Problem. "Solange keine nackten Frauen in einem Bünzlirestaurant im Appenzell rumlaufen, ist alles noch gut", sagt etwa Jan.

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"Aber Pornos zu schauen ist schon irgendwie schwul", wirft Dario plötzlich ein. "Wieso schwul?", will ich wissen. "Weil da Mann und Frau dabei sind." Ich bin verwirrt. Die Verwirrung wird nicht unbedingt kleiner, als Marco Dario zu Hilfe kommt und mir erklärt, dass bei regulären Pornos immer Frau und Mann mitmachen und man deshalb zwingend auch einem Mann beim Sex zuschaut—was eben schwul sei.

Das Thema Homosexualität wurde im Rahmen des Aufklärungsunterrichtes angeschnitten. Ein Homosexueller hat die Klasse besucht und während einer Lektion versucht, mit den Vorurteilen gegenüber anderen sexuellen Ausrichtungen aufzuräumen—vergeblich, wie es scheint. Während die Mädchen diese Erfahrung wichtig und homosexuelle Männer "echt cool" finden, stösst der Mann bei den Jungs grösstenteils auf Ablehnung.

Foto von Andrea | Flickr | CC BY-SA 2.0

"Bei mir ist Homosexualität kein Thema, deshalb interessiert es mich einfach nicht", erklärt einer von ihnen. "Sie haben uns nicht mal gefragt, ob wir das wirklich wollen. Wir hätten doch wenigstens abstimmen können", stimmt ihm Marco zu und Dario fügt an: "Schlussendlich hörte sowieso niemand zu, er wurde nur ausgelacht."

Ich bin verwundert. Zwar handelt es sich um pubertierende 14-Jährige, aber eine solche Feindseligkeit überrascht mich dennoch. Ich hake also nach, ob es in ihrem Umfeld homosexuelle Personen gibt und wie sie mit diesen umgehen. Und tatsächlich: Es gebe einen schwulen Jungen, wie sie mir verraten.

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"Mit dem kann ich aber nichts anfangen", kommt mir auf Anhieb von Michael entgegen. "Ist es denn normal auf das gleiche Geschlecht zu stehen?", frage ich ihn. "Solche Leute sollte man ausschaffen", kam die Antwort aus einer anderen Ecke. "Der benimmt sich wie eine echte Schwuchtel", tönt es aus der Richtung von Marco. "Was genau stört euch an Homosexuellen?", will ich genauer wissen. "Wenn ich nicht weiss, dass der Typ schwul ist, ist das halt so. Aber wenn man es ihm richtig ansieht und er sich in der Öffentlichkeit so präsentiert, habe ich ein Problem damit", antwortet mir Michael. "Könntest du mit einem Schwulen befreundet sein, wenn man es ihm nicht ansehen würde?", hake ich weiter nach. "Nein. Solange er mir nichts macht, lasse ich ihn in Ruhe, aber wir könnten keine Freunde sein", antwortet Michael entschieden und fügt kurzerhand noch hinzu: "Aber gegen Lesben habe ich nichts."

Und wie sieht es aus mit Bisexuellen? Können die sich nicht entscheiden oder ist das in Ordnung? "Die finde ich am oberkomischsten", äussert sich Jan. "Kann ja sein, dass man keine Freundin findet und deswegen sein Glück bei Männern versucht", gibt sich Dario etwas verständnisvoller. "Ich glaube, das ist auch recht schwul", meint Marco. Keine weiteren Fragen.

Ich ahne bereits, was bei der Frage nach Transgender-Personen auf mich zukommen wird: "Nein, nein, nein, das geht gar nicht. Stell dir vor, du willst mit ihr ficken und plötzlich ist da ein Dödel", meldet sich Michael wieder zu Wort. Vielleicht sei er ja operiert, werfe ich ein. Michael bleibt hart: "Aber trotzdem mega grusig." Jan denkt schon einen Schritt weiter, hat aber trotzdem seine Bedenken: "Ich finde es komischer, wenn eine Frau ein Mann werden möchte als umgekehrt. Männer sind von Natur aus stärker, das kann gar nicht gehen."

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Um wieder zu einem Thema zurückzukommen, das wohl etwas näher an der Lebenswelt der Teenager liegt, spreche ich die Rolle der Frau in der Gesellschaft an. "Wie sieht es aus, Jungs. Würdet ihr freiwillig zu Hause bleiben und den Haushalt machen, während eure Frau die Brötchen verdient?", frage ich munter in die Runde. "Aber Sie, das wäre voll unfair. Die Frau verdient ja weniger", wehrt sich Jan und fügt hinzu: "Und arbeiten ist schon cooler, da muss man die weniger schlimme Arbeit machen." Ich muss ein bisschen schmunzeln. Aber wo er recht hat, hat er eben recht. "Es können doch einfach beide arbeiten", entgegnet ihm Marco.

"Wollt ihr überhaupt heiraten und Kinder kriegen?", wende ich mich an die Runde. Fast jeder der zehn Jungs und jedes der sieben Mädchen antwortet mit Ja auf die Frage nach der Hochzeit—aber nicht alle von ihnen möchten selbst Kinder kriegen. "Es kommt darauf an. Wenn man zum Beispiel gerne Motorrad fährt, ist das Risiko gross, einen Unfall zu haben und dann muss das Kind alleine aufwachsen", äussert etwa Marco seine Bedenken. Ich finde das einen sehr noblen Gedanken. Motorradfahren ist in der Tat sehr gefährlich.

Auch bezüglich dem Alter, mit dem sie ihr erstes Kind bekommen wollen, sind sich die Geschlechter uneinig: Während die Mädchen bereits mit Mitte 20 ein Kind haben möchten, fühlen sich Jungs erst mit Anfang 30 dazu bereit, ihre Samen in einen echten Menschen zu verwandeln. "Was würdet ihr tun, wenn ihr schon jetzt schwanger werden würdet?", frage ich die Mädchen. Lediglich eines der sieben Mädchen würde das Kind zur Welt bringen—das gleiche Mädchen hat bereits einen Freund und hofft, in ihm die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben. Alle anderen würden "es nicht bekommen".

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In diesem Moment läutet die Schulglocke und signalisiert mir sowie den Teenagern, dass die Verhör-Stunde vorbei ist. Obwohl die Jungs mit allen möglichen Fragen versuchen, das Gespräch so weit wie möglich in die Länge zu ziehen ("Muss eine Prostituierte mit jedem schlafen oder kann sie auch ablehnen?") um die kommende Französischstunde zu verkürzen, muss ich sie an dieser Stelle in die nächste Stunde schicken.

Als ich mich auf den Weg zu dieser Schulklasse machte, wusste ich nicht, was mich dort erwarten würde. Ich rechnete mit einer Bande pubertierender Bälger, die meine Klischees der Landjugend erfüllen würden. Doch ich wurde angenehm überrascht—grösstenteils jedenfalls. Vor allem die Mädchen haben sich überraschend offen gezeigt. Leider gab es aber auch entmutigende Momente.

In Sachen Genderbewusstsein scheinen die Jungs den Mädchen meilenweit hinterher zu hinken. Natürlich kann ich nicht abschliessend einschätzen, wie viele der Antworten von Gruppendynamiken beeinflusst werden oder unreflektierte Äusserungen von Pubertierenden sind. Und doch zeigen etwa die Antworten zu ihrem homosexuellen Bekannten, wie schwierig es in einem ländlichen Umfeld sein kann, eine sexuelle Identität zu entwickeln. Ich frage mich auch, wie sinnvoll es ist, einen Aufklärungsunterricht erst im Alter von 14 und 15 Jahren anzusetzen, wenn Sex schon seit längerem ein Bestandteil der Lebensrealität ist. Ich hoffe trotzdem, der Aufklärungsunterricht regt die Jugendlichen dazu an, sich zumindest differenziertere Gedanken über Sexualität zu machen—und so dem Vorurteil gegenüber Jungen etwas gerechter zu werden.

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