Drei Geistliche knien vor einem Altar
Jonas H. vertraute einem Priester, der jahrelang Ministranten missbrauchte | Symbolfoto: imago/imagebroker

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Missbrauch in der Kirche

Hier erzählt ein Ex-Ministrant, wie er Penis-Fotos bei seinem Priester fand

Nach dessen Verhaftung fragt er sich: Warum habe ich so lange geschwiegen? Aus der Kirche austreten will er aber nicht.

In Deutschland wurden zwischen 1946 und 2014 über 3.600 Kinder und Jugendliche von katholischen Priestern, Diakonen und Ordensangehörigen sexuell missbraucht. Die Männer zwangen die Minderjährigen, sich auszuziehen, sie anzufassen oder mit ihnen Sex zu haben. Diese unglaubliche Ziffer steht in einer Studie, die die Deutsche Bischofskonferenz im September veröffentlicht hat. Die tatsächliche Zahl bleibt aber unklar. Denn oft berichten Betroffene, Zeuginnen und Zeugen erst Jahre später, was sie erlebt haben.

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Jonas H. ist heute 26. Mit 13 fand er Fotos, die fünf Jahre später die Ermittlungen gegen einen katholischen Priester angestoßen haben. Gegenüber VICE erzählt er, warum er als junger Ministrant diesem Mann blind vertraut hat und wie es ist, plötzlich in einen Missbrauchsskandal verwickelt zu sein. Seinen echten Namen möchte er hier nicht lesen.

"Am Ende haben viele Leute aus meinem Umfeld gesagt, sie hätten es geahnt. Ich nicht. Ich war 13, als ich Fotos von Penissen im Aktenschrank eines Priesters fand, zu dem ich als Ministrant aufschaute. Und ich wurde gerade 18, als ich das erste Mal mit meinen Eltern darüber sprach und alles rauskam. Heute, mit 26, frage ich mich noch immer, wie mein junges Ich so lange über diese Fotos schweigen konnte. Warum ich das Verhalten des Priesters gegenüber uns Jungen nicht besser deuten konnte. Es hat lange gedauert, diese Geschichte als Teil meines Lebens zu akzeptieren. Doch das Bild von Herrn P., wie ich ihn hier nennen werde, ist für mich erst nach und nach klarer geworden.

Laut Gerichtsurteil missbrauchte er mindestens sechs minderjährige Ministranten, 150 Mal. In seiner Wohnung fand man Kinderpornos. Ich will darüber sprechen, was dieser Missbrauch mit mir gemacht hat, obwohl ich ihm selbst nicht zum Opfer fiel. Und warum ich trotzdem nie aus der Kirche austreten werde.

Seine großen Hände strahlten etwas Beschützendes aus

Ich bin ein religiöser Mensch, meine Eltern haben mich dazu erzogen. So wie andere Väter ihre Söhne am Wochenende mit auf den Sportplatz nehmen und im Fußballverein anmelden, nahm mein Vater mich und meinen älteren Bruder mit in die Kirche und meldete uns als Messdiener an. Ich saß viele Stunden auf den Bänken des Doms, kniete, stand auf, wiederholte die Choräle, bis ich die Abläufe und Rituale auswendig kannte. Die Kirche wurde für mich zu einem vertrauten Ort. Ich hatte unter den Ministranten Freunde und eine Aufgabe in jedem Gottesdienst. Erst als Jugendlicher begann ich wirklich, über Gott nachzudenken, und wurde gläubig.


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Ich lernte Herrn P. als junger Messdiener kennen. Ein großer, hagerer Mann, der in seinem bodenlangen, weißen Gewand die Flure abschritt. Er unterrichtete an der katholischen Privatschule, zu der ich von der fünften Klasse an ging, und leitete unsere Ministrantengruppe. Ich erinnere mich gut an seine großen Hände, sie strahlten für mich immer etwas Starkes und Beschützendes aus. Und doch reichte ich ihm meine Hand nie gerne, seine fleischigen Finger fühlten sich irgendwie zu weich an. Trotzdem mochte ich ihn irgendwie. Er lästerte mit mir über Lehrer und gab mir in Gesprächen das Gefühl, mich ernst zu nehmen. Ich wollte ihm gefallen. Das lag aber auch daran, dass er alle, die er nicht mochte, vor den anderen bloßstellte. Davor hatte ich Angst.

Herr P. übte viel Druck auf uns aus. Er führte eine Strichliste und notierte, wenn Leute beim Gottesdienst oder in der Ministrantenstunde fehlten. Also kam ich immer und engagierte mich in der Gruppe. Ich wollte in der Rangordnung aufsteigen.

Wir waren wie eine kleine Ordensgemeinschaft, er war unser Chef

Herr P. veranstaltete jedes Jahr Freizeiten für uns, manchmal waren wir fast 30 Leute. Er organisierte Ritterspiele, bei denen wir Ministranten uns in Kettenhemden und Helme zwängten und Rituale abhielten. Aus der Ernennung der Oberministranten machte er eine kleine Papstwahl mit Zeremonie. Wir waren wie eine kleine Ordensgemeinschaft und er war unser Chef. Er liebte diese Macht über uns, das konnte man spüren. Bei der Freizeit über Christi Himmelfahrt waren wir in einem Kloster mit Schwimmbad. Nach dem Schwimmen sollten wir vor ihm unsere Badehosen ausziehen, damit er das Chlor auswaschen konnte. Niemand hat sich geweigert. Also standen wir nackt am Beckenrand und schauten beschämt zur Seite.

Einmal im Jahr fragte Herr P. zwei der Oberministranten, ob sie mit ihm in sein Haus nach Spanien kommen wollten. Wie ich erst nach seiner Verhaftung von meinen Eltern erfuhr, hatte der Priester in unserer Gemeinde den Spitznamen 'Der Öler'. Weil er die Ministranten in Spanien mit Sonnenöl eingerieben haben soll. Danach nahmen ein paar Eltern ihre Kinder aus der Ministrantengruppe, andere glaubten seinen Erklärungen. Irgendwann geriet das in Vergessenheit.

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Als Kind hatte ich darin nichts Böses gesehen. Oder es einfach so akzeptiert. Ich ahnte nie, wozu dieser Mann fähig war. Ich vertraute Herrn P. Auch nach Ostern 2006.

Ich verdrängte diese Bilder aus meinem Kopf

Mit fünf anderen Ministranten ging ich zu einer Ferienfreizeit kurz vor Ostern. Für uns war das cool, wir übernachteten gemeinsam in den Räumen der Gemeinde. Herr P. verbrachte die Nächte zu Hause. Eines Abends, als er zum Gebet mit seinen Ordensbrüdern verschwand, nutzten wir das aus und spielten unten im Haus mit der Carrera-Bahn. Sie stand in einem Raum, zu dem nur Herr P. die Schlüssel hatte. Hinter der Rennbahn stand ein Aktenschrank mit verschlossenen Ordnern. Wir waren 13 und neugierig, also brachen wir das Schloss eines Ordners auf. Was wir fanden, ekelte uns an. Farbfotos von schlaffen, haarigen Penissen. Von Männern, vielleicht von Jugendlichen. Ich konnte das nicht zuordnen. Vielleicht ist das Teil einer medizinischen Studie, dachte ich. Mein Freund und ich sprachen nur kurz darüber, wir beschlossen zu schweigen. Schließlich hatten wir etwas Verbotenes getan.

Wenig später war der Aktenschrank verschwunden. Und ich versuchte, die Bilder aus meinem Kopf zu verdrängen. Das alles schien so surreal. Ich fühlte mich irgendwie schuldig.

Die Bilder tauchten erst wieder auf, als im April 2010 das Telefon bei meinen Eltern klingelte. Mein Kumpel von damals war dran. Wir hatten kaum mehr Kontakt. In den Medien wurde zu dieser Zeit fast täglich über den massenhaften sexuellen Missbrauch von Kindern durch katholische Priester berichtet. Der Kumpel sagte mir, er habe mit seinen Eltern über die Fotos von damals gesprochen, seine Mutter sei zur Polizei gegangen. Ich dachte nur: scheiße.

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Nach dem Gespräch saß ich stundenlang mit meinen Eltern auf dem Sofa und heulte. Ich war damals fast 18, hatte eigentlich anderes im Kopf. Mittlerweile Oberministrant und noch immer in engem Kontakt mit Herrn P. Ich glaubte fest an seine Unschuld und dachte, dass wir das Leben dieses Mannes zerstören würden. Sexueller Missbrauch ist ein schwerer Vorwurf. Wenn er nichts getan hat, werden die Leute ihn trotzdem verachten, ihn auf der Straße anspucken. Und er wird mich dafür hassen. Heute weiß ich: Das war naiv.

Als die Polizei ihn in Handschellen abführte, wurde mir schlecht. Vor seinen Ordensbrüdern leugnete er noch alles. Doch das Videomaterial, auf dem er von ihnen erkannt wurde, war eindeutig. Tatbestand: sexueller Missbrauch in 150 Fällen. Er hatte das Leben von mindestens sechs Ministranten zerstört. Manche von ihnen kenne ich. Ich selbst war zwar nicht vom sexuellen Missbrauch betroffen, aber Herr P. missbrauchte mein Vertrauen.

Es gab keinen offenen Diskurs über Sexualität mit uns Jugendlichen

Für ihn folgten Jahre in Haft. Für mich Vorwürfe, Albträume, Depressionen. Gedanken schwirrten durch meinen Kopf: In den fünf Jahren meines Schweigens hätte er womöglich einfach weitermachen können – auch wenn das laut polizeilichen Ermittlungen nicht so war. Ich habe einige Zeit geglaubt, dazu beigetragen zu haben, dass ein machtbesessener Mann weiterhin im Schutz des Priesteramts seelenruhig seine sexuelle Neigung auslebt. Er tauchte nachts in meinen Träumen auf: Ich stand dann tatenlos daneben, während er einen anderen Ministranten zum Sex zwang.

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In der Schule, damals in der elften Klasse, stritt ich mich mit einem Lehrer, der im Religionsunterricht mit uns über den Missbrauch sprechen sollte. Stattdessen sprach er seine Vermutungen laut aus: Er glaube nicht, dass keiner der Ordensbrüder etwas gewusst hätte. Das machte mich sehr wütend. Ich hatte das Gefühl, er wollte uns manipulieren. Ich kannte doch diese Männer, sie alle hatten Herrn P. vertraut. Bis dahin hatte sich nie jemand für mein Engagement als Ministrant interessiert. Plötzlich kam nach dem Unterricht ein Mitschüler auf mich zu und fragte, ob mir nicht der Arsch weh tue. Ob ich nach all dem überhaupt noch sitzen könne. Das war die Hölle.

Es gab keinen offenen Diskurs über Sexualität mit uns Jugendlichen. Das Wort 'schwul' war ein Schimpfwort an meiner Schule. Wenn man nicht 'hetero' aussah, wurde man belächelt. Niemand hat uns erklärt: Was ist Missbrauch? Was ist Pädophilie? Was ist überhaupt genau passiert? Niemand hat klargestellt: Pädophilie ist nicht gleich sexueller Missbrauch. Es ging immer nur darum, was die Kirche von all dem hält. In dieser Zeit konnte ich niemandem mehr vertrauen. Ich hatte das Gefühl, plötzlich nicht mehr zu wissen, was hinter der Fassade meiner Mitschülerinnen und Mitschüler steckt.

Ich will heute Kindern und Jugendlichen helfen

Trotzdem blieb ich Leiter der Ministrantengruppe und setzte mich für die anderen Jungen ein. Wir sprachen viel über das, was passiert war. Es kam eine Therapeutin mit Therapiehund, sie spielte mit den Jüngeren, machte Gruppenübungen, bei denen sie persönliche Grenzen ziehen sollten. Es ging um Nähe und Distanz.

Aus der Kirche auszutreten, kommt für mich trotz allem nicht in Frage. Ich kann verstehen, dass sich Menschen gerade wegen der vielen Missbrauchsskandale von der Kirche abwenden. Aber ich denke, das ändert nichts. Die Kirche kann nur so gut sein, wie die Menschen, die sich aktiv an ihr beteiligen. Wer geht, überlässt die Kirche sich selbst und trägt nichts bei. An meinem aktuellen Studienort in Ostdeutschland muss ich mich oft für meine Religion rechtfertigen: Nur weil ich katholisch bin, teile ich nicht alle Ansichten dieser Kirche.

Ich will heute Kindern und Jugendlichen helfen. Dafür habe ich nach meinem kulturwissenschaftlichen Studium mit Erziehungswissenschaften angefangen. Ich arbeite in einer Wohngruppe für Kinder, die momentan nicht bei ihren Eltern leben können. Manche sind alkoholsüchtig oder psychisch krank. Ich helfe diesen Kindern, einigermaßen normal aufzuwachsen. Das werde ich nicht für immer machen können. Aber gerade ist mir das wichtig. Und es hat mir dabei geholfen, meine Erfahrung zu akzeptieren."

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