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​Die tragische Geschichte des Videospiels, das niemand wollte

,Assassin's Creed: Syndicate' ist solide, aber hat völlig an Substanz und Identität verloren—sogar Hardcore-Fans wenden sich jetzt ab.
Screenshot vom Autor (c) 'Assassin's Creed: Syndicate'

Ich habe die letzten Jahre fast über jedes Assassin's Creed-Spiel geschrieben und bin ein—manchmal mehr und manchmal weniger—begeisterter Fan der Reihe. Letzte Woche kam ohne viel Marketing und mit für Ubisoft ungewohnt zurückhaltenden Werbetrommeln AC: Syndicate raus und die kritischen Reaktionen sind zwar oberflächlich positiv, aber eines wurde erschreckend klar: Es sieht so aus, als ob sich fast keiner mehr für diesen Titel begeistern lässt.

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Für meinen Erasmus-Auslandsaufenthalt vor Jahren entschied ich mich für die Toskana und lernte dort einen Iren kennen, der sich wegen Assassin's Creed II, das im Florenz der Renaissance spielt, spezifisch entschieden hatte, seine Semester in dieser Region Italiens zu verbringen. Am Wochenende traf ich ihn wieder und er meinte nebenbei, dass er völlig das Interesse an AC verloren hätte.

Auch nachdem ich den Leap of Faith meiner Zwillingsschwester im neuen AC: Syndicate auf Facebook hochgeladen hatte, kamen Kommentare von ehemaligen Fans, die inzwischen bei der bloßen Erwähnung des Namens gähnen und einfach nichts mehr mit diesem durchgekauten Titel anfangen können. An diesem ganzen enttäuschten Abwenden der Fanbase könnte zum Großteil das Beenden der Desmond-Storyline im dritten Teil schuld sein. Der mysteriöse, in der Gegenwart verwurzelte Erzählrahmen wurde damals einfach verworfen und durch eine stark minimierte, selbstreferenzielle „Du bist sowas wie ein Game-Designer, der quasi in vergangenen Leben surfen kann"-Erzählung ersetzt.

Da ging einiges an Spannung und Momentum verloren. Der Lost-Effekt, Teil einer Gruppe zu sein, die einem Geheimnis auf der Spur ist, war weg. Außerdem wurden die historischen Protagonisten mit ihren immer gleichen Kapuzen recht austauschbar und immer uninteressanter.

Assassin's Creed: Syndicate. Alle Screenshots vom Autor

Aber ein Studio kann klarerweise ihre goldene Gans, diesen Namen mit so gigantisch viel Wiedererkennungs- und Werbewert, nicht einfach schlachten. So wird aber mit jedem weiteren Teil von Assassin's Creed, auch wenn er noch so gut sein sollte, die Fanbase kleiner und uninteressierter—so wie es bei mir auch jetzt schon öfter zu Sinnkrisen kommt, wenn ich zum tausendsten Mal die AC-Karte nach irgendwelchen Sammelobjekten abgrase.

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Ich bin die letzten Wochen auch wieder zum Vorgängerteil Assassin's Creed: Unity zurückgekehrt und habe dieses erfolgstechnische Debakel für Ubisoft erneut Revue passieren lassen. Ich persönlich finde das Spiel herausragend, aber die technischen Gebrechen beim Release—gesichtslose Horrorgestalten und viele Gameplay-Mechaniken funktionierten nicht richtig—und die Implementierung des Micro-Transactions wurden von der Community bis heute nicht verziehen.

Viele Gaming-Plattformen haben wegen AC: Unity, dem Spiel über die Französische Revolution, trotz des enormen Detail-Reichtums und der gigantischen Liebe in der Darstellung dieser Epoche die ganze AC-Reihe als Desaster abgeschrieben.

Mich erinnerte Unity an meinen allerersten Laptop, einen Gericom Blockbuster—ja, dieses Sonderangebot beim Hofer hieß tatsächlich so. Mein Punkt ist, dieses Gerät war ausgestattet mit einer beeindruckenden Grafikkarte, superschnellen Prozessoren und allgemeiner seinem Namen alle Ehre machenden Rechenleistung.

Das Problem war, er überhitzte meistens nach zwei Stunden und schaltete sich dann einfach ab. Wie dieses letztjährige Spiel war er einfach zu vollgestopft mit zu hohen Ambitionen, sodass das System einfach kollabieren musste.

In dieser Hinsicht ist AC: Syndicate—nicht zu verwechseln mit dem Ego-Shooter Syndicate aus 2012—viel besser aufgebaut: Man wird nicht sofort mit irrsinnig vielen Missionen, Kisten und anderem Londoner Sammelzeug erschlagen wie bei Unity. Man lässt sich von Technikprofis wie Graham Bell beim Morden aushelfen, trifft auf Karl Marx, alte AC: Black Flag-Bekannte und begeht mit Charles Darwin auch direkt mal Firmensabotage.

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AC: Syndicate ist sympathisch und spannend aufgebaut und ich bevorzuge es—wahrscheinlich aufgrund meiner Protagonsiten-Müdigkeit in Videospielen—die weibliche Spielfigur Evie zu steuern, mit ihrem geil-kitschigen viktorianischen Schwertgehstock.

Die Spieleentwickler haben wohl die Gamergate-Aufschreie (zumindest ein bisschen) beherzt und Frauen sind nun nicht nur als Hauptfigur, sondern auch beim gegnerischen Fußvolk vertreten. Ein nicht ganz ausgegorener Schritt in Richtung Feminismus oder Gleichstellung, den sicher wieder ein Haufen Idioten verdammen werden, in einer zyklischen Fortsetzung der nicht enden wollenden und sich gegenseitig bedingenden Dummheit des Internets.

Alles in allem ist AC: Syndicate ein komplett solides Videospiel—bis auf die Crap-Schnellschussmechanik! Das tragische Problem ist wohl eher, dass sogar Assassin's Creed selbst mittlerweile nicht mehr wirklich Assassin's Creed sein will. Charles Dickens, den ich gerade um seine London-Kontakte angeschnorrt habe, hätte es nicht besser formulieren können.

MOTHERBOARD: Mit Far Cry Primal geht Ubisoft sogar in prähistorische Zeiten zurück—ein Spiel, das vielleicht sogar ZU gut werden könnte.

AC: Syndicate klaut bei den ganz Großen. Die Action-Sequenzen erinnern an Uncharted, dann ist da dieses GTA-artige Pferdewagensystem um schneller durch die Stadt zu kommen und als dann tatsächlich ein Grappling Hook eingeführt wird, sind es nicht nur kleine Parallelen beim Combat, sondern wir spielen eigentlich schon beinahe eines der Batman-Arkham-Spiele.

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Die ganze Geschichte oder besser gesagt visuelle Stilistik von Tesla bis Steampunk haben wir auch schon in Dishonored perfektioniert gesehen und vor allem gibt diese Richtung AC: Syndicate eine ziemlich verfremdete Identität.

Sicher sind verrückte Maschinen und Industrialisierung ein cooler Background für ein Videospiel, aber es ist nicht mehr Assassin's Creed, das in Kreuzzügen angefangen hat und die Typen noch einen Finger hergeben mussten um die versteckten Klingen tragen zu können.

Es ist wohl an der Zeit, die Reihe zur Ruhe zu betten und mit einem Hochmoment langsam ausklingen zu lassen. Ich meine, wohin könnte die Reise der heuspringenden Stadtkletterer noch gehen? Der Zweite Weltkrieg ist von der Videospielindustrie dermaßen durchgelutscht, die 60er Jahre weisen trotz hohem Präsidentenermordungspotential nicht mehr genug historisch undokumentierte Schlupflöcher auf und die Steinzeit ist von Ubisoft schon mit Far Cry Primal abgedeckt.

Eine modernisierte Version von Assassin's Creed ist mit Watch Dogs schon ziemlich verkackt worden—auch hier bitte keine Sequels mehr. Aber hey, ich werde AC: Syndicate sicher durchspielen, mich an viel Atmosphäre und cooler geschichts-interpretativen Finesse erfreuen, und den ganzen Müll sammeln. Die teils plumpen Dialoge vergebe ich auch noch einmal. Ob ich beim nächsten Teil nicht auch wie mein irischer Freund reagieren werde, kann ich aber inzwischen nicht mehr ausschließen.

Josef auf Twitter: @theZeffo