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Ich wurde dafür bezahlt, vor dem Apple Store zu campen

Hunderte Leute zelteten auf dem Berliner Ku'damm, um an ein neues iPhone zu kommen—damit sich andere damit eine goldene Nase verdienen können.
Foto: Grey Hutton

Auf der Suche nach einer Möglichkeit, Geld zu verdienen, stöberte ich in Jobbörsen bei Facebook. Ein bisschen Zeit habe ich schließlich noch, bevor die Verpflichtungen, die ich mir nach dem Schulabschluss vorgenommen habe, anfangen. Diese Zeit versuchte ich ganz klassisch mit Gelegenheitsjobs und Freundetreffen zu füllen. Ich stieß auf eine Anzeige von einer jungen Frau, die dafür warb, für ihren Freund drei Tage vor dem Apple Store zu übernachten. Wir würden für diese Aktion jeweils 250 Euro bekommen und müssten dort lediglich den Platz in der Schlange sichern, um am Erscheinungstag des neuen iPhones zwei Handys kaufen zu können.

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Lange überlegen musste ich nicht. Relativ schnell war klar, dass ich die nächste Woche mit zwei Freunden vor dem Berliner Apple Store am Kurfürstendamm verbringen würde. Vollgepackt mit Campingausrüstung kamen wir an—etwas ahnungslos, was uns in den kommenden Tagen erwarten würde. Unser Zelt war das zweite, das aufgeschlagen wurde. Wir kamen uns schon sehr verrückt vor, wie wir in unserer Heimatstadt unser Zuhause für die nächsten Tage einrichteten. Unsere neuen Nachbarn waren also Marc O'Polo, Barbour, Tesla und das Kempinski Hotel. Wir gingen fest davon aus, uns bis zum großen Tag ausschließlich über die technische Innovationen des „großartigen" neuen iPhone 6S unterhalten zu können. Schließlich würden außer uns nur Freaks und Apple-Fanatiker vor dem Laden zelten. Dachten wir.

Warum zelten Menschen für ein neues Telefon immer noch tagelang auf der Straße?

Nach und nach lernten wir unsere Mitcamper kennen und merkten schnell, dass die Wenigsten das iPhone für sich kaufen wollten. Die meisten waren wie wir in organisierten Gruppen dafür bezahlt worden, das iPhone zu kaufen. Weil das Smartphone in Russland erst später auf den Markt kommt, decken sich gewiefte Einkäufer in Deutschland mit dem neuen Modell ein, um es dann in ihrer Heimat teurer weiterzuverkaufen. Wir hörten, dass man die Handys für den dreifachen Preis los wird. Man kann pro Person im Apple Store aber nur zwei iPhones kaufen, weshalb viele Leute, so wie wir auch, angeheuert werden.

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Alle Fotos: Grey Hutton

Größtenteils waren wir also umgeben von Russen und Ukrainern. Wir lernten einander kennen und tauschten uns aus, sowohl politisch als auch kulturell. Vom iPhone redete fast keiner. Durch die spannenden Gespräche und die absurde Situation, auf dem Ku'damm zu zelten, entstand eine ganz eigene Stimmung, die einem Festival glich. Irgendwie wuchsen wir alle zusammen. Oft besuchten uns Freunde, weil jeder mal sehen wollte, was wir da eigentlich taten. Wir kuschelten uns ins Zelt, lasen uns vor und unterhielten uns viel. Ein Freund kam gar nicht mehr weg und entschied sich spontan, bei uns zu bleiben. Auch er fand am Ende jemanden, der ihn für seinen etwas anderen Camping-Urlaub bezahlte.

Abends feierten wir große Sauforgien mit den Russen. Sie waren begeistert, wie viel Wodka wir trinken konnten. „You drink like Russians", sagten sie. Die politischen Gespräche um diese Zeit wurden durch den hohen Pegel immer lustiger und wir begannen, uns musikalisch auszutauschen. Die deutschen Hits unter Russen waren „99 Luftballons" und „Eins, zwei Polizei" von Mo-Do. Es war lustig zu entdecken, was in Russland an deutscher oder europäischer Musik bekannt ist.

Auf die Toilette gingen wir entweder nebenan im Kempinski Hotel oder gegenüber im Hard Rock Cafe. Die Mitarbeiter waren meist freundlich und verstanden überraschenderweise unsere Lage. Vielleicht hatten sie aber auch einfach zuviel Angst vor Leuten, die für ein Telefon auf der Straße schlafen. Mit Essen und Trinken hatten wir uns vorher zur Genüge eingedeckt. Trotzdem liefen wir gelegentlich zum Zoo, um uns Currywurst und Pommes zu kaufen.

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Im Kontrast zu der lockeren Stimmung innerhalb des Camps standen die Reaktionen der Passanten. Diese gingen von belustigten Blicken über verwirrte Fragen bis zu beleidigenden Äußerungen. Ein Fahrradfahrer rief uns im Vorbeifahren zu, wir seien doch alle krank. Viele hielten uns auch für Flüchtlinge. Ein Autofahrer wollte uns „nach Hause" schicken und zeigte uns den Mittelfinger. Wir hatten das Gefühl, dass die natürliche Zurückhaltung und Höflichkeit, die man seinen Mitmenschen gegenüber hat, verschwand. Die vorbeigehenden Menschen hatten keine Hemmungen, uns in unseren Gesprächen zu unterbrechen, um etwas zu fragen oder uns sogar zu beleidigen.

Irgendwie konnten wir es den Meisten aber auch nicht verdenken. Wir fanden die Situation ja selbst sehr absurd. Warum dürfen wir, die das Geld für ein iPhone haben, im öffentlichen Raum in einem Zelt leben, während Flüchtlinge und Obdachlose täglich vertrieben werden?

Am Donnerstagabend spitzten sich die sowieso schon seltsamen Verhältnisse dann zu. Wir mussten unsere Zelte abbauen und wurden in abgesperrte Bereiche gebracht, um die Schlange für den nächsten Tag zu organisieren. In diesen Gehegen wurden wir zu zwanzigst eingepfercht. Um auf Toilette zu gehen, mussten wir uns bei unserem Wärter abmelden und hatten auch nur eine halbe Stunde „Ausgang". Manchmal schlichen wir uns trotzdem raus, um mit unseren neuen russischen Freunden Wodka zu trinken und uns zu unterhalten. Trotz (oder gerade wegen) der Einschränkung war es der lustigste Abend der Woche. Alle kamen sich nochmal näher und beschlossen, sich gegenseitig in ihren Heimatländern zu besuchen. Wir waren wie eine große glückliche Familie.

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Am Freitag wurden wir dann nach einer sehr kurzen und kalten Nacht geweckt, um uns in die Schlange zu stellen. Alle waren noch sehr müde, verkatert und lustlos. Ein bisschen hatten wir nach all der Wartezeit erwartet, dass alle dem Ersten, der mit einem neuen iPhone den Laden verlassen würde, applaudieren würden—vielleicht würde von irgendwoher auch etwas Konfetti fliegen. Vielleicht lag es an der Übermüdung, den Strapazen der vergangenen Tage oder einfach an der Tatsache, dass viele der Anwesenden die Smartphones gar nicht für sich selbst wollten, aber: Irgendwie war es uns allen egal. Wir alle waren eher auf die Organisation unserer Geschäfte konzentriert. Vor den Augen aller Anwesenden zählte unser Auftraggeber die zahlreichen 500 Euro Scheine und verteilte sie an alle seine Angestellten, die für ihn Handys kaufen sollten. Auch uns wurde ganz offensichtlich das Geld für die iPhones in die Hand gedrückt und nochmal erklärt, was genau wir kaufen sollten.

Viele Beteiligte bekamen den organisierten Handel mit den iPhones mit, ignorierten ihn aber. Der eigentliche Kauf war dann ziemlich unspektakulär und die kostenlosen Turnbeutel erschienen uns viel interessanter als das Handy. Auch die Übergabe der Handys an unseren Auftraggeber störte keinen. Wir wurden nur gebeten, den Ausgang mit unseren Geschäften nicht zu versperren. Wir überlieferten die brandneuen iPhones und bekamen unsere 250 Euro Lohn für die vergangenen Tage. Im Nachhinein erfuhren wir zwar, dass andere Auftraggeber ihren Phantomkäufern deutlich mehr zahlten, trotzdem waren wir froh über das Geld. Außerdem war die Woche verdammt lustig gewesen.

Motherboard: Dresdener Rassisten bepöbeln campende iPhone-Fans, die sie für Refugees halten.

Am Ende ging es den Wenigsten der vermeintlichen Apple-Hysteriker, die tagelang vor dem Geschäft ausharrten, um die Marke oder das Handy. Während Anfangs vor allem das Geld interessant war, stellten sich die Beziehungen, die man mit den anderen Wartenden knüpfte, als tatsächlicher Anreiz dafür heraus, nicht vorzeitig aufzugeben und die Schlange zu verlassen. Für uns war die Zeit eher wie ein bezahlter Kurzurlaub: Wir werden die vielen Menschen, die wir kennengelernt haben auf jeden Fall vermissen und die Möglichkeit, mitten auf dem Ku'damm zu zelten, bekommt man ja auch nicht alle Tage.

Eine große Erkenntnis gab es am Schluss dann auch noch: Eine bessere Werbung als darbende iPhone-Fans, die nächtelang vor der Filiale campieren, könnte sich Apple wahrscheinlich gar nicht wünschen. Schließlich könnte man das Ganze leicht durch Wartelisten oder Reservierungen lösen.