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Sachsen, einig Nazi-Land? Bautzen zeigt, dass es nicht so einfach ist

Und deswegen ist das Ausgeh- und Alkoholverbot für jugendliche Flüchtlinge in Bautzen richtig.

Bautzen am Donnerstagabend | Foto: imago | Christian Ditsch

Am Tag nach dem Gewaltausbruch in der sächsischen Stadt Bautzen setzten zwei deutsche Redaktionen Tweets dazu ab. Zeitlich liegen zwischen den Tweets nur vier Minuten. Inhaltlich liegen die Tweets Lichtjahre voneinander entfernt:

Rechtsradikale veranstalten Hetzjagd auf #Flüchtlinge in #Bautzen https://t.co/ZCQFFkbYGp #Kaltland
— neues deutschland (@ndaktuell) 15. September 2016

— Junge Freiheit (@Junge_Freiheit)15. September 2016

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Das Verrückte ist, dass beide Sätze prinzipiell wahr sind. Die Hetzjagd auf Flüchtlinge gab es wirklich, es gibt ein Video davon. Aber dass Asylbewerber die Situation in gewisser Weise provoziert haben, ist nach Berichten auch nicht ganz von der Hand zu weisen. Die Diskrepanz liegt in der Betonung: Das linke Blatt Neues Deutschland und die rechte Junge Freiheit haben die Ausschreitungen in Sachsen so zusammengefasst, dass sie ihr Weltbild bestätigen.

Mittlerweile scheint relativ klar, was am Mittwochabend passiert ist: Eine Gruppe von 15 bis 20 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen geriet auf dem zentralen Kornmarkt in Streit mit einer sehr viel größeren Gruppe von mindestens 80 Männern und Frauen, "die zum Großteil dem politisch rechten Spektrum" angehörten und außerdem "eventbetont" unterwegs gewesen seien, wie Spiegel Online die konfuse Aussage des Bautzener Polizeichefs Uwe Kilz zitiert.

Offenbar hatten sowohl die Flüchtlinge als auch die Rechten getrunken und bereits angefangen, sich zu beschimpfen, als die Polizei eintraf. Dann warfen die Flüchtlinge wohl zuerst Flaschen auf ihre Gegner und dann auch auf die Polizisten, als die sie nach Hause schicken wollten. Den Moment nutzten die Rechten, um ihrerseits die Flüchtlinge anzugreifen und bis zu ihrem Heim zu jagen. Zwei der Flüchtlinge erlitten Schnittverletzungen, konnten aber erst nicht behandelt werden, weil der rechte Mob den gerufenen Krankenwagen angriff und mit Steinen bewarf.

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Das ist der grobe Ablauf, wie die Polizei ihn schildert. Die Berichte zweier Augenzeuginnen in der taz und in der Tagesschau bestätigen ihn im Wesentlichen.

Für Empörung sorgt jetzt vor allem die Entscheidung der Stadt Bautzen, vier "Rädelsführer" der Flüchtlinge an andere Standorte zu verlegen und den übrigen rund 30 unbegleiteten Minderjährigen fürs Erste ein Alkoholverbot und eine Ausgangssperre zu erteilen. "Die hässlichen 30er lassen grüßen", kommentiert jemand auf Twitter die Entscheidung. Ein anderer fordert, gleich die gesamte sächsische Polizei vom Verfassungsschutz beobachten zu lassen, und der Blogger Sascha Lobo zitiert einen anonymen Polizeifunktionär, der ihm gesteckt habe, dass "ein Drittel" der sächsischen Polizisten "Nazis" seien. Die Geschichte steht: Neonazis gehen in Sachsen auf Flüchtlingsjagd, und die Polizei und der Bürgermeister bestrafen die Flüchtlinge.

Ganz so einfach ist es aber eben nicht, auch wenn die erste Hälfte vom Satz stimmt: Es spricht einiges dafür, dass der Mittwochabend keine spontane Eskalation war, sondern dass die Rechten das genau so geplant hatten. In Facebook-Gruppen hatten sich Rechte und Neonazis aus der ganzen Umgebung verabredet, um den Kornmarkt "zurückzuerobern". "Das wirkte organisiert und wurde immer bedrohlicher", beschreibt eine Augenzeugin die Situation kurz vor der Schlägerei. Am nächsten Tag wurde die Aktion in rechten Kreisen dann auch als voller Erfolg gewertet, Lutz Bachmann lobte die "mutigen Bürger", die sich den "pöbelnden Asylbetrügern" entgegengestellt hätten.

Allerdings haben sich die rechten Schläger ihre Opfer auch nicht völlig wahllos ausgesucht. In einem Interview mit dem ZDF-Morgenmagazin erklärte der parteilose Bautzener Oberbürgermeister Alexander Ahrens, dass die halbstarken Flüchtlinge schon seit geraumer Zeit auf dem Kornmarkt Probleme bereiten. "Wir hatten seit Wochen verstärkt Meldungen von Bürgerinnen und Bürgern, die sich belästigt gefühlt haben durch diese Gruppe", erklärt der Bürgermeister. "Die haben rumgepöbelt, Leute beleidigt." Deshalb habe es schon vor Mittwoch die Überlegung gegeben, vier der jungen Männer zu verlegen. Dabei klingt Ahrens nicht unbedingt wie ein geifernder Rassist, sondern eher wie ein genervter Onkel, wenn er die Flüchtlinge als "16-, 17-jährige Kinder" bezeichnet, die sich eben ungern etwas sagen ließen.

Natürlich ist es widerlich, wenn sich ein Mob aus besorgten Bürgern und Neonazis daran macht, Flüchtlinge mit Gewalt zu vertreiben. Die Stadt muss jetzt sehr deutlich zeigen, dass es keinen Platz für rechtsradikale Selbstjustiz gibt. Aber es ist ebenso wahr, dass die Rechten auch deshalb so viele Menschen mobilisieren konnten, weil sie sich als Bewahrer von Sicherheit und Ordnung ausgeben und so auf eine gewisse Unterstützung der Bautzener Bevölkerung zählen konnten. Im Grunde konnten sich die Hetzer und Neonazis der Umgebung nichts Besseres wünschen als eine kleine Gruppe von gelangweilten jugendlichen Asylbewerbern, die sich den ganzen Sommer lang auf dem zentralen Platz der Stadt zum Trinken treffen und dann Passanten anpöbeln.

Vor dem Hintergrund ist ein kurzfristiges Ausgeh- und Alkoholverbot für die jungen Flüchtlinge vielleicht nicht als Strafe zu sehen, sondern als durchaus sinnvolle Schutz- und Deeskalationsmaßnahme—auch wenn es erstmal so aussieht, als würde man den Rechten die Straße überlassen. "Was ist das denn für ein Signal?", fragt die ZDF-Journalistin den OB streng zur Ausgangssperre. Aber vielleicht geht es dem Oberbürgermeister im Moment nicht so sehr um Signale an die gesamtdeutsche Öffentlichkeit, sondern darum, die Lage in seiner Stadt zu beruhigen und ernsthafte Verletzungen zu verhindern.

Genauso sollten die Medien jetzt nicht der Versuchung erliegen, Sachsen wieder einmal als braunen Sumpf zu stigmatisieren. Aktuell entstehen gerade zwei völlig verschiedene Narrative darüber, was in Bautzen los ist: "Neonazis gehen ungestraft auf Flüchtlingsjagd", gegen "Die Jungs haben uns vor diesen gefährlichen Pöblern beschützt". Eine Gesellschaft sollte zumindest versuchen, sich auf eine gemeinsame Version zu einigen. Gerade in einer so aufgeheizten Situation ist es deshalb wichtig, dass die Presse sich noch mehr Mühe gibt, ausgewogen zu berichten. Und wenn man erreichen will, dass die Bürger in Sachsen die Vergeltungsaktionen von Neonazis nicht mehr tolerieren, dann sollte man dem Bürgermeister von Bautzen zugestehen, gegen ein paar bekannte Störenfriede auch mal durchzugreifen.