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Wir sind die gute Hälfte der Schweiz – und müssen das bleiben

Jeder zweite Schweizer akzeptiert nach einer Umfrage ein Asylzentrum in seiner Nachbarschaft. Wie lange noch?
Foto: John Englart

Die ganze Schweiz redet über Flüchtlinge. Lassen wir die Hitzewelle aussen vor, wird kein anderes Thema momentan so konsequent durch die Medien gepeitscht. Meistens sind die Flüchtlinge dabei nicht die Helden der Geschichten, sondern werden zum Problem hochgeschrieben. Mal reisen sie zu oft ins Ausland, wenn sie von etwas Gebrauch machen, das der Staat ihnen anbietet. Mal werden sie für die Sicherheit der Bevölkerung—die natürlich oberste Priorität hat—präventiv von Spielplätzen verbannt. Mal protestieren Fremdenfeinde mindestens so dumm wie laut gegen geplante Asylzentren.

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Die Reaktionen darauf lassen selbstverständlich nicht auf sich warten. Die Kommentarspalten explodieren förmlich vor Fremdenhass. Egal ob in einem Artikel Arbeitslosigkeit, Bikini-Selfies oder der zu heisse Juli besprochen wird, Schuld an allen Problemen der Welt sind den Kommentaren nach die Flüchtlinge, die am besten alle gleich ausgeschafft gehören. Das geht so weit, dass sich Menschen auf Facebook-Seiten sogar wünschen, dass Flüchtlinge öffentlich verbrannt werden.

Manchen kommt dieser Hass ganz gelegen. Trotz—oder gerade wegen—dieser Stimmung ist sich zum Beispiels die SVP nicht zu schade, zum lokalen Widerstand gegen neue Asylzentren aufzurufen und auf ihrer Facebook-Seite mit einem einfachen Rückflugticket nach Eritrea die Hassspirale weiter nach oben zu treiben. Denn damit erreicht sie, was sie erreichen möchte: Die Kommentarspalten applaudieren und wollen bei den Wahlen im Oktober den Gutmenschen-Bundesrat stürzen.

Vieles deutet darauf hin, dass der Hass auf Flüchtlinge in die Mitte unserer Gesellschaft dringt. Bis heute.

Denn heute Morgen wurde eine schweizweite Umfrage der Zeitschrift L'Hebdo veröffentlicht, die zeigt, dass alles nicht ganz so schlimm ist wie befürchtet. Etwas mehr als jeder zweite Befragte findet ein Flüchtlingsheim in der Nachbarschaft okay. Zwei Drittel würden Flüchtlingen sogar Deutsch, Französisch oder Italienisch beibringen. Und fast so viele können sich vorstellen, mal für Flüchtlinge zu kochen oder mit ihnen ins Kino zu gehen. Das sind gute Nachrichten. Sie schenken Hoffnung. Sie zeigen, dass jene, die in der Öffentlichkeit so lautstark gegen Flüchtlinge hetzen, in der Minderheit sind—noch. Denn dreht man die Interpretation der Ergebnisse um, ist immerhin fast die Hälfte der Befragten gegen ein Asylzentrum in der Nachbarschaft.

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Zusätzlich wissen wir alle, dass zwischen Theorie und Praxis ein riesiger Graben klafft. Dieser Graben verfälscht auch Umfragen. Menschen tendieren dazu, jene Antwort anzugeben, die sie als gesellschaftlich richtig einschätzen. In der Realität handeln sie vielfach aber nicht nach diesen Massstäben. Eine Umfrage sagt also nur bedingt etwas darüber aus, wie Meschen wirklich handeln.

Das haben wir vor fünf Jahren schon einmal vor Augen geführt bekommen. Bei der Minarettinitative ist es den Islamgegnern gelungen, Muslime als das absolute Böse abzustempeln. Damals sagten Umfragen, dass die meisten Leute gegen die Initiative sind. Schlussendlich wurde sie trotzdem klar angenommen. Das liegt unter anderem daran, wie die Öffentlichkeit funktioniert.

Foto: Martin Abegglen | Flickr | CC BY-SA 2.0

Fakt war damals: In der Schweiz ragten ganze vier Minarette in den Himmel und die Muslime waren eine kleine Minderheit. Trotzdem haben es die Islamgegner geschafft, diese Minderheit zum Staatsfeind Nr. 1 zu erheben und so das Minarettverbot durchzupeitschen. Ihr Mittel dazu war ganz simpel: Das Mantra „Muslime sind die Bösen!" wiederholen und wiederholen und wiederholen. Nach der tausendsten Wiederholung in den Medien haben sie ihr Ziel erreicht und über die Öffentlichkeit eine persönliche Wahrheit geschaffen.

Dieses Mittel funktioniert auch heute noch. Nur sind heute nicht mehr die Muslime das Übel der Welt, sondern die Flüchtlinge. Mit jedem Bericht, der Flüchtlinge in einen negativen Kontext setzt, sie als Teil eines Problems sieht, wird das Mantra wiederholt. Die gute Nachricht dabei: Wir können etwas dagegen tun.

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Schon bei der Minarettinitiative haben wir nämlich zwei Fehler gemacht. Wir haben einerseits den Islamgegnern das Feld überlassen und andererseits zu wenig heftig auf ihren Bullshit reagiert. Die Initianten konnten ihr Mantra ungestört in den Medien und auf Facebook verbreiten. Ein grosser Teil der Berichte über Muslime war damals negativ gefärbt. Und wir haben kaum darauf reagiert. Heute müssen wir schauen, dass Flüchtlinge nicht in demselben Strudel der Negativpresse versinken. Dass sie nicht von rassistischen Facebook-Seiten erstickt werden. Und dass die SVP und andere Rechte nicht weiter ungestört hetzen können. Sonst ist es nur noch ein kurzer Weg bis die Mehrheit der Schweizer nicht für, sondern gegen Asylzentren ist.

Dafür reicht es aber nicht, bei einer Umfrage am richtigen Ort ein Kreuzchen zu setzen. Wir müssen persönlich aktiv werden. Sei es dadurch, dass wir öffentlich unsere Meinung sagen und dadurch das fremdenfeindliche Mantra durchbrechen. Dass wir uns für mehr Asylzentren einsetzen. Oder dadurch, dass wir Flüchtlinge in ihrem Alltag unterstützen, ihnen Deutsch beibringen, sie bei uns wohnen lassen oder einfach mal mit ihnen ins Kino gehen.

Sebastian auf Twitter: @nitesabes

VICE Schweiz auf Twitter: @ViceSwitzerland


Titelfoto: Takver | Flickr | CC BY-SA 2.0