Vierlinge als Babies, die dasselbe Outfit tragen
Alle Fotos: Jamie Valentino
Menschen

So ist es, als Vierling aufzuwachsen

"Wenn meine Brüder sich zu Halloween als Ninjas verkleideten, ging ich als Winnie Pooh."

Unsere vier Leben begannen 1994 in der Hauptstadt Kolumbiens Bogotá. Die Medien zelebrierten unsere Geburt, also die von David, Pablo, Lorenzo und meine, als sei sie ein Wunder. Es fühlt sich komisch an, für die eigene Geburt gelobt zu werden, aber die Zeitungen schrieben: "Die ersten Vierlinge in 30 Jahren geboren." Unsere Mutter überlebte, obwohl der Arzt andere Vorhersagen gemacht hatte. Er wollte zwei Embryonen abtreiben lassen. Ich weiß, dass ich einer davon gewesen wäre, weil ich zuerst geboren wurde. 

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Vierlinge – alles Jungs – als kleine Kinder, die sich an den Händen halten

Wir vor unserem Haus in Bogotá.

Meine Eltern haben keine familiäre Vorgeschichte mit Mehrlingsgeburten. Es gibt eine Chance von eins zu 700.000, Vierlinge zu gebären. Meine Mutter hat also ein seltenes Los gezogen. Sie wollte immer eine große Familie haben, also hat Gott ihr die auf einen Streich gegeben.

Als Kinder waren wir vier untrennbar. Fast so, wie Geiseln während eines Bankraubs unweigerlich zusammenwachsen. Für uns fühlte sich unser Alltag aber genauso an, wie der einer normalen Familie. Zweieiige Zwillinge teilen nicht mehr genetische Ähnlichkeit als normale Geschwister.  

Fotos aus unseren Kindertagen zeigen das Erziehungsgeheimnis unserer Mutter: ein Kindermädchen pro Kind dank billiger Arbeitskräfte. Unsere Mutter zog uns dieselben Klamotten an, um zu betonen, dass wir Vierlinge sind. Ich kämpfte dagegen an. Wenn meine Brüder sich zu Halloween als Ninjas verkleideten, ging ich als Winnie Pooh.

Vierlinge zu Halloween, drei von ihnen sind als Superhelden und einer als Winnie Pooh verkleidet

Halloween in Kolumbien. Die anderen wählten Superhelden, ich fand Winnie Pooh besser

Während unserer ersten Jahre in der Schule, nachdem wir nach Miami umgezogen waren, wurden meine Brüder und ich gezwungen, Englischunterricht zu nehmen. Ich weinte nachts deswegen. 

Vierlinge in Schuluniform.

Vor unserer Privatschule in Kolombien. Das Bildungssystem des Landes war einer der Gründe, warum meine Mütter uns in die Vereinigten Staaten gebracht hat

Als die Schule mich und meinen Bruder Lorenzo als "talentiert" bezeichnete, definierten wir uns als "die Schlauen". Meine Mutter bemühte sich, Pablo und David zu erklären, dass sie nicht weniger wert waren. "Jeder ist auf seine eigene Art und Weise schlau", sagte sie.

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"Aber manche von uns sind halt schlauer", entgegnete ich süffisant. Anders zu sein war gut, wenn es hieß, dass man schlauer ist. Ich verstand zu der Zeit noch nicht, wie verletzend Worte sein und wie sie am Selbstbewusstsein anderer nagen können.

Unser Leben veränderte sich, als ein Mann und seine Tochter Teil unserer Familie wurden. Meine Brüder akzeptierten sie sofort, aber für mich fühlte sich das wie Betrug an. Wir sollten doch zusammen gegen den Rest der Welt kämpfen. Wie konnten meine Brüder das nur vergessen? Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich alleine. 

Ich fing aber bald an, Videospiele mit Joelle, dem Mädchen, zu spielen. Meine Brüder mochten Halo, ich bevorzugte Die Sims. Joelle baute wunderschöne Häuser mit mir und beschwerte sich nicht, wenn ich mal etwas länger brauchte, um Klamotten oder Accessoires meiner Figuren auszusuchen. Es war das erste Mal, dass ich merkte, dass ich anders war als meine Brüder – auf eine Art, die als falsch galt. Obwohl wir alle natürlich unterschiedliche Charaktere hatten, schienen die meiner Brüder aufeinander abgestimmt. Meine Schwester wurde zu meiner Zuflucht. 

Als "die Vierlinge", wie gemeinsame Freunde uns nannten, wurden wir immer zu allem gemeinsam eingeladen. Aber meine Brüder und ich entfernten uns während unserer Teenagerzeit voneinander. Wir alle wollten eigenständig und mehr als ein Viertel sein. Wenn du nicht einmal mit deinem eigenen Namen angesprochen wirst, fühlt sich das nicht so gut an. 

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Vierlinge beim Abschlussball in Anzügen

Unser Abschlussball. Ich war der einzige, der nur Schwarz trug

In der Highschool bewarb ich mich an einer anderen Schule als meine Brüder beworben. So konnte ich endlich eine neue Identität annehmen. Auch wenn meine Mutter uns zu unserem Geburtstag vier einzelne Kuchen servierte, hatte ich ein Leben lang diesen besonderen Tag mit drei anderen teilen müssen. Ich war gierig darauf, etwas Eigenes zu haben. 

Ich ging auf die DASH, eine Schule, die sich auf die feinen Künste spezialisiert. Ich war mir gar nicht sicher, ob ich ein Künstler sein wollte. Aber ich wusste, dass ich anders war.

Ich lief in meiner neuen Schule umher, als sei ich in einem Zeugenschutzprogramm. Wochen vergingen, ohne dass mein Geheimnis jemals in Gesprächen aufkam. Anscheinend ist die Frage “Bist du ein Vierling?” nicht so gewöhnlich, wie ich angenommen hatte. Das Problem war nicht die Aufmerksamkeit, die man als Vierling bekam, sondern, dass man sie teilen musste.

Es dauerte nicht lange, da wurde ich ins Büro der Vizepräsidentin gerufen. Sie sagte mir, dass es ihr leid täte dass ich die Schule verlasse. Verwirrt sah ich meine Mutter an, die ebenfalls im Büro saß. "Wir reden darüber, wenn wir zu Hause sind", sagte sie, woraufhin ich eine Szene machte. 

Ich verließ die Schule und wusste, dass ich nicht wiederkommen würde. Meine Mutter fand, dass die unkonventionelle Art der Schule mich negativ beeinflussen könnte. Das machte mich wütend, aber ich musste gehorchen. 

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Vermutlich wollte sie, dass wir zu viert sein können. Ich hätte nie gedacht, dass das bis zur Oberstufe so bleiben würde. Tief in mir fühlte ich mich, als wolle sie nicht, dass meine Umgebung mich veränderte. 

Zu der Zeit wurden Sprüche wie "Das ist so schwul" und "Schwuchtel" achtlos benutzt. Jeder, der irgendwie anders war, wurde so bezeichnet. Augenblicklich verwarf ich jegliche Kleidung, Interessen oder Aktivitäten, die mich so kennzeichnen könnten. Ich schaffte es überraschenderweise, als Hetero zu leben. Ich kopierte alles, was meine Brüder taten, und sah sie als meine Ratgeber für ein heterosexuelles Leben an. Im letzten Jahr unser Schulzeit waren wir Präsident und Vizepräsident des Jahrgangs sowie Präsident und Vizepräsident der Schülervertretung. Unser Wahlslogan war: "Wählt die Vierlinge!"

Kurz vor unserem Abschluss waren meine drei Brüder in einen Autounfall verwickelt. Sie kamen mit leichten Verletzungen davon. In derselben Nacht lag ich betrunken und breit an einem Strand. Meine Mutter rief mich um zwei Uhr morgens an, aber ich ging nicht dran, bis ich am nächsten Tag ein Selfie aus dem Krankenhaus geschickt bekam. 

Wir gingen alle an unterschiedliche Universitäten in verschiedenen Städten. Einer der "Dummen" der Grundschule wurde in Harvard angenommen. Ich entschied mich nach ausführlicher Recherche, mich überall in New York zu bewerben. Als ich mich endlich sicher genug fühlte, lud ich meine Brüder zu einem Abendessen ein und gestand ihnen, dass ich schwul war. Sie reagierten darauf mit bedingungsloser Liebe - genauso wie meine Mutter. Meine Unsicherheit darüber, ein schwarzes Schaf in einer solch homogenen Herde zu sein, hatte verhindert, dass ich mich früher outen konnte. 

Neue Freunde stellen manchmal Fragen über unsere Kindheit und hoffen auf Antworten wie aus einer Sitcom. Für mich ist es komisch, jemanden kennenzulernen, der keine Geschwister hat. Du musstest nie dein Lieblingsessen verstecken? Hattest du niemanden, mit dem du deine Hausaufgaben machen konntest? Mittlerweile bekomme ich auch die Frage gestellt: "Bist du der Einzige, der schwul ist?" Dann antwortete ich lächelnd mit "Ja!"

Die Pandemie hat uns alle wieder zusammengebracht. Das erste Mal, seit wir Jugendliche waren, haben wir wieder alle unter einem Dach gelebt. Wir hatten Gelegenheit, uns neu kennenzulernen. So wie damals, als wir noch Kinder waren. 

Vierlinge mit vier Geburtstagskuchen

Unser Geburtstag während der Pandemie: unsere Mutter hielt die Tradition mit den vier Geburtstagskuchen aufrecht

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