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Sex

Warum Opfer während sexueller Übergriffe ‚erstarren’

Es ist eine weit verbreitete Annahme, dass Menschen, die vergewaltigt werden, auf nur zwei Arten reagieren: Kampf oder Flucht. Bei mir war das definitiv anders.

Symbolfoto: Jason Lander | Flickr | CC BY 2.0

Als ich vergewaltigt wurde, habe ich mich nicht gewehrt.

Ich sagte ihm immer wieder, dass ich keinen Sex möchte, aber als er begann, trotzdem meine Hose und meine Unterwäsche auszuziehen, schien mein Körper einfach zu versteinern. Eine Million Gedanken gingen mir durch den Kopf und kamen zu einem plötzlichen Halt, ich begann, innerlich abzudriften, an einen sicheren Ort—, während mein Körper steif und still auf der Rückbank seines Autos lag.

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Für alle, die nie vergewaltigt worden sind, klingt es vielleicht komisch—ja, sogar unglaubwürdig—, dass Menschen in so einer Situation nicht alles in ihrer Macht stehende tun, um sich zu wehren oder abzuhauen. Immerhin sind wir doch alle von Natur aus mit einem ‚Fight-or-Flight'-Instinkt ausgestattet, der in bedrohlichen Situationen greifen sollte, nicht wahr? Wenn man diesen Gedanken weiter spinnt, dann kann man sich offensichtlich auch nicht wirklich bedroht gefühlt haben, wenn man keines von beidem tut—und im Kontext einer Vergewaltigung heißt das dann, dass die Person das Geschehene eigentlich selber wollte.

Das ist eine beängstigend weit verbreitete Vorstellung—eine Vorstellung, die sich auch im Rechtssystem hartnäckig hält und die selbst einige Überlebende sexueller Gewalt vertreten.

Es ist aber auch eine Vorstellung, die komplett falsch ist. Neben Kämpfen und Fliehen gibt es nämlich noch eine weitere natürliche Reaktion auf hoch stressige und bedrohliche Situationen, über die nur weniger geredet wird: Erstarren und geistiger Rückzug.

„Das Erstarren ist in der Tat eine normale Reaktion auf eine Bedrohung, die wir bei Säugetieren beobachten können—nicht nur beim Menschen", sagt Dr. Martin Antony, Psychologieprofessor an der Ryerson University und Autor von The Anti-Anxiety Workbook, gegenüber VICE. „Manche würden sogar argumentieren, dass man überhaupt nicht von ‚Fight-or-Flight' sprechen sollte. Es sollte viel mehr ‚Fight-Flight-or-Freezing' heißen."

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Freezing, also das Erstarren, hält in der Regel nur für einen kurzen Moment an und geschieht in vielen Situationen, in denen ein gewisses Element von Angst oder Panik eine Rolle spielt, erklärte Antony. Wenn man bei der Arbeit aus Nervosität den Mund nicht aufbekommt oder die richtigen Worte findet, dann ist das auch dem Erstarrungsinstinkt zuzuschreiben. Der natürliche Reflex soll vermutlich den Zweck erfüllen, dass man sich der Situation anpasst und eine Entscheidung trifft, die nicht impulsiv ist.

Karlene Moore, Beraterin und Anwältin beim Toronto Rape Crisis Center, bot eine ähnliche Erklärung an und ergänzte außerdem, dass Vergewaltigungsmythen—zum Beispiel, dass Vergewaltiger Fremde sind, die einen in einer dunklen Seitenstraße überfallen, obwohl es in Wirklichkeit fast immer Bekannte der Opfer sind—auch zu der Versteinerungsreaktion beitragen können.

„Wir versuchen, das Geschehen zu verarbeiten. Wir versuchen, herauszufinden, was gerade eigentlich passiert, weil das, was uns über sexuelle Gewalt, sexuelle Übergriffe [und] Vergewaltigungen beigebracht wurde, nicht das ist, was gerade geschieht. Wir spüren aber auch, dass das, was gerade passiert, sehr falsch ist", sagte Moore.

Lily*, heute 23, wurde mit 14 von ihrem damaligen Freund mehrmals sexuell angegangen. Sie erinnert sich noch deutlich daran, wie ihr Körper bei mindestens einem der Übergriffe einfach versteinerte—er hatte sie unter Druck gesetzt, Oralsex bei ihr ausüben zu dürfen. Sie hatte dann schließlich unter der Bedingung nachgegeben, dass sie ihre Unterwäsche anbehalten darf.

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„Alles, woran ich mich erinnern kann, ist die Angst und der Schmerz", sagte Lily. „Mein Körper war einfach steif und ich wollte schreien. Ich konnte den Schrei in meiner Kehle spüren, aber ich schämte mich zu sehr davor, ihm zu zeigen, dass mir nicht gefiel, was er dort machte. Ich lag also nur da und hoffte, dass es bald vorbei ist."

Genau wie ich erinnert sie sich auch daran, wie ihre Gedanken während des Übergriffs abdrifteten—in ihrem Fall waren es die Mathehausaufgaben.

„Ich dachte mir nur: ‚Oh, ich muss bald nach Hause. Ich muss meine Mathehausaufgaben machen.' Das ist schon komisch, weil ich Mathe eigentlich gehasst habe—ich weiß also nicht, warum sich mein Hirn genau das ausgesucht hat", erzählte sie.

Der mentale Rückzug während eines Übergriffs könne als ein weiterer Verteidigungsmechanismus funktionieren, wenn jemand, nach dem ersten Erstarren, denkt, dass er oder sie nicht aus der bedrohlichen Situation kommt, so Antony.

„Man kommt vielleicht zu dem Schluss, dass man sich nur noch mehr in Gefahr bringt, wenn man sich zu sehr wehrt. Der Angreifer könnte darauf gewalttätig reagieren oder man kommt vielleicht zu dem Schluss, dass es kein Entkommen gibt", erklärte er. „Und in diesem Moment, wenn man körperlich nicht entkommen kann, kann eine mentale Flucht einen vor einigen Schmerzen bewahren, die man vielleicht in der Situation empfindet."

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Eine andere Person, Chris*, berichtete ebenfalls von einer mentalen Flucht, als sie vor fünf Jahren von jemandem vergewaltigt wurden, den sie seit ihrer Kindheit kannten. Ihr Angreifer, der fünf Jahre älter war, hatte sie zu einer Party in einem Haus gefahren, wo sie noch nie zuvor gewesen waren. Als er auf sie zukam, hatte Chris das Gefühl, dass ihnen keine andere Wahl bleiben würde, als es einfach geschehen zu lassen. Ohne den Fahrer hätten sie keine Möglichkeit gehabt, nach Hause zukommen.

„Ich habe mich in gewisser Weise innerlich abgetrennt. Ich habe einfach an gar nichts gedacht. Ich erinnere mich nur noch daran, dass ich nach Hause wollte … Ich war nicht wirklich anwesend", sagte Chris. „Etwas passierte, aber für die meiste Zeit, dachte ich einfach nicht nach. Ich war komplett von der Situation getrennt."

Ich konnte keine Zahlen dazu finden, wie viele Menschen erstarren, wenn sie sexuell angegriffen werden, und ich bin mir auch nicht sicher, ob solche Informationen überhaupt existieren. Antony erzählte mir, dass bislang kaum Forschung über den Erstarrungs-Effekt betrieben wurden—geschweige denn das Erstarren in bestimmten Situationen. Aber in diesem Fall würde ich sagen, dass die Erfahrungen von Menschen, die sexuelle Übergriffe erlebt haben, aussagekräftig genug ist.

Erstarren und ein mentaler Rückzug sind Schutzmaßnahmen—keine Einwilligung!

*Namen geändert.