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Reisen

Sonic Zones: Magadan Time Part 4

Kolyma, „die echte Zone“, ist das gefürchtetste sowjetische GULAG-Lager, verhasst wegen der Schwerstarbeit in einer der klimatisch am unwirtlichsten Gegenden der Welt.

Inhalt: DEADEND PLACE „KOLYMA“, SOUND OF MAGADAN, ON THE TRAIL OF „THEREMIN“

DEADEND PLACE „KOLYMA“

Die Region Magadan bietet einen weiteren, sogar weltweit bekannten Namen—Kolyma. Dem postsowjetischen Ohr bzw. der dazugehörigen Person wird es eiskalt beim Erklingen dieses Namens.

Kolyma meint „die echte Zone“ im russischen Sinne des Wortes. Es handelt sich dabei um das gefürchtetste sowjetische GULAG-Lager, verhasst wegen der Schwerstarbeit in einer der klimatisch am unwirtlichsten Gegenden der Welt. Sie vereint das Schlimmste vom Schlimmsten der Präklimawandel-Ära: harte Winter bis -50 Grad Celsius mit eiskalten Winden und über den Rest des Jahres verteilte lange Regenzeiten, die riesige Sumpfgebiete zur Folge haben. Darunter erstreckt sich der Permafrostboden, es wächst kaum etwas, und wenn doch ein Samen wider allen Erwartungen zu sprießen beginnt, ist das Ergebnis den Umständen entsprechend. Von hier kam kaum jemand zurück, ob politisch verfolgt oder kriminell. Magadan selbst wurde 1929 als Zwangsarbeitslager-Siedlung „gegründet“. Ein netter Anfang. Aber es ging um die Erschließung und Gewinnung von Gold und anderen Bodenschätzen am Kolyma-Fluss, den Transport der Rohstoffe zum Magadaner Hafen und die dazu notwendigen Arbeitskräfte. Jemand musste her, um anzupacken. Freiwillige gab es nicht. „Magadan ist wie eine Granitplatte, die dich ordentlich erwischt hat. Die Menschen dagegen sind optimistisch, obwohl hier die kältesten Winter weltweit herrschen.“

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SOUND OF MAGADAN

„An sich müsste man fliehen von hier, aber die meisten bleiben, und das ist für alle ein Rätsel“, meinen die Mitglieder des einzigen auffindbaren Elektronik-Projekts aus Magadan, ein Duo namens "Moonaura“. Sie wollen aber bewusst inkognito bleiben und keine Gesichter zeigen. Das ist Bedingung, als sie dem Gespräch mit uns einwilligen. Der Track „Nuclear“ von Moonaura wird Fans des Ambient-Subgenres „Isolationismus“ ansprechen—hier dominieren intensive Atmosphären, anciente Drones und cineastische Loops. Ihr Sound, der damit auch den Sound von Magadan definiert, ist „eine Mischung aus dem Heulen der Wölfe, dem Wind in verlassenen Häusern, den Vibrationen riesiger Dieseltanker, dem Quietschen verrosteter Docks und Ankerketten, dem eisigen Atem des Meeres, den Straßen, die ins Niemandsland des Kontinents führen.“ Die sogenannten Clubs der Magadan-Region sind eher erbärmlich. „Es ist besser, sie schneller zu vergessen, als sie zu besuchen. Dort laufen entweder russische Schlager, Sowjet-Pop-Ära-Crooner oder billige House Tunes. Alternativen gibt es keine …“, schließen die Mitglieder von Moonaura ab.

ON THE TRAIL OF „THEREMIN“

Umso erstaunlicher erscheint es, als wir in Magadan auf die Spur der Kultfigur elektronischer Musik, Leon Theremin (russ.: Lev Sergejewitsch Termen), stoßen. Der in den späten 1920er- in Europa und frühen 1930er-Jahren in Amerika wie ein Popstar gefeierte sowjetische Physiker, Musiker, Erfinder und Performer wurde von den Sowjets beim Besuch seiner Heimat Ende der 30er-Jahre direkt in das Straflager „Kolyma“ nach Magadan verfrachtet—als Häftling natürlich. Leon Theremin war der Erfinder des weltweit ersten kommerziell erzeugten elektronischen Musikinstrumentes, des nach ihm benannten "Theremin". Er markierte damit den Anfang elektronischer Musik und einen neuen Trend technologiebasierter Kunst.Er war höchstwahrscheinlich auch für den sowjetischen Geheimdienst im Ausland tätig. Den „Theremin“-Prototyp hatte er bereits 1919 als Nebenprodukt im St. Petersburger Militärlabor entwickelt—als eine Art erweitertes, klingendes Messgerät, später den Prototyp der ersten Rhythmusmaschine „Rhytmicon“, die erste Bildübertragungstechnik usw. Diese außerordentliche technische Feinsinnigkeit war es wahrscheinlich auch, die ihm half, den Magadaner GULAG zu überstehen. Hier erfand er nebenbei eine Art hölzernes Monogleis für seinen Schubkarren, wofür er zum Stoßarbeiter aufstieg und mehrere Essensrationen bekam—das rettete ihm dann vermutlich auch das Leben. Leon Theremin war aber nicht nur ein exzellenter Erfinder, sondern auch äußerst anpassungsfähig und ein umtriebiger Typ: Für ihn machte es scheinbar keinen allzu großen Unterschied, ob er im Mittelpunkt der New Yorker Glammerwelt der 30er-Jahre stand (dort wurde er herumgereicht und verehrt), wo er sich auch mit Chaplin und Einstein anfreundete, oder abrupt darauf (nach einjährigem Zwischenstopp in Magadan) als Häftling im Ingenieur-Arbeitslager oder im Spezialgefängnis für Wissenschaftler in Moskau lebte. Hier forschte und entwickelte er zwangsweise, ungestört und abgeschirmt von der Außenwelt und mit unbegrenzten Mitteln über Jahre hinweg! Er war auch einer der Ersten, der die Intension der elektroni-schen Musik „als internationale Sprache” zu nutzen verstand. So wie auch MusikerInnen heute, tourte Leon Theremin von Stadt zu Stadt, erst durch halb Russland, dann durch ganz Europa und Amerika, um sein geniales, gleichzeitig im Aufbau simples, performatives, da berührungslos spielbares, für Generationen von Erfindern inspirierendes, prototypisches Musiktool „Theremin“ vorzustellen. Eine scheinbar obsolete, fast 100 Jahre alte Technik, die aber immer noch eine große, fast magische, nachhaltige Wirkung auf die Musikelektronik von heute besitzt. Theremin starb 1993 im Alter von 97. Er hatte davon geträumt, im Permafrost begraben zu werden, um für die Zeit konserviert abrufbar zu bleiben, wenn zukünftige Wissenschaftsgenerationen taugliche Methoden beherrschen werden, die ihn wieder zum Leben erwecken können.