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Krankheit

Ich bin Mitte 20 und weiß, dass ich in 15 Jahren schwer laufen und sprechen werden kann

Manche resignieren. Ich habe vier Instrumente gelernt, trainiere für den Marathon und lebe, als gäbe es kein Morgen.
Foto: Vivien Nogaj

"Ich glaube nicht, dass wir eine gemeinsame Zukunft haben", sage ich in den Telefonhörer. Meine Freundin, jetzt Ex-Freundin, ist lange still. Dann sagt sie: "Willst du die Flinte wirklich jetzt schon ins Korn werfen?" Ich will nicht, aber die Wahrheit ist: Ich zweifle nicht nur an unserer gemeinsamen Zukunft, sondern weiß mit Gewissheit, dass eine Zukunft mit mir ziemlich beschissen sein wird. Zumindest wenn man Kinder will, oder einen Partner fürs Leben wie sie. Ich bin 26 und mein Körper wird in 10, spätestens 15 Jahren abbauen – bis ich ohne fremde Hilfe nicht mehr leben kann.

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Mit 23 habe ich mich testen lassen. Zwei Tage vor einer mündlichen Prüfung in meinem Master in Materialwissenschaften. Mein Opa litt schon an Spinozerebellärer Ataxie und auch bei meinem Vater zeigten sich vor ein paar Jahren die ersten Symptome: Sein Gleichgewichtssinn verschlechterte sich und er konnte seine Hände nicht mehr so gut koordinieren. Die Wahrscheinlichkeit, die Krankheit zu vererben, liegt bei 50%. Meine Geschwister hatten schon vor mir einen Test gemacht, Ergebnis: positiv. Es klingt fies, aber nach ihrem Bescheid hatte ich gehofft, dass wenigstens ich nicht betroffen sein würde. Es konnte doch nicht sein, dass mein Vater die Krankheit an alle seine drei Kinder vererbt hat.

Konnte es doch. Auch ich habe die Spinozerebelläre Ataxie Typ 1. Nach dem Befund musste ich erstmal weinen und hatte keinen Bock zu lernen. Wozu das alles? Wozu studieren und an einer Karriere bauen? Wozu von einer Zukunft träumen, wenn ich jetzt schon weiß, dass sie beschissen sein wird? Die Krankheit ist nicht heilbar. Mein Körper wird in zehn Jahren anfangen abzubauen. Laufen ohne Rollator wird irgendwann unmöglich sein, sogar einfaches Brote-Schmieren wird zur Herausforderung.


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Nach zwei bis drei Tagen war die Lethargie vorbei und ich stürzte mich in puren Aktionismus: Ich bin zur Prüfung gegangen und habe sie bestanden. Ich habe alles über die Spinozerebelläre Ataxie gelesen, was ich in die Finger kriegen konnte, und meinen Neurologen mit Fragen gelöchert. In Deutschland ist etwa eine von 100.000 Personen von der Spinozerebellären Ataxie betroffen. Bei der Nervenkrankheit sterben die Zellen des Kleinhirns meist ab dem dritten oder vierten Lebensjahrzehnt unaufhaltbar ab. Irgendwann werde ich deshalb Probleme bei grobmotorischen Abläufen wie Gehen und Stehen bekommen, aber auch beim Sprechen, weil das Zusammenspiel kleinster Muskelgruppen nicht mehr funktioniert. Man weiß nicht genau, wann es passiert, aber dass ich Probleme haben werde, mein Leben ohne Hilfe zu meistern, steht fest.

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Seit sich der Schalter umgelegt hat, habe ich eine andere Einstellung: Ich lebe mein Leben im Schnelldurchlauf. Und ja, ich überkompensiere. Statt ein Instrument zu spielen, habe ich mir innerhalb der letzten drei Jahre vier Instrumente angeeignet. Ich spiele Gitarre, Keybord, Ukulele und Mundharmonika. Ich habe angefangen, in meiner Freizeit zu joggen und bin letztes Jahr den Hermannslauf über 31 Kilometer gelaufen. Aktuell trainiere ich für einen Marathon. Das alles kann ich später nicht mehr machen, also mache ich es jetzt. Ich will später nicht das Gefühl haben, dass ich meine Möglichkeiten nicht völlig ausgeschöpft habe.

Ich bin durch die Krankheit mutiger geworden. Meinen Bachelor habe ich in der Heimat gemacht und habe da noch zu Hause gewohnt. Ich wollte auf Nummer sicher gehen und habe ein Dualstudium gemacht, zusammen mit einer Ausbildung zum Industriemechaniker. Alle anderen gingen in die weite Welt hinaus, aber ich dachte: Ich habe noch Zeit, ich kümmere mich erstmal um einen sicheren Job. Ich wollte in die Zukunft investieren. Das hat sich durch die Diagnose verändert: Anstatt meine Arbeit bei dem Unternehmen in meiner Heimat zu schreiben, bei dem ich einen Vertrag hatte, bin ich in eine andere Stadt gezogen und habe stattdessen eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni angenommen. Ich wollte eine neue Herausforderung, auch wenn das bedeutete, dass ich mich aus meinem ehemaligen Unternehmen für 1.600 Euro herauskaufen musste.

Ich genieße meinen neuen Mut. Aber natürlich habe ich auch Angst. Angst, so zu werden wie mein Vater. Er geht zwar noch arbeiten, ist aber eher resigniert und lässt sich in der Freizeit gehen: Er hat seine Freunde vernachlässigt und hängt stattdessen vor dem Computer oder schaut Fußball. Ich habe Angst davor, dass ich das Leben nicht mehr schön finde und mich selber nicht mehr mag. Ich habe Angst davor, dass mein Charakter sich durch die Krankheit verändert und ich griesgrämig werde. Eine meiner größten Ängste ist, dass ich eine Frau ungewollt schwängere und das Kind dann krank ist. Und selbst wenn nicht: Ich könnte einfach nicht der Vater sein, der ich gerne wäre – ich werde mit meinen Kindern nicht Fußball spielen können. Vielleicht kann ich sie später nicht mal wickeln. Ich hätte eigentlich liebend gern Kinder gehabt. Aber von diesem Traum habe ich mich verabschiedet.

Auch der Traum, mit jemandem gemeinsam alt zu werden, bröckelt. Am liebsten hätte ich eine feste Partnerin, die bei mir bleiben will. Aber was für eine Zukunftsperspektive kann jemand bieten, der gar keine Zukunft hat? Sieben Beziehungen habe ich in den letzten Jahren angefangen – und sieben Mal wieder Schluss gemacht. Das hat sicherlich auch mit Selbstschutz zu tun. Die Trennungen tun immer aufs Neue weh – aber fühlen sich andererseits immer wie eine Erlösung an. Ich will für niemand anderen verantwortlich sein als für mich. Mein Leben genießen.

Es hört sich paradox an, aber seit ich weiß, was ich für eine Zukunft vor mir habe, habe ich weniger Zukunftsangst. Meine Freunde machen sich die typischen Sorgen junger Erwachsener: Habe ich die richtige Berufswahl getroffen? Auslandssemester oder lieber ein Praktikum in Deutschland? Habe ich alle Weichen für mein späteres Leben gestellt? Ich zweifle nicht mehr, ich mache einfach. Lebe im Hier und Jetzt. Solange ich noch kann, will ich alles mitnehmen, was geht.

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