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Zu Besuch beim Marathon auf der Chinesischen Mauer

Für all die, denen ein normaler Marathon zu billig ist, haben wir jetzt die Lösung. Vorausgesetzt, man ist schwindelfrei.
Photo courtesy Steen Albrechtsen

Über die genaue Länge der Chinesischen Mauer streiten sich die Gelehrten, auch weil sie zum Teil von Naturbarrieren unterbrochen wird. Die meisten Quellen geben aber rund 8.900 km an. Wie dem auch sei: Die Strecke des alljährlich dort stattfindenden Marathons ist im Verhältnis zum Gesamtbauwerk auf jeden Fall nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Ja, du hast richtig gelesen. Marathon und Chinesische Mauer in einem Satz!

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Was 1999 mit 800 dänischen Sportlern begann, ist mittlerweile weit mehr als eine normale Ausdauerprobe. Vielmehr ist es eine im wahrsten Sinne des Wortes außergewöhnliche, total verrückte Challenge, die fast genauso viel von einem Indiana-Jones-Abenteuer wie von einem Langstreckenlauf hat. Nicht selten nehmen Leute daran teil, die nicht nur zum ersten Mal in China sind, sondern zuvor außerdem noch nie an einem Marathon teilgenommen haben. Im Gegensatz zu Ultramarathon-Veranstaltungen, wo man beispielweise auch schon mal mehr als 200km durch die Sahara rennt, ist der Marathon auf der Chinesischen Mauer ein äußerst enges und buntes Treiben. Es ist auf der ganzen Welt mit nichts zu vergleichen—und das aus dem einfachen Grund, dass es auch nur eine Chinesische Mauer gibt, der größte militärische Bau der Welt. Die Chinesische Mauer ist so einmalig, unberechenbar und unerbittlich wie das Land, in dem sie steht.

Die diesjährige Ausgabe—die innerhalb von acht Stunden absolviert werden musste—verlief auf einer kreisförmigen Strecke und begann mit einem extrem steilen, rund 5 Kilometer langen Anstieg, der zur Mauer hochführte. Dort angekommen ging es auf rund 4 Kilometern fast 700 Höhenmeter bergab. Spätestens jetzt sollte auch dem letzten Leser klar sein, was diesen Marathon so unfassbar anspruchsvoll macht.

Das hat natürlich auch mit der Mauer an sich zu tun, deren Laufoberfläche bald eben, bald uneben ist. Manche Stufen sind gerade und gut erhalten, andere eine einzige Rutschpartie. An manchen Stellen kann man nur im Gänsemarsch laufen, an anderen sollte man unbedingt schwindelfrei unterwegs sein. Und dann muss man auch noch mehrere Garnisonen passieren, in die maximal sieben Leute reinpassen. Wenn man die Mauer hinter sich gelassen hat, geht die Strecke an einem Fluss, durch Felder und kleine Dörfer weiter. Überall am Wegesrand stehen junge wie alte—und extrem freundliche—Menschen, die einen mit „Ni Hao" anfeuern. Anfeuerung kann man auch gut gebrauchen, denn die 700 Höhenmeter müssen auf dem Rückweg wieder erklommen werden.

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Organisiert wird der Lauf von Steen Albrechtsen Albatros Travel, einem Unternehmen aus Dänemark. Wenn Albrechtsen über die Bedingungen der diesjährigen Ausgabe spricht, gerät er ins Schwärmen: „Der Himmel war blau, es war weder zu kalt noch zu warm und wir hatten 2.500 glückliche Teilnehmer, die alle denselben Traum hatten: die Mauer erobern."

Eigentlich waren es nur 2.376 Teilnehmer (2.500 hatten sich für den Lauf angemeldet), und davon schafften es 2.225 bis ins Ziel. Auch wenn bei denen auch die mitgerechnet werden, die „nur" die Halbmarathonvariante bzw. den 8km-Lauf absolviert haben. Die komplette Marathonstrecke haben in diesem Jahr 920 Teilnehmer (aus 63 Nationen) zurückgelegt.

Foto mit freundlicher Genehmigung von Steen Albrechtsen

„Egal, wo du herkommst, im Herzen sind hier alle Teilnehmer gleich, indem sie das Abenteuer lieben und so verrückt waren, sich für einen der härtesten Marathons der Welt anzumelden", sagt Jordan Reynolds aus Ohio, die zum ersten Mal an einem Marathon teilgenommen hat. Die 23-jährige Chemikerin, die früher auf Wettkampfniveau geschwommen ist, hat erst vor Kurzem mit dem Joggen begonnen. Sie wusste nicht wirklich, was sie in China erwarten würde. „Die Chinesische Mauer ist ein echtes Weltwunder. Wer würde also auf ihr nicht einen Marathon laufen wollen?"

Henrik Brandt aus Dänemark weiß eigentlich immer ziemlich genau, was einen hier erwartet. 2015 war schon seit 16. Marathon auf der Chinesischen Mauer—er ist damit der einzige Mensch auf der Welt, der seit der Prämiere 1999 an jeder Ausgabe teilgenommen hat. Brandt—56 Jahre alt und selbstständiger Wirtschaftsprüfer—hält ihn für den härtesten Marathon der Welt. Und der Mann weiß, wovon er spricht, ist er doch schon 53 Marathons gelaufen, davon drei Ultramarathons.

Foto mit freundlicher Genehmigung von Steen Albrechtsen

Auch der Australier Matt Cotter, 40, kommt aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus, wenn er von seinen Erfahrungen berichtet. „Ich habe meine Zielzeit locker geschafft, doch darum ging es mir im Grunde gar nicht, und ich glaube, den meisten anderen Teilnehmern auch nicht. Es ging darum, die Stimmung und das wahnsinnige Panorama aufzusaugen. Überall standen Kinder, die dich frenetisch angefeuert und abgeklatscht haben. Ich hatte eigentlich ein iPod mit, ihn aber nicht ein einziges Mal angeschaltet. Wer braucht bei so einer Kulisse Ablenkung durch Musik?"

Aber natürlich gab es auch bei diesem speziellen Marathon Läufer, die gekommen waren, um das Ding zu gewinnen. Geglückt ist das Jason Shenn, 38, aus Shanghai, der für seinen Sieg gerade einmal 3:18 Stunden gebraucht hat. Die an sich schon beeindruckende Zeit wird umso unglaublicher, wenn man bedenkt, dass es sein erstes Mal auf der Chinesischen Mauer war. Mit seinem Triumph hat er seinen ganzen Clan stolz gemacht.

„Laufen hat in meiner Familie Tradition. Ich trainiere mit meiner Frau und auch mit meiner siebenjährigen Tochter, ja sogar noch mit meinen Eltern. Als meine Tochter noch ein Baby war, bin ich mit ihr im Kinderwagen einen Marathon gelaufen", so Shenn. „Hier zu gewinnen bedeutet für einen Chinesen extrem viel. So lautet zum Beispiel ein chinesisches Sprichwort: ‚Du kannst erst zu einem Helden werden, wenn du auf der Chinesischen Mauer gestanden hast.' Jetzt konnte ich meiner Tochter zeigen, dass ihr Papa ein Held ist."