Politik

Es ist purer Populismus, wenn Horst Seehofer jetzt sicherere Bahnhöfe fordert

Aber Hauptsache, der Deutsche fühlt sich wieder sicher.
Collage von Horst Seehofer und Blumen am Frankfurter Hauptbahnhof
Collage: Blumen: imago images /  epd | Horst: imago images / Jens Schicke 

29 Stunden nachdem am Frankfurter Hauptbahnhof ein Kind gestorben war, rief Innenminister Horst Seehofer eine Pressekonferenz ein. Am Montag, 29. Juli, kurz vor 10 Uhr hatte ein Mann ein Kind und dessen Mutter auf das Gleis 7 vor einem einrollende Zug gestoßen. Die Mutter hatte sich auf das Mittelgleis gerettet. Das Kind wurde überrollt und starb. Der Täter flüchtete. Es waren Passanten, die ihn aufhielten, bevor die Polizei ihn festnahm.

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Für die Pressekonferenz am Dienstag brach Horst Seehofer seinen Sommerurlaub ab. Anders als vor wenigen Tagen, als in Voerde ein in Deutschland geborener Serbe eine Frau auf die Gleise schubste und sie von einem Zug überrollt wurde. Denn: Dieses Mal starb ein Kind. Und dieses Mal ist der Täter nicht in Deutschland geboren, sondern stammt aus einem afrikanischen Land.


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In der Pressekonferenz bestätigt Horst Seehofer gemeinsam mit Bundespolizeichef Dieter Romann und Holger Münch, dem Chef des Bundeskriminalamts: Ja, der Täter stammt aus Eritrea. Aber: Er war schon im Jahr 2006 in die Schweiz geflohen, hatte dort 2008 einen Asylantrag bewilligt bekommen – und sich seitdem unauffällig verhalten. Er heiratete, er bekam drei Kinder, er engagierte sich in einer christlichen Gemeinde. Er sprach fließend Deutsch und arbeitete. Seine Firma hat ihn sogar einmal interviewt und in einer eigenen Publikation geschrieben, sei er ein "Beispielfall gelungener Integration".

Seit Januar 2019 war er wegen psychischer Probleme krankgeschrieben und wurde behandelt. Am 25. Juli, vier Tage vor dem Tag in Frankfurt, hatte er seine Nachbarin bedroht und schloss sie und anschließend seine eigene Familie in ihren jeweiligen Wohnungen ein. Er flüchtete in Richtung Deutschland.

Was man offenbar sicher weiß: Er war nicht alkoholisiert, als er die Mutter und ihr Kind auf die Gleise stieß. Er stand nicht unter Drogen und wollte sich auch nicht rächen, weil vor einer Woche ein Deutscher einen Eritreer aus seinem fahrenden Auto angeschossen hatte. Sondern: Er ist ein psychisch kranker Einzeltäter.

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Das war auch schon klar, als Seehofer sich auf das Podium der Pressekonferenz setzte. Es war allerdings noch nicht klar, als er sie einberief. Er hätte sie also noch absagen können. Aber Horst Seehofer ist nunmal Horst Seehofer und nun saß Seehofer schon einmal, und dann saß er es eben auch aus. Schließlich hatte er die Chefs von Bundespolizei und BKA einbestellt und musste etwas versprechen, denn seine Hauptzuständigkeit ist nunmal die Sicherheit der Deutschen. Was daran interessant ist, ist nicht was er sagte, sondern, was er damit meinte:

Die Deutschen sollen sich sicherer fühlen

Die Zahl der Straftaten in Deutschland sinkt. Im häuslichen und im öffentlichen Raum. Und doch, sagt Seehofer, es gebe einen Unterschied zwischen den Zahlen und dem Gefühl. Die Deutschen fühlen sich nicht sicher. Seehofer spüre das, sagt er. Und es ist schwer, ihm zu widersprechen, weil man Gefühle – anders als Zahlen – nicht belegen kann.

Es ist tausendfach wahrscheinlicher, überfahren zu werden, als in der Öffentlichkeit angegriffen zu werden. Es ist wahrscheinlicher, in der Dusche auszurutschen und sich den Kopf aufzuschlagen – oder von einem giftigen Tier getötet zu werden. Aber davor fürchten sich die Deutschen nicht. Sie ängstigt die Vorstellung, dass sie im öffentlichen Raum jemand angreift.

Also verspricht Seehofer keine Duschmatten- oder Helmpflicht, sondern sprach in der Pressekonferenz von einer "Werte-Erosion" in Deutschland. Seine Belege sind zum einen 50 Jugendliche, die vergangene Woche in Starnberg eine Polizeiwache angegriffen haben, weil sie ihren Kumpel befreien wollten. Und zum anderen bezieht sich Seehofer auf die Randale von Jugendlichen im Düsseldorfer Rheinbad. Er sagt: "Es gibt ein abnehmendes Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung im öffentlichen Raum."

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Der Innenminister weiß: Man muss die Ängste der Menschen ernstnehmen. Also nicht unbedingt, wenn es um hohe Mieten geht (wofür er als Innen- und Bauminister übrigens auch zuständig ist). Aber wenn es um innere Sicherheit geht und er vermeintliche Lösungen präsentieren kann, die in Wirklichkeit nur populistische Nebelkerzen sind.

Seehofer will mehr Polizei an Bahnhöfen – aber es gibt gar kein Personal

Deutsche Bahnhöfe sichert die Bundespolizei. Und davon, sagt Seehofer, brauche man viel mehr. Seit 2015 hat die Bundespolizei bereits 12.700 zusätzliche Stellen bewilligt bekommen. Bis 2025, so wünscht es sich Seehofer in der Pressekonferenz, sollen weitere 11.300 dazu kommen. Also 25.000 zusätzliche Bundespolizisten innerhalb von zehn Jahren.

Was Seehofer ruhig hätte erwähnen können: Es gibt schon heute Tausende nicht besetzte Stellen bei der Bundespolizei – und zwar in ganz Deutschland. In Brandenburg fahren zum Beispiel keine Funkstreifenwagen mehr, weil die Leute fehlen. In Sachsen können kaum noch Hunde nach Sprengstoff oder Drogen suchen. Der Polizei fehlen die Hundeführer.

Seehofer könnte auch 100.000 neue Stellen einrichten, er könnte, wenn er das wollte, auch die Voraussetzungen für einen diktatorischen Polizeistaat schaffen: Menschen, die diesen Job machen, kann er sich trotzdem nicht backen.

Seehofer will Videoüberwachung – aber Kameras verhindern keine Straftaten

Seehofer sagte weiter, man dürfe "technische Lösungen zur Sicherheit nicht zum Tabu erklären. Das müsse man ganz nüchtern und sachlich diskutieren." OK, dann machen wir das ganz sachlich:

Eine Kamera kann Straftaten aufzeichnen, aber keine Kamera kann eine Straftaten verhindern. Es sei denn, sie könnte Verdächtige anhand ihres Aussehens und ihres Verhalten erkennen, bevor sie ein Verbrechen begehen. Klingt nach einer gruseligen Dystopie. Ist aber längst Wirklichkeit, auch in Deutschland.

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Gar nicht zu reden davon, dass es keinerlei rechtliche Grundlage dafür gibt, verdachtsunabhängig alle Menschen zu identifizieren, die einen Bahnhof betreten. Seit Juni dieses Jahres läuft am Berliner Südkreuz schon der zweite Modellversuch zur intelligenten Videoüberwachung. Den ersten Versuch im Jahr 2018 hatte Horst Seehofer als Erfolg bezeichnet: Die Kameras hätten gerade einmal eine Fehlerquote von 0,1 Prozent zu verzeichnen. Das heißt: Jeder tausendste Passagier löst einen Fehlalarm, einen Verdachtsfall aus. 12,7 Millionen Menschen reisten im Jahr 2017 mit Fern-, Regional und Nahverkehrszügen der Deutschen Bahn. Wären also alle Bahnhöfe – so wie sich Seehofer das vorstellt – mit dem System ausgerüstet, gebe es 12.700 Verdachtsfälle, um die sich dann wiederum Personal kümmern muss. Jeden Tag.

Zutrittsschranken für Bahnhöfe

Seehofer schlug auch vor, Schranken an den Gleisen deutscher Bahnhöfe aufstellen zu lassen. Diese würden sich nur öffnen, sobald der Zug eingefahren ist. In London, Lissabon und Tokio gibt es dieses Modell schon. Seehofer wurde von einer Journalistin darauf hingewiesen, dass die Deutsche Bahn bereits angekündigt hätte: Das wäre möglich, aber würde Millionen von Euro kosten. Seehofer antwortete: "Wenn es um Menschenleben geht, gefällt mir das Argument mit dem Geld überhaupt nicht."

OK, Geld ist egal. Wie wäre es dann mit dem Argument, dass in London, Lissabon und Tokio nur der Nahverkehr mit Schranken geschützt ist? Der fährt und hält automatisch an den exakten Haltepunkten am Bahnsteig. In Deutschland würde das nicht funktionieren: Deutsche Züge – egal, ob U-Bahnen oder ICE – werden von Menschen gesteuert. Sie halten nie an der exakt gleichen Stelle. Und selbst wenn das ginge: Der Türabstand von ICEs und Regionalbahnen ist unterschiedlich.

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"Intelligente Grenzkontrollen" oder: Racial Profiling

Ein Journalist auf der Pressekonferenz fragte, wie der Täter von Frankfurt überhaupt nach Deutschland kommen konnte. Nunja, ganz einfach: Er wurde an der Grenze nicht kontrolliert. Denn es gibt keine regelmäßigen Grenzkontrollen zwischen der Schweiz und Deutschland. Selbst wenn es sie geben würde, es hätte für die deutschen Beamten keinen Grund gegeben, den Täter aufzuhalten. Er war zwar zur Fahndung ausgeschrieben, aber nur innerhalb der Schweiz. Ob es denn kein System gebe, das europaweit alle Fahndungen miteinander vergleiche, wurde Seehofer gefragt. Nein. "Aber wir haben ja bald die Ratspräsidentschaft", sagte er mit Blick darauf, dass Deutschland im zweiten Halbjahr 2020 den Vorsitz im Rat der Europäischen Union übernimmt – und deutet an, etwas versprechen zu können, was er am Ende womöglich nicht halten können wird.

Und überhaupt, ergänzte Seehofer. "Erfahrene Beamte haben ein gutes Gespür, wen sie an der Grenze aufzuhalten und zu kontrollieren haben." Ein gutes Gespür? Eindeutiger kann ein Innenminister seine Mitarbeiter nicht zu Racial Profiling ermutigen, ohne das Wort zu benutzen – aber Hauptsache, der Deutsche fühlt sich wieder sicher.

Was bleibt von seiner Tat: ein totes Kind, eine Mutter, ein traumatisierter Lokführer. Und die Frage: Lassen sich solche Verbrechen verhindern?

Wahrscheinlich: nein. Eine Tat wie am Frankfurter Hauptbahnhof passiert innerhalb von Millisekunden. Sie kündigt sich nicht an. Einen Ausbruch, der einen Menschen dazu bringt, andere Menschen in ein Gleisbett zu stoßen – so einen Ausbruch sieht man erst, wenn es zu spät ist. Jeder kann einen Bahnhof betreten, egal, was er dort will. Jeder kann ein Gleis betreten. Man muss noch nicht einmal sonderlich kräftig sein, um jemanden aus dem Gleichgewicht zu bringen. Zum Schubsen braucht man keine Waffe, die einen warnen könnte – oder irgendjemand durch teure Körperscanner an Bahngleisen hätte entdeckten können.

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