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Müssen wir damit leben, dass Menschen vor unseren Augen in Livestreams sterben?

Erstmals wurde ein Mann auf Facebook Live vor laufender Kamera erschossen. Unwissentlich hat er seinen eigenen Tod gestreamt. Mit dem Aufstieg privater Live-Videos wird es noch schwieriger, Content zu moderieren.
Bild: Screenshot Facebook

Antonio Perkins steht an einem lauen Sommerabend mit Freunden vor seinem Haus in Chicago und hat einen Drink in der Hand. Immer wieder blickt er in die Kamera seines Smartphones und redet mit anderen Freunden, die sich online dazugesellen. Denn Perkins streamt seinen entspannten Abend live auf Facebook.

Plötzlich fallen zwei Schüsse, Perkins—und mit ihm seine Handykamera—geht zu Boden. Weitere Schüsse fallen, Perkins kugelt über den Rasen. Er schafft es noch einmal, seinen Arm mit dem Smartphone zu heben und die Straße zu filmen. Man sieht ein Auto wegfahren. Schließlich dreht sich die Kamera wieder in Richtung Asphalt, und das Bild wird schwarz. Wer bis hierhin live auf Facebook dabei war, ist Zeuge geworden, wie Antonio Perkins, 28, dreifacher Familienvater, erschossen wurde. Noch am selben Abend erliegt er im Krankenhaus seinen Verletzungen.

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Das Video, welches Perkins am 15. Juni aufnahm, ist noch immer in ganzer Länge auf Facebook zu sehen. Zwar ist es von Perkins eigenem Profil verschwunden, kann aber über andere Profile, die den Clip anscheinend erneut hochgeladen haben, abgerufen werden. Facebook selbst hat die Kopien der Clips noch nicht sofort entfernt, sondern bisher nur einen typischen Warnhinweis vorgeschaltet, mit dem das soziale Netzwerk seit Anfang letzten Jahres vor „expliziten" Inhalten warnt: „Videos mit expliziten Inhalten können schockieren, kränken und verägern. Bist du sicher, dass du das sehen möchtest?"

Es bleibt also jedem selbst überlassen, ob er sich das Video ansehen möchte. Zwar zeigt es außer ein paar Blutspritzern im Gras keine direkten Bilder der Gewalttat, dokumentiert aber alleine schon über die Audiospur den gewaltsamen Tod eines Menschen, der nicht mehr die Möglichkeit hat, sein Einverständnis für die Verbreitung der Szenen zu geben. Sowohl der Vorfall selbst als auch der Umgang Facebooks mit dem Video führt uns ohne Umwege zu der Frage: Müssen wir in Zeiten von Facebook Live damit leben, dass Menschen vor unseren Augen, sozusagen unmittelbar in unserem Feed sterben?

Dass die Unmittelbarkeit, mit der soziale Medien Inhalte verbreiten, eine große Herausforderung für Gesellschaft, Politik und die Betreiber der Plattformen selbst ist, zeigt nicht zuletzt die Debatte um den richtigen Umgang mit Hasskommentaren. Schon bei Bildern und Kommentaren ist die Regulierung der unüberschaubaren Menge an Postings, die täglich abgesetzt werden, kompliziert. Mit dem Live-Video-Feature, das Facebook erst vor einigen Wochen für alle Nutzer freigeschaltet hat, wird die Sache nicht gerade einfacher.

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Wenn Menschen mittels neuer Streaming-Plattformen wie Facebook Live, Periscope oder Snapchat ihr Leben öffentlich machen wollen, ist das ihr gutes Recht—so lange die Würde anderer Menschen dadurch nicht verletzt wird. Die Frage jedoch, ob das, was in einem Livestream passiert, auch die eigene Privatsphäre verletzen könnte, stellt sich als Facebook-Nutzer nicht mehr: Mit dem Starten des Livestreams (und dem Akzeptieren der AGBs) gehört das Video rechtlich gesehen Facebook: „Für Inhalte, die geistigen Eigentumsrechten unterliegen, wie Fotos und Videos, gibts du uns ausdrücklich folgende Erlaubnis, abhängig von deinen Privatsphäre- und App-Einstellungen: Du gewährst uns eine nicht-exklusive […] übertragbare, weltweite Lizenz, um jegliche Inhalte, die du postest […] zu nutzen."

Wem sein Livestream nicht gefällt, dem bleibt theoretisch die Möglichkeit, das archivierte Video nach der Aufnahme zu löschen (oder seine Verbreitung mit den eigenen Privatsphäre-Einstellungen zu kontrollieren und einzuschränken)—eine Option, die Perkins tragischerweise nicht hatte. Der Fall zeigt damit auch, wie schwierig es für Facebook ist, mit den Daten Verstorbener umzugehen.

Eine andere Frage ist es, welche Bilder, welcher Art von Facebook-Nutzern überhaupt zumutbar sind ( Die einzige Altersbegrenzung auf Facebook besteht derzeit im Mindestalter von 13 Jahren für die Registrierung eines Accounts). Das kann nur der Betreiber eines sozialen Netzwerks selbst entscheiden, möglicherweise in Zusammenarbeit mit Vertretern aus der Zivilgesellschaft. Dass es hier für soziale Netzwerke noch einiges an Nachholbedarf gibt, zeigt nicht nur der Fall Antonio Perkins. Im April dieses Jahres machte beispielsweise eine auf Periscope gestreamte, mutmaßliche Vergewaltigung Schlagzeilen. Hier hatte der mutmaßliche Täter das Video zwar kurz nach der Tat selbst gelöscht, allerdings hatten da schon knapp 3.000 Nutzer den Livestream eingeschaltet. Und im Mai warf sich eine junge Französin auf Periscope vor den Augen von 1.500 Zuschauern vor einen Zug, um Selbstmord zu begehen.

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Periscope verwandelt seine Zuschauer gleichzeitig in Exhibitionisten und Voyeure

Unabhängig davon, welche Maßstäbe man für die Zumutbarkeit von Bildmaterial ansetzt, ist klar, dass schon längst massenhaft Content die sozialen Medien überschwemmt, der nicht nur die Menschenwürde verletzt, sondern auch Nutzer traumatisiert. Es sind Bilder, die wir nicht sehen wollen und besser nicht sehen sollten. Das ist derzeit die Schattenseite der Unmittelbarkeit der sozialen Medien, der Preis, den wir zahlen, um an anderer Stelle live mit Freunden am anderen Ende der Welt zu kommunizieren. Oder, damit Demonstranten in repressiven Regimen ein freier Zugang zu einem globalen Kommunikationsmedium ermöglicht wird, wie es viel beachtet im „Arabischen Frühling" zu sehen war.

Natürlich ist die zeitnahe Zensur von Live-Videos auch technisch bisher sehr schwer umsetzbar, doch bleibt das Problem letzten Endes ein menschliches. Wir alle müssen uns die Frage stellen: Wie umfassend soll das unmittelbare Abbild unseres Lebens, welches soziale Medien ermöglichen, in Zukunft sein? Und: Nach welchen Regeln entscheiden wir, welche Inhalte gelöscht oder gefiltert werden?

Antonio Perkins lebte in Chicago, wo in den ersten drei Monaten des Jahres bereits 133 Menschen bei Schießereien verfeindeter Straßengangs ums Leben gekommen sind. (Während die Polizei behauptet, auch Perkins wäre ein aktives Gang-Mitglied gewesen, widersprach Perkins Vater dieser Darstellung gegenüber Fox 32). Ein Blick in den Livestream ist also auch ein Blick auf das Leben, wie es auf Chicagos Straßen spielt.

Facebooks Warnhinweis bedeutet also auch: Diese Bilder könnten zwar einige Nutzer schockieren, aber das ist es nun mal, was da draußen so vor sich geht.

Wer livestreamt, gibt seinen Facebook-Freunden einen direkten Einblick in sein Leben. Die eigene Privatsphäre ist dann nur noch eine Frage des Bildausschnitts, den der Nutzer zeigen möchte. Dafür, was passiert, wenn der Filmende die Bilder nicht mehr selbst kontrollieren kann, gibt es noch keine Lösung.