Osama bin Laden mit einem Mikrofon
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Müssen wir alles vergessen, was wir über Bin Ladens Tod zu wissen glaubten?

Pulitzer-Preisträger Seymour Hersh behauptet, die US-Version vom Tod des Terroristenführers sei komplett erfunden. Aber auch diese Anschuldigungen müssen wir kritisch betrachten.

Ist die actiongeladene Story vom Ende „Geronimos" nur Fiktion? Neben diversen Verschwörungstheoretikern behauptet nun auch der Pulitzerpreis-Gewinner Seymour M. Hersh, dass die Obama-Regierung die Öffentlichkeit systematisch über das Auffinden und die Erschießung Osama Bin Ladens angelogen habe. Danach sei die offizielle Version der Geschichte, in der die US-Regierung bin Ladens Aufenthaltsort selbst herausgefunden hatte, komplett erfunden. Zudem sei sein Haus anders als öffentlich behauptet nicht ohne das Wissen und die Mithilfe des pakistanischen Militärgeheimdienstes (ISI) gestürmt worden.

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Der Name Seymour M. Hersh mag in Deutschland nicht jedem geläufig sein—doch seine Geschichten gingen allesamt um die Welt. Der renommierte Journalist hat beispielsweise das Massaker von My Lai im Vietnamkrieg an die Öffentlichkeit gebracht und das Foltersystem im irakischen US-Gefängnis in Abu Ghraib aufgedeckt. Beide Geschichten wurden begleitet von schrecklichen Bildern, die sich tief in das medial vermittelte Gewissen der Moderne einbrannten.

Mit seinen aktuellen Enthüllungen widmet sich Hersh nun einer der meistberichteten Geheimdienstoperationen der jüngeren Vergangenheit: Die Ergreifung Osama Bin Ladens durch US-Spezialkräfte, die nicht zuletzt auch einen Anteil an der Wiederwahl Obamas für eine zweite Amtszeit hatte. Dabei stützt sich Hersh hauptsächlich auf die Aussagen eines ehemaligen pakistanischen Armeegenerals und eines früheren US-Geheimdienstmitarbeiters. Mit deren Hilfe will er die US-Darstellung des Zugriffs in Abbottabad nahe Islamabad am 2. Mai 2011 dekonstruieren. Sein hochumstrittener Bericht in epischer Länge erschien jedoch nicht in seinem Mutterblatt New Yorker, für das er seit 1993 arbeitet, sondern in der London Book Review.

Das Weiße Haus hat die Vorwürfe bislang nicht kommentiert. In den Vereinigten Staaten werden die Kernpunkte von Hershs Anschuldigungen derweil gerade heiß diskutiert. Wir haben die wichtigsten Punkte Hershs zusammengefasst, so wie weiter unten die Argumente aufgelistet, die Hershs angebliche Enthüllungsgeschichte in Zweifel ziehen.

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Bin Laden als Gefangener des pakistanischen Geheimdienstes?

Osama Bin Laden habe sich keineswegs in dem Komplex in Abbottabatt versteckt gehalten, sondern sei seit 2006 ein Gefangener der pakistanischen Streitkräfte gewesen. Bislang hatte Washington verlauten lassen, Bin Laden im Alleingang ohne Kenntnis der pakistanischen Armee getötet zu haben.

Hersh behauptet nun unter Berufung auf pakistanische Generäle und einen anonymen US-Geheimdienstler, Bin Laden habe sich unter Hausarrest der pakistanischen Armee befunden, die wiederum von den Saudis Geld für seinen Unterhalt bekamen. Der angebliche Grund: Er solle ein Pfand im Kampf gegen Taliban- und Al-Qaida-Aktivitäten in Afghanistan und Pakistan gewesen sein.

Dass zwei Top-Generäle aus Pakistan nicht von der Stürmung des Hauses informiert gewesen seien, sei die „dreisteste Lüge der Obama-Administration" gewesen, schreibt Hersh.

Der andere Weg zu Bin Laden

Es brauchte laut Hersh kein Waterboarding und es gab kein minutiöses Verfolgen von Bin Ladens Privat-Kurier, um an Informationen über den Aufenthaltsort des Terroristen zu gelangen. Es habe genügt, heftig mit einem Geldbündel zu winken und damit einen Tippgeber einzukaufen, der den Amerikanern den Aufenthaltsort Osama Bin Ladens daraufhin verriet. Nicht nur das: Der Tippgeber, ein früherer ISI-Mitarbeiter, soll auch noch aus eigenen Stücken in die US-Botschaft in Islamabad spaziert sein, weil er die ausgeschriebenen 25 Millionen Dollar Belohnung kassieren wollte.

Die Spezialeinheiten hätten sich den Weg zu ihrem Ziel nicht freikämpfen müssen, wie es heroisch in offiziellen Berichten heißt (was auch der US-Darstellung „Wir hätten ihn, wenn möglich, gern lebendig mitgenommen" widersprechen würde). Um zu Bin Laden zu kommen, habe die US-Armee einfach einen Fragenkatalog an die Pakistanis („Wie viele Stufen sind es bis zu seinem Zimmer? Wie dick ist die Tür?") geschickt, sich am 2. Mai angeschlichen und Osama bin Laden unbewaffnet erschossen: „Es gab keinen Schusswechsel, als (die vier Kämpfer der Spezialeinheiten und Navy SEALS) sich in das Gebäude begeben hatten; die ISI-Wachen waren heimgegangen", schreibt Hersh.

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Eine Meerbestattung als Lüge?

Der von Kugeln durchsiebte Körper Bin Ladens sei keineswegs, wie von Obama dargestellt, im Meer und gemäß muslimischen Praktiken bestattet worden. Vielmehr sei er irgendwo im Hindukuschgebirge entsorgt worden—und zwar, indem Teile seiner Leiche Stück für Stück aus einem Helikopter geschleudert wurden.

Als Fazit nach seiner langeren Erläuterung fällt Hershs Abrechnung mit der Politk dementsprechend drastisch aus: „Lügen in den obersten Rängen bleiben der modus operandi der US-Führung; zusammen mit Geheimgefängnissen, Drohnenangriffen, nächtlichen Razzien der Special Forces, Umgehungen der Kommandolinien und dem Ausschluss derjenigen, die Nein sagen könnten."

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Eine Grafik soll den Aufbau des Komplexes verdeutlichen, in dem sich „Geronimo" aufhielt. Bild: Wikimedia Commons

Ob wir derweil alles vergessen müssen, was wir über bin Ladens letzte Tage wissen, ist keineswegs klar. Auch wenn diese Anschuldigungen von einem erfahrenen Journalisten kommen, der sein Recherchehandwerk eigentlich durchaus versteht, sind sie in diesem Fall mit Vorsicht zu genießen. Denn in dem Artikel selbst finden sich unzählige Widersprüche, die sich zwar nicht restlos aufklären lassen, allerdings auch Herhs Version in ein zweifelhaftes Licht rücken. Hershs Darstellung, so schockierend sie für manche auch sein mag (oder alternativ bestehende Vorurteile unterfüttert), ist nicht ganz unproblematisch, auch wenn die Obama-Darstellung schon vor vier Jahren mit anderen Quellen von der Autorin R.J. Hillhouse berichtet wurde:

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The woman who reported the essence of Sy Hersh story in 2011, w/different sources, is well-regarded in nat-sec world https://t.co/t0E8rNfoVm
— Glenn Greenwald (@ggreenwald) May 12, 2015

Woran es hapert, listen Sicherheitsexperten auf Twitter und schließlich Max Fisher für Vox nach ihrer Analyse der extralangen 10 000 Wort-Story akribisch auf. Bei der Bewertung der angeblichen Enthüllungsgeschichte gilt es demnach folgende wichtige Widersprüche und Unzulänglichkeiten bei Hershs Recherche zu bedenken:

Die dünne Quellenlage

Hersh stützt seine Enthüllung nämlich hauptsächlich auf Unterhaltungen mit zwei Menschen: Asad Durrani, Leiter des militärische Geheimdiesnstes in Pakistan von 1990 bis 1992, und eine anonyme Quelle aus dem US-Geheimdienst „die sich auskennt". Beide sind mittlerweile in Rente. Weitere Dokumente oder Beweise? Fehlanzeige.

Die angebliche Motivation der Pakistanis

Trotz vieler Worte legt Hersh nicht schlüssig dar, wieso sich die Pakistanis auf eine US-geführte Razzia einlassen würden, die den eigenen Geheimdienst ziemlich dumm darstehen lässt. Wieso nicht einfach Osama Bin Laden selbst töten? Auch das Argument, die Pakistanis seien auf US-Entwicklungshilfe aus gewesen, ist kaum haltbar. Die Hoffnungen wurden zumindest enttäuscht: Nach dem Zugriff kürzten die Amerikaner die Hilfe nämlich. Pakistan reagierte empört auf den eigenmächtigen Zugriff, der die Beziehungen beider Länder extrem belastete.

Der pakinstanische Geheimdienst ISI ist derweil ebenfalls alles andere als ein unbeschriebenes Blatt im Zusammenhang mit dem Vormarsch von Terrorgruppen in der Region: Er baute gemeinsam mit Bin Laden und der CIA die Al-Qaida und die Taliban auf und ist berüchtigt für Korruption bis in die höchten Ränge und eigenmächtiges Handeln als Staat im Staat. Das macht die Quelle aus der Region nicht glaubwürdiger.

Die Motivation von Hersh

Seine Berichte verloren zuletzt massiv an Glaubwürdigkeit, weil sie einfach zu weit hergeholt schienen: So behauptete er, ein syrischer Giftgasangriff sei ein False Flag unter türkischer Führung gewesen, um die USA in den Krieg gegen Syrien reinzuziehen. Iranische Terroristen wären zum Kampftraining nach Nevada ausgeflogen worden. Und letztlich: Den angeblich riesigen Einfluss, den Opus Dei auf die US-Special Forces habe (Aluhut-Alarm!). Alle diese Geschichten stellten sich bestenfalls als dünn, schlimmstenfalls als komplett fabriziert heraus. Auch das ist ein Grund für die etwas unkonventionelle Wahl des Veröffentlichungsortes: Der New Yorker hat Hersh nämlich schon seit 2012 nichts mehr abgenommen, was im Zusammenhang mit seiner zehnjährigen Bin Laden-Recherche stand. „Wenn Fakten seinen Behauptungen widersprechen, antwortet er bloss, dass das Beweise dafür seien, wie tief der Kaninchenbau eigentlich sei", schreibt Fisher. Trotzdem sollten wir die Skandalgeschichte von Hersh lesen, wenn auch kritisch. Sie ist wichtig, weil sie immerhin beweist, wie mächtig ein Mann sein kann, der seinen Namen zur Marke für investigativen Journalismus gemacht hat und mit einer Veröffentlichung hunderte von Beteiligten in drei Regierungen als Lügner darstellen lässt. Was total okay ist—so lange er es belegen kann.

Den vollen Artikel von Hersh könnt ihr hier lesen. Eine gründliche Analyse der Ungereimtheiten von Hershs Story findet sich beispielsweise in diesem Artikel der Neuen Züricher Zeitung oder noch ausführlicher hier bei Vox.