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20 Jahre nach seinem Verschwinden wird Richey Edwards als gequälter Künstler dargestellt, aber das ist Schwachsinn

In den 80ern in Wales zu leben war scheiße. Arbeitslosigkeit breitete sich aus, die Stimmung war im Keller und aus dieser Einöde entstanden die Manic Street Preachers.
Emma Garland
London, GB

„Da, wo wir herkommen, hängt eine natürliche Melancholie in der Luft“, hat Richey Edwards im Jahr vor seinem Verschwinden gesagt. „Sobald du alt genug bist, es zu verstehen, fühlst du dich hier ziemlich abgeschlagen. Um dich herum gibt es diese Ruinen der Schwerindustrie. Die Generation deiner Eltern ist arbeitslos, niemand hat etwas zu tun …“

Ich kann das nachvollziehen. Ich bin selbst in einem kleinen Dorf aufgewachsen, dessen Name ohne Vokale auskommt und dessen Einwohnerzahl so gering war, dass Polizisten mit ihrem Spitznamen aus Schulzeiten angesprochen wurden. Du musst zwar mit dem Bus fahren, um zu deiner Bank zu kommen, dafür kannst du aber drei Generationen einer Familie in einer Straße besuchen. Die Nachbarn klopfen an deine Tür, wenn sie vorbeikommen, um Hallo zu sagen oder dich darüber zu informieren, dass dieser oder jener aus Hausnummer 19 gerade gestorben ist. Die Weihnachtsdekoration bleibt das ganze Jahr über hängen.

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Es ist schön dort—bis zu einem gewissen Grad jedenfalls. Es erfüllt einen definitiv mit einer gewissen Nostalgie, sich daran zurückzuerinnern, wie man die Sommer seiner Kindheit damit verbracht hat, eine stillgelegte Kohlegrube ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit auf einer Schieferplatte runterzurutschen oder den Typen auszuspionieren, der durch die Gegend gezogen ist und zum Spaß die Frontseite von Häusern gestrichen hat, ob er nun darum gebeten wurde oder nicht. Trotzdem schwebt über allem immerzu eine gewisse Form von Eintönigkeit—und das seit Jahrzehnten.

Wales wurde in den 80ern von Gewalt, Aufruhr und Depression erschüttert. Thatcher zog dem Land die Kohleindustrie wie einen Teppich unter den Füßen weg und manövrierte die Arbeiterklasse dadurch in eine Identitätskrise, die derartig massiv war, dass die Auswirkungen bis heute zu spüren sind. Die Arbeitslosenrate schoss in die Höhe und die Stimmung bei den Menschen ging in den Keller. Aus dieser Ödnis entstiegen die Manic Street Preachers—sie verstanden die vorherrschende Eintönigkeit besser als alle anderen.

Der Trübsinn, der nach Thatcher über die Täler schwappte, war der Hauptantrieb für die Manics. „Wenn du ein Museum bauen würdest, das Blackwood repräsentieren soll, könntest du dort nichts als Scheiße ausstellen“, sagte Basser Nicky Wire über die Stadt, in der er aufgewachsen ist. Mit einer Gesellschaft konfrontiert, in der Menschen mit Mühe überlebt, statt gelebt haben, setzte sich die Band bewusst zur Wehr. Sie verkörperten aber auch selbst die Dinge, gegen die sie auf die Barrikaden gingen—Zynismus, Wut und Verzweiflung: die drei Worte, die wohl am häufigsten verwendet werden, um ihr drittes Album The Holy Bible zu beschreiben.

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Das Album, das diesen Monat sein 20-jähriges Jubiläum feiert, ist nicht nur als eigenständiges Kunstwerk wichtig, sondern stellt auch das letzte Album dar, auf dem Richey Edwards—Gitarrist der Band und bis dahin für einen Großteil der Texte verantwortlich—mitwirkte, bevor er am 1. Februar 1995 verschwand. The Holy Bible—das von Nicky Wire als „voll von Abscheu für die Menschheit“ beschrieben wurde—war ein schonungsloser Ausbruch von Richeys Kampf mit Depression, Alkoholmissbrauch, selbstverletzendem Verhalten und Magersucht. Als das Album veröffentlicht wurde, war er in das Priory Hospital in Roehampton eingewiesen worden.

Wie bei Ian Curtis, Kurt Cobain und allen, die vor ihm kamen, durchzieht auch Richey Edwards’ Erbe eine Mixtur aus Tragik, Rätselhaftigkeit und Romantik. Wie könnte es auch anders sein? Seine Texte waren von einer wunderschönen Brutalität—eine Kombination aus Camus, Rimbaud und Ballard—und gleichzeitig war die Stimme, mit der er sprach, von einer weichen Monotonie, beinahe schüchtern. Er war schlau und charmant—ein Dylan Thomas von klassischer Schönheit mit einer weniger furchteinflößenden Stimme—und die Leute vergötterten ihn. Er war so zart, dass er als Kind von allen „Teddy Edwards“ genannt wurde. Die Darstellung von ihm als „gequälter Künstler“ mit Bambi-Blick scheint allerdings wenig zutreffend zu sein. Das liegt nicht nur daran, dass das Bild des „gequälten Künstlers“ totaler Mist ist, sondern auch daran, dass es unmöglich ist, über die Persönlichkeit von jemandem zu reden, ohne die Aspekte in Betracht zu ziehen, die diese erst geformt haben.

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Richey hat den Menschen so viel bedeutet, weil er offen, ehrlich und mit schwarzem Humor über Themen wie Depression und Magersucht sprach. In dieser Hinsicht ist es schwer, keine Parallelen zwischen dem Wesen seiner Persönlichkeit und den Gegebenheiten seiner sozio-ökonomischen Umgebung zu ziehen. In vielerlei Hinsicht war seine Depression sowohl eine Reflektion der zusammenbrechenden Wirtschaft als auch eine künstlerische Sehnsucht. Er hielt sich selbst von vielen Dingen fern, aber nur, weil er diese allzu gut durchschaut hatte.

„Wir waren immer schon zynisch und unglücklich“, sagte Nicky 2008 gegenüber dem Guardian. „Wir verkörpern dieses destruktive Element der Arbeiterklasse, vermischen gewaltige Intelligenz mit nihilistischer Zerstörung“—eine Perspektive, die mit The Holy Bible ihren Höhepunkt fand. Richeys Texte auf dem Album sind so tiefgehend und brutal, dass die erste Reaktion von Sänger James Dean Bradfield darauf war, als er sie las: „Du verrücktes Arschloch, wie soll ich bitte Musik dazu schreiben?“ Diese „Verrücktheit“ war aber offensichtlich etwas, mit dem alle in der Band in gewisser Weise etwas anfangen konnten, denn das Album wird mit einem Song eröffnet, der aus der Perspektive einer Prostituierten geschrieben ist und mit der Textzeile „For sale? Dumb cunt’s same dumb questions“ beginnt. Komischerweise ging der Plan, diesen Song als vierte Single zu veröffentlichen, nicht ganz auf.

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Die Isolation, die dadurch entstehen kann, dass man in seiner persönlichen Umgebung gefangen oder komplett abgeschieden von ihr ist, ist eine sehr reale und Richey war einfach großartig darin, die Dinge aus der Perspektive einer anderen Person darzustellen, die er hässlich, wunderschön oder beides zugleich fand. Es war beinahe eine Form von sadistischem Eskapismus. Besagte Perspektive konnte die eines Politikers oder einer Prostituierten sein—das war egal. Der Punkt, um den es ging, war meistens derselbe: Menschen sind das Schlimmste.

The Holy Bible ist durchzogen von einem von der Romantik inspirierten Kontrast zwischen der Hässlichkeit der menschlichen Natur und der Schönheit der Natur selbst. „4st. 7lbs“ beschäftigt sich zum Beispiel nicht nur mit der offensichtlichen Thematik der Magersucht, sondern auch der damit zusammenhängenden Vorstellung, dass der Körper eine Hülle ist, die niemals sauber sein kann und dass die Menschen grundsätzlich verdorben sind—„ I want to walk in the snow/And not leave a footprint/ I want to walk in the snow/And not soil its purity.“ Und dieses Verlangen nach unerreichbarer Reinheit kann vielleicht auf die Art von Kindheit zurückgeführt werden, die du in einer abgelegenen Gegend wie Blackwood hast.

„Ich weiß nicht, vielleicht ist es das, was uns versaut hat“, sagt James im Manic Street Preachers-Buch In Their Own Words. „Nicht, dass wir schlimme Kindheiten hatten, unsere Kindheiten waren eher zu gut. Es gab dieses Gefühl von Freiheit—wir haben nicht nur Bücher gelesen oder Filme geschaut, also Kultur aus zweiter Hand konsumiert. Wir haben Dämme gebaut, im Dreck gespielt, solche Sachen—was rückblickend viel erstrebenswerter ist… Ich nehme an, dass es daher kommt. Diesen Sinn für Freiheit kannst du einfach nicht aufrechterhalten.“

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Die walisischen Täler sind mittlerweile wieder grüner, allerdings nur oberflächlich. Die Selbstmordrate in Wales ist zwischen 2009 und 2011 um 30% gestiegen und die Verschreibung von Antidepressiva in den letzten sechs Jahren sogar um 100%. Offensichtlich sind Rezessionen besonderer Dünger für Selbstmordraten, denn die psychologischen Effekte von ökonomischem Rückgang, gepaart mit einem mangelnden Zugang zu Dienstleistungen, setzen das Gesundheitssystem zusätzlich unter Druck und Leute, die unter Depressionen leiden, umso mehr. In vielen Gegenden ist die Zeit in den letzten drei Jahrzehnten sowieso stehen geblieben—man ist in einem Kreislauf stecken geblieben, in dem Ambitionen beinahe ausgemerzt wurden und Kindern beigebracht wird, in die Fußstapfen ihrer Eltern zu treten, um das selbe halbherzige Erbe anzutreten. Für all diejenigen, die dort gerade leben, ist es nicht schwer, sich vorzustellen, wie es war, in einer vergangenen, noch schlimmeren Zeit zu leben—alles was du tun musst, ist dich umzusehen und dich zu fragen, woher das kommt. „Irgendetwas in der walisischen Psyche lehnt den Erfolg ab“, sagte Nicky und verglich die Musik der Manics mit der von anderen walisischen Künstlern wie den Super Furry Animals, „es gibt diesen selbstzerstörerischen Charakterzug. Die Gegend ist übersät mit Leuten wie uns.“

Hätten die Dinge sich anders entwickelt, wenn sie ihre Wurzeln irgendwo anders hätten—irgendwo, wo es idyllischer ist? Musikalisch gesehen ist das fast sicher. Im Hinblick auf Richey Edwards’ Leben ist das unmöglich zu beantworten und unfair zu fragen. Die Tatsache bleibt bestehen, dass Richey einen Großteil seines Lebens als Erwachsener damit verbracht hat, diverse Dämonen zu bekämpfen, die ihn vermutlich besiegt haben. Und wenn wir etwas aus dem Tod von Robin Williams gelernt haben, dann, dass die Medien wenig Ahnung haben, wie sie mit so etwas umgehen sollen. „Je älter du wirst, desto jämmerlicher wird das Leben“, sagte Richey einem arroganten, kichernden Journalisten im Jahr vor seinem Verschwinden. Vielleicht fasst das zusammen, wie die meisten Leute mit psychischen Erkrankungen umgehen—als etwas, über das man so beiläufig Witze macht wie über die Persönlichkeit von Liam Gallagher. Und vielleicht ist dieser Mangel an Empathie eine noch größere Bedrohung für Leute wie Richey als jede Form von politischer Gesetzgebung.

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Bevor Richey verschwand, überreichte er Nicky einen dicken Ordner mit Bildern von Bugs Bunny auf der Vorderseite und dem Wort „Opulenz“ darauf gekritzelt. Darin fanden sich Unmengen an Texten, Lyrik, Collagen, Auszüge von Ballard und Kerouac—etwas Persönliches, das er offensichtlich über einen langen Zeitraum zusammengestellt hatte. Er hat Kopien davon gemacht und sie James und Sean gegeben. Sechs Monate nachdem The Holy Bible erschien, verschwand Richey, fast so als hätte er sich komplett in das Album gestürzt und das, was übriggeblieben ist, seinen Freunden übergeben. The Holy Bible wird mittlerweile als eines der größten Alben in der Geschichte der alternativen Musik angesehen.

Richey Edwards hat ein Erbe hinterlassen, das weiterhin ebenso inspirieren und trösten, wie verblüffen wird. Aber wir sollten vorsichtig damit sein, ihn und sein Erbe zu etwas so zweidimensionalem wie einem „gequältem Künstler“ zu machen, wenn er doch so viel mehr als das war. Richey Edwards war kein gequälter Künstler, er war ein Kind von Depressionen—sowohl medizinisch als auch ökonomisch—der in der Lage war, einen hoffnungslosen Zustand zu etwas Schönem und Anhaltendem zu machen.

Fotos von John Carter und Kieran Owen

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