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Das Schlager-Openair war der beste Tag meines Lebens

Helene Fischer, Quadratballen-Presse und Fröschlis—die Schweiz veranstaltet die seltsamsten Festivals der Welt. Paradiesisch.

Wir wollten uns integrieren, wirklich. Doch schon als wir in Flums angekommen waren, mussten wir feststellen: Wir sind total underdressed. Oder overdressed? So richtig entscheiden konnten wir uns zwischen all den Karohemden, Lederhosen und Appenzeller-Kuh-Gürteln nicht.

Wir gaben trotzdem unser bestes, kippten im Shuttlebus Feldschlösschen als Integrations-Schmiermittel und überlebten gemeinsam mit Ballermann meets Musikantenstadl-Jugendlichen die endlose Fahrt über Bergstrassen.

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In Flumserberg pissten wir als erstes auf ein paar Kuhfladen, denn wir meinten es mit der Integration wirklich ernst. Ein erstes Erfolgserlebnis: Bestätigende Freudenschreie von Post-Midlifecrisis-Damen.

Zwischen Sommerrodelbahn, Schweinestall und Gipfelkreuz quetschten sich unsere 17000 neuen Freunde vor einer Bühne. Die restlichen 1000 liessen ihren Hass über halbstündige Gastro-Wartezeiten und „Preise wie in Zürich“ (Ein 4-Dezi-Bier kostete 5.50.) am Barteam in pinken Augenkrebs-Shirts aus.

Bier tranken aber sowieso nur die Amateure. Die Schlager-Profis schwankten mit grünen Pfefferminztee-Wodka-Mischungen—von den Eingeborenen liebevoll „Fröschli“ genannt—durch den Matsch.

Wir blieben beim Bier und verschafften uns einen Überblick: Gute Laune TV-Zelt, "Dem Land Tirol die Treue"-Unterwäsche am Merchandise-Festbank, Schweizerkreuz-Käppis.

Während eine wasserstoffblonde Landschönheit von einigen Karohemden für den Wurf eines „Fröschli“-Teebeutels an die Zeltdecke grölend gefeiert wurde, litten wir am ersten Integrations-Overkill. Wir flüchteten zum abseits gelegenem Gipfelkreuz und sammelten Kraft—begleitet von „Was ist das wichtigste beim Skifahren?—Après Ski!“-Rufen—für den Campingplatz-Rundgang.

Auf dem Campingplatz erwartete uns ein ein Polterabend-Absolvent in zerfetztem Shirt und Arschbacken-befreienden Boxershorts. Eine Spezies, auf deren Schlagerfestival-Besuch wir hunderte von Franken gesetzt hätten, wartete ein paar Zelte weiter nur auf uns. „Hey! Ihr! Was presst ihr?!“, sprach sie uns auf unsere Presse-Badges an. „Sicher Quadratheuballen!“

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Der Versuch mit galanten Sprüchen à la „Wir kommen aus Liechtenstein. Das einzige was wir pressen ist Geld.“ ihre Gunst zu ergattern scheiterte. „Hey! Ihr! Was presst ihr?! Sicher Quadratheuballen!“ raunte es über den ganzen Campingplatz.

Den Quadratheuballen nachrätselnd zogen wir weiter. Zelt für Zelt versuchten wir, die Riten der Schlagerfans zu verstehen: Warum zeltet man bei einem eintägigen Openair irgendwo auf 1400 Meter über Meer?

Langsam sank unsere Stimmung: Der Zugang zur VIP-Tribüne wurde uns verweigert und zur Krönung gab der Sohn von Wolfgang Petry Weisheiten wie „Frauen wollen immer das eine“ von sich. Was machen wir eigentlich hier?

Hoffnung schenkte uns Gute Laune TV. Wieder beim Gipfelkreuz, unserem Safe Haven, angekommen, nahmen sie dort gerade eine Anmoderation auf. Für ihre Wunschkonzert-Sendung warteten sie auf „zufällig“ vorbeikommende Wanderer.

Wir packten unsere Chance die Schlagerwelt über die Elite zu erobern beim Schopf. „Ich stehe hier und da wandert ganz zufällig der Sebastian vorbei“, grinste die Moderatorin in den Sonnenuntergang.

Für einen kurzen Moment interpretierte ich ihr debiles Lachen als Outtake, fing mich aber gleich wieder. Wunderschön sei das Wandern hier in der Bergwelt und wenn sie mich schon so frage, wünschte ich mir doch meine Lieblingskünstlerin Annett Louisan.

Der Kameramann prophezeite mir noch eine grosse Karriere und schon war das Team wieder weg. Wir hatten es geschafft, wir waren Teil der Szene!

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Auf die Helene warteten alle hier. Die Helene war das Schlagerfestival. Dass die anderen Bands mit einem Alpkäse als Geschenk abgespeist wurden? Egal. Dass die Hängetitten der Groupie-Omis in der ersten Reihe zuvor fünf lange Stunden an die Absperrgitter des Bühnengrabens gedrückt wurden? Egal. Jetzt war sie da. Ihr goldenes Haar wehte in der frischen Alpenluft.

Ihre Stimme schenkte den Massen Wärme. Die Queen wurde zur Göttin. Und alle beteten sie an. Es wurde geklatscht, gekreischt, gefilmt. Wir standen keine fünf Schritte von der Helene entfernt. Und dann geschah, wovon jeder Schlagerfestival-Besucher träumte. Die Helene zeigte auf uns.

Erfüllt vom wärmenden Gefühl mehr als nur ein Teil der Schlagerwelt zu sein, liessen wir die Helene hinter uns.

Während im Restaurant vor dem Gelände die letzten „Atemlos durch die Nacht“-Schreie ihren Weg in die St. Galler Bergwelt suchten, dachten wir: Schlagermenschen sind gute Menschen und schenkten unsere Presseausweise ein paar vodkasaufenden Kiddies ohne Tickets.

Mangels Shuttlebussen quatschten wir den nächstbesten Typen wegen der Rückfahrt an. Klar, meinte der und wir begleiteten den Schönling im blauen Samtsakko zu seinem SUV. Dort verriet er uns ein Geheimnis: Geschäftsführer vom aufsteigenden Schlagersender Melodie TV sei er.

Und darum wisse er bestens über unsere Helene Bescheid. Für einen Auftritt bekomme sie Gagen im oberen fünfstelligen Bereich—mehr als verdient! Aber auch sonst wusste er vieles: Sein Label verkaufe fünf Millionen CDs pro Jahr, obwohl die goldenen Zeiten vorbei seien und der Hinterseer Hansi soll es im vergangenen Sommer mit knapp 5000 Scheiben in die Top 3 der deutschen Album-Charts geschafft haben.

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Wir blieben glücklich und euphorisch wie ein Schlagerhit, als wir mit unserem verbeulten VW Golf in die Zivilisation zurückgefahren sind.

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