In Camerons World lebt das psychedelische Internet der frühen 90er weiter
Null Usability, maximal opulente Grafiken. Alle Bilder: Screenshot Cameron's World

FYI.

This story is over 5 years old.

Tech

In Camerons World lebt das psychedelische Internet der frühen 90er weiter

Ein neuseeländischer Designer schenkt dem Internet einen riesigen GeoCities-Spielplatz als Erinnerung an eine kreative Ära jenseits von Usability und Minimalismus-Geboten.

GeoCities war ein beliebter Webhostingdienst, mit dem Menschen auch ganz ohne HTML-Kenntnisse oder Geschmack ihre eigenen fröhlichen Websites bauen konnten. Der neuseeländische Grafikdesigner Cameron Askin hat diesem einzigartigen Un-Ort voller Frames, wackelnder Grafiken und kaputten Links einen Liebesbrief gecodet.

Sein Projekt Cameron's World ist eine bombastische Erinnerung an die unzähligen privaten Homepages, die das Internet in den neunziger Jahren bevölkerten. Animierte Mauszeiger, rotierende Gifs und zahllose „Under Construction"-Balken waren das Inventar, das den Nischenseiten von Gillian Anderson-Fans, Hobby-Astrologen und den Produzenten einzigartiger Frettchen-Plexiglas-Türbarrikaden ihre ganz eigene, ziemlich wilde Ästhetik gaben.

Anzeige

„Heute sehen alle Websites mehr oder weniger gleich aus", sagte Cameron dem Online-Magazin Fusion. Seine Seite soll deshalb einen bewussten Gegenpol zu der gebrandeten und konsistent durchgestalten Umwelt bilden, mit wir heute im Netz interagieren.

Cameron wühlte sich mit einem kleinen Chrome-Plugin, das Hunderte von Tabs gleichzeitig öffnen kann, durch die verborgenen Schätze der Neunziger, die die Wayback Machine so pflichtbewusst für die Nachwelt archiviert hatte.

Wir verbeugen uns vor den schönsten Absturzkaschemmen: Die Webauftritte alter Eckkneipen sind Portale in eine andere Zeit

Da Cameron die über 760 Gifs auf seiner Projektseite unmöglich alle selbst machen könnte, bediente er sich einfach an den Archiven von GeoCities und fügte sie zu Collagen zusammen, die thematisch geordnet sind: Religion, Sex, Tiere, Autosport-Fans, Fantasy, japanische Popkultur und radebrechendes Englisch, das alles gespickt mit typischen Elementen und Zitaten von privaten Homepages („Willkommen in meiner Welt!!! Sieh dich gerne um.") aus der Netscape-Ära.

In seiner Collage bringt der momentan in Berlin lebende Designer das archivierte Material von Abertausenden ersten Gehversuchen der digitalen Repräsentation als knallbuntes Konzentrat zusammen. In zwanzig Jahren, so glaubt Cameron, werden wir ein zweites Internet brauchen—das dann komplett nur für Katzenvideos reserviert wäre.

Bis dahin sorgen verschiedene Projekte wie Reocities.com oder das Kunstprojekt One Terabyte of Kilobyte Age (von dem auch Cameron seine Inspiration bezog) dafür, dass uns die Ästhetik des GeoCities-Webdesigns zwischen HTML-Editor, MIDI-Hintergrundmusik und Designbaukasten in seiner gesamten multimedialen Pracht erhalten bleibt.

Anzeige

Bei Cameron's World funktionieren übrigens auch Links: Sie führen zu den in mühevoller Handarbeit archivierten Überresten der ursprünglichen persönlichen Websites und in die teilweise bizarre Ecken des „alten Internets".

Von 1994 bis zu seiner Schließung 2009 enstanden auf GeoCities 38 Millionen individuelle Websites. Der US-Dienst war kein soziales Netzwerk, aber doch nicht gänzlich unverbunden: Der Dienst war nämlich in Gebiete aufgeteilt, die „Nachbarschaften" hießen. Websites in der Area51-Nachbarschaft beschäftigten sich beispielsweise mit Aliens, Science Fiction und Verschwörungstheorien. Entsprechend hat auch Cameron sein Projekt nach thematischen Blöcken sortiert.

Zusammen mit dem für das Backend verantwortlichen Entwickler Anthony Hughes arbeitete Cameron insgesamt elf Monate an seinem Nebenprojekt. „Esist ein Tribut an die verloren Tage der ungeschliffenen Selbstdarstellung", schreibt Cameron in einem Begleittext. Jetzt darf Archive.org nur nicht vegessen, diesen wunderbar aufdringlichen Friedhof des Oldschool-Internets für die Zukunft mitzuarchivieren.