FYI.

This story is over 5 years old.

Popkultur

Endlich Krieg in der Schweiz!

In 'Chrieg' werden Punks wie Hofhunde gehalten und Szenis mit Gasgranaten beworfen. Damit ist der Film wahrscheinlich auch der erste, der es wirklich schafft, die Postkarten-Schweiz abzufackeln.
Alle Stills zur Verfügung gestellt von ,Chrieg‘

Ich habe eine ungesunde Tendenz dazu, neue Schweizer Filme und Bücher als endlich geschaffte Überwindung des Schweizerischen anzupreisen. Alles, was nicht wehtut, ist in der Schweiz gross: Literarische Lebenswerke über den Jura-Südhang (wer den Autor kennt, bekommt von mir eine mit Kaffeeflecken verschmierte Ausgabe des SVP-Wahlprogramms 2015) und lustige „Wir waren alle in der RS/an der Metzgete/am Dorf-Fischessen"-Filme mit Matthias Gnädinger und/oder Marco Rima.

Anzeige

Chrieg von Simon Jaquemet, der morgen in den Schweizer Kinos anläuft, schafft es aber tatsächlich die Postkarten-Schweiz abzufackeln. Wenn ein 18-jähriger Zürcher Nachwuchschauspieler angekettet Geissendreck fressen muss und das „Fiffi" hinterher noch zusammengestaucht wird, sollte das eigentlich in allen Nicht-Zürchern Wohlbefinden auslösen, aber das ist nicht so.

Nach 20 Minuten Film habe ich gedacht, dass ich das nicht aushalte. Dass ich jetzt eigentlich lieber Frank Underwood dabei zuschauen würde, wie er den Alzheimer eines Richters am obersten Gerichtshof in seine Machtgier einplant. Und zwar nicht, weil Chrieg nicht packend ist, sondern weil jede Minute Chrieg so wehtut, wie die Fight Club-Szene, in der Edward Norton das Gesicht des Schönlings zertrümmert oder die Scarface-Szene mit dem Kettensägen-Mord. Chrieg bringt den Krieg in die Schweiz.

Und zwar nicht den Pathos-Krieg in Uniformen, sondern den Krieg „Alle gegen alle". Den Krieg gegen die Eltern, den wir sonst mit der Soundanlage und dem einen oder anderen Verbalausraster führen. Den Krieg gegen die Szenis, die genug Geld für ewig lange Kokslines haben. Den Krieg gegen die Typen im Ausgang, die wissen wie man an die gefühlten 10 Prozent der Frauen im Raum rankommt.

Den Krieg gegen die Postkarten-Schweiz, die all diese Kriege verleugnet. Und „Chrieg" in Mundart tönt noch viel schlimmer als das deutsche Wort Krieg. Das Wort tönt schlimmer als alle Schreie eines vergewaltigten Sennentuntschis.

Anzeige

Endlich sagen Skinheads, Punks und andere Gestalten, die im Verdacht stehen, das erste Mal mit einer dominikanischen Nutte gehabt zu haben, dass es ihnen reicht. Und endlich treten, schlagen und zerstören sie ohne Grund und Rücksicht auf Verluste.

Dieser Film ist insofern auch das Gegenteil von Die fetten Jahre sind vorbei, dem Hypefilm meiner eigenen Frühjugend. Dort werden die Mittzwanziger aus Idealismus kriminell, spielen Robin Hood meets Attac. In Chrieg kämpfen Spät-Teenies für den Kampf an sich, schmeissen Gasgranaten in die tanzende Züri-Szene-Clubmeute und geben sich als minderjährige Strassenprostituierte aus, damit der Kumpel endlich seinen Vater spitalreif prügeln kann. Chrieg zeigt also eher Thomas Hobbes meets Fight Club, ist American History X, ohne dass ich als Zuschauer die Gewalttäter als Nazis abstempeln kann. Es ist so wie der 80er-Punkfilm Eat The Rich wäre, wenn … Eat The Rich nicht einfach ein verdammter Scheiss wäre.

Es ist die Untergangsfantasie alles Schweizerischen. Ich fühlte mich beim Schauen wie um 5 Uhr früh am Morgen nach der Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative, als ich das Leben in der Hüsli & Gärtli-Schweiz mit dem Dauerschauen eines Vergewaltigungspornos verglich. Was mir im Alltag und in der Politik als Horrorfantasie gilt, finde ich im Kino—mit etwas mehr künstlerischem Anspruch als in der Porno-Industrie—gut. Sehr gut sogar.

Chrieg läuft ab 12. März 2015 in den Schweizer Kinos.

Benj auf Twitter: @biofrontsau

Vice Switzerland auf Twitter: @ViceSwitzerland