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Warum unsere Vorfahren wirklich zu Kannibalen wurden

Warum griffen Urmenschen manchmal lieber zum Nachbarn als zum Mammut? Eine neue Studie liefert Erklärungen, die über die reine Kalorienzufuhr hinausgehen.
Gebissreste mit Schnittwunden, einem Anzeichen für Kannibalismus, in der Gough's Cave. José-Manuel Benito Alvarez | Wikimedia Commons

Die Urmenschen, die vor Zehntausenden von Jahren den europäischen Kontinent bevölkerten, hatten es nicht leicht: Sie mussten die richtige Höhle zum Leben finden, den passenden Partner bezirzen und sich außerdem noch Sorgen machen, vom eigenen Nachbarn gegessen zu werden.

An verschiedenen Fundorten finden Archäologen Hinweise auf Kannibalismus in der Altsteinzeit. Neue wissenschaftliche Ergebnisse deuten nun darauf hin, dass es sich in diesen Fällen scheinbar nicht nur um sogenannten Überlebenskannibalismus handelte, wie bisher oft angenommen wurde. Im Gegensatz zu Fällen aus der jüngeren Geschichte, handelten unsere Urahnen also nicht ausschließlich aus der Not heraus, weil keine anderen Nahrungsquellen vorhanden waren. Ein neues Paper aus dem Fachmagazin Nature Scientific Reports gibt nun mehr Aufschluss über die komplexen Gründe, warum unsere Vorfahren wie der Neandertaler und Homo erectus gelegentlich ihre Artgenossen verspeisten.

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Am hohen Nährwert von Menschenfleisch kann es schonmal nicht gelegen haben, denn „wir sind nicht gerade sehr nahrhaft", erklärte der Verfasser der Studie, James Cole, gegenüber Motherboard.

Um dem Geheimnis des steinzeitlichen Kannibalismus auf die Spur zu kommen, griff der Archäologie-Dozent der University of Brighton zu einer pragmatischen Methode: Er verglich die Kalorienwerte von Tieren, die in den Gebieten der kannibalistischen Funde heimisch waren, mit denen des Menschen. Seine Ergebnisse zeigen, dass der Verzehr von einem Kilogramm Mammut, Auerochse oder Bison etwa 2.000 Kalorien eingebracht hätte. Damit fällt das Ergebnis für den durchschnittlichen Menschen mit nur etwa 1.300 Kalorien pro Kilogramm Muskelfleisch verhältnismäßig mager aus.

Neben dem vergleichsweise niedrigen Kaloriengehalt sieht Cole noch andere Nachteile: „Wenn es sich um meine eigene Spezies handelt, dann ist sie auch so schlau wie ich. Meine Beute kann genauso schnell rennen wie ich und ebenso gut kämpfen", erklärt er. „Es könnte ganz schön schwierig sein, ein Mitglied meiner eigenen Spezies zu jagen und zu erlegen und im Gegenzug würde ich noch nicht einmal einen hohen Brennwert erhalten."

Auch wenn Cole durch den Kalorienvergleich zu dem Schluss kommt, dass sich Kannibalismus schlichtweg nicht lohnt, kam er in der Altsteinzeit erwiesenermaßen regelmäßig vor. Cole vermutet daher, dass komplexere Gründe hinter dem Kannibalismus stecken, als bisher gemeinhin angenommen wurde. Daher untersucht er in seiner Studie neun unterschiedliche archäologische Fundstätten, an denen Hinweise auf kannibalistische Vorfälle gefunden wurden.

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„Es könnte ganz schön schwierig sein, ein Mitglied meiner eigenen Spezies zu jagen und zu erlegen und im Gegenzug würde ich noch nicht einmal einen hohen Brennwert erhalten."

„Ein Antrieb zum Kannibalismus könnte so lauten: 'Wir haben hier unser Territorium, diese Leute dort dringen aber in unser Gebiet ein. Dagegen müssen wir etwas unternehmen'", meint Cole. In anderen Fällen könnte der Kannibalismus auch Teil eines Rituals gewesen sein, wie die Gough's Cave Ausgrabung im englischen Somerset zeigt. An der 14.700 Jahre alten Fundstelle wurden die menschlichen Überreste von fünf Personen gefunden, die offensichtlich kannibalistischen Praktiken zum Opfer gefallen waren. Allen Anzeichen nach wurden die Körper verspeist, die Schädel jedoch gesäubert, konserviert und als Trinkgefäße genutzt, wie die Forscherin Silvia Bello in einem Paper beschreibt.

„Vermutlich waren die menschlichen Schädel Teil eines Rituals, doch die Körper wurden in einem Akt von Kannibalismus verspeist", erklärt Cole.

Über die Jahre hat die Wissenschaft einige Theorien aufgestellt, warum wir ein Mitglied unserer eigenen Spezies essen würden. Cole erklärt, dass mit der Zeit ernährungstechnische, medizinische, rituelle, kriegerische und sogar psychotische Gründe, „wie bei Hannibal Lecter", für den Kannibalismus in Betracht gezogen wurden.

Coles Ergebnisse legen nahe, dass es keine einfache Antwort auf die Frage gibt, warum unsere Urahnen kannibalistische Tendenzen zeigten. Cole ist der Meinung, dass sie aus komplexen Motivationsgründen heraus handelten: „Das Verhalten dieser menschlichen Spezien war genauso vielfältig, wie es unser eigenes heute ist."

Inzwischen wissen wir, dass Neandertaler Schmuck trugen und ihre Toten beerdigten, warum sollten wir ihnen dann nicht auch differenziertere Beweggründe für ihre kannibalistischen Züge zugestehen, als die bloße Kalorienzufuhr? Cole ist jedenfalls der Meinung, dass die Archäologie sich stärker mit dieser Komplexität auseinandersetzen muss.