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Syrial Killing ist ein Film über das Töten von Syrern

Syriens vollkommen ignorierter Freiheitskampf wird euch von Johann Rousselot anhand tausender brutaler Amateuraufnahmen nähergebracht.

Während wir uns widerwillig auf den Herbst zubewegen, fühlt sich der arabische Frühling schon fast wie ein Aufbegehren aus der Vergangenheit an. Das ganze Blutvergießen, die Gewalt und die Opfer scheinen nur noch in den Archiven der Presse (und natürlich in unglaublichen Aufnahmen und Dokumentationen) zu existieren. Aber während sich Libyen nun an der warmen Brust der internationalen Staatengemeinschaft labt, im postrevolutionären Ägypten die Korruption um sich greift und in Tunesien der ehemalige Herrscher in einer gestellten Gerichtsshow beschimpft wird, erlebt die Welt in Syrien noch immer die brutale Fratze einer Diktatur.

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Fotojournalist Johann Rousselot hat im Mittleren Osten ein wenig für Unruhe gesorgt und eine sehr ausführliche Internetdokumentation mit dem Titel Syrial Killing gedreht. Sie zeigt die grässlichen Bilder der Unterdrückung, die die syrischen Menschen in den letzten sechs Monaten ertragen mussten. Zusammengestellt aus Amateuraufnahmen, die von einer Handvoll syrischer Jungs und Mädchen im Netz verbreitet wurden, legt Johanns zehnminütiger Film offen, was der Großteil der westlichen Welt (oder zumindest deren Medien) mehr oder weniger ignoriert haben.

Wir haben uns mit Johann auf ein Gespräch getroffen.

Vice: Hallo Johann! Kannst du uns bitte was über Syrial Killing erzählen?

Johann: Ich habe letztens eine Woche in der Provinz Hatay in der Türkei verbracht, wo ich mehrere syrische Flüchtlinge getroffen habe. Ich wollte dort Material für einen Film über die arabische Revolution sammeln, in dem ich mich vor allem auf die Rolle, die die Informationstechnologie während des Frühlings spielte, konzentrieren wollte. Ich war schon in Tunesien und Libyen, aber ich war frustriert, weil ich Syrien nicht betreten durfte. Aber durch die Flüchtlinge bekommt man blutige Videos zu sehen …

Es sind ein paar ziemlich furchterregende Szenen dabei.

Die Dinge, die du in diesen grässlichen Videos siehst, gehören zum normalen Alltag, seitdem die Aufstände anfingen. Daher dachte ich, dass mein bester journalistischer Beitrag die Zusammenstellung eines eigenen Films wäre, der auf diesen tausenden von Amateuraufnahmen basiert.

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Hast du dich während der Arbeit an Syrial Killing dazu entschieden, irgendetwas auszulassen?

Nein. Das härteste war, einen ganzen Tag lang die „besten“ Szenen anzuschauen und zu schneiden … Normalerweise möchte ich keine spektakulären, schockierenden oder blutigen Szenen in meinen Arbeiten, sondern bevorzuge eine sanftere und tiefere Herangehensweise. Aber die Situation in Syrien ist so brutal, dass man es nicht anders zeigen kann. Diese Videos und der Schrecken, den sie verbreiten, geistern seit sechs Monaten in den Köpfen der Flüchtlinge herum.

Warum wolltest du die arabischen Aufstände dokumentieren?

Als ich Anfang Januar über die Geschehnisse in Tunesien las, merkte ich, wie ich anfing zu zittern. Ich fühlte, dass dieses Ereignis etwas Großes war. Besonders bewegt war ich davon, wie schön die Demonstrationen auf den Straßen von verärgerten, aber friedlichen Menschen anzusehen waren. Außerdem ist Tunesien sehr nah an Frankreich, daher war die Reise nicht so teuer und alle sprechen sowieso französisch. Und dabei zu sein, wenn ein Diktator gestürzt wird, und die Atmosphäre mitzuerleben, die in einem gerade befreiten Land von den Menschen dort ausgeht, war eine große Motivation.

Die Situation in Syrien ist offensichtlich eine ganz andere. Wie waren die syrischen Flüchtlinge im Vergleich zu den Aufständischen in Tunesien?

Das ist eine interessante Frage. Am ersten Tag konzentrierte ich mich auf den Aspekt Cyberwar. Aber ich merkte schnell, dass sie überhaupt keine Spezialisten waren und mir kaum etwas erzählen konnten im Gegensatz zu den tunesischen Cyberaktivisten, die ich im Februar getroffen hatte. Über Anonymous oder Proxies zu reden, brachte mich nicht voran. Für sie war nur eins wichtig: der Welt diese Videos zu zeigen. Das brachte mich zur der Frage: Seid ihr nach sechs Monaten nicht entmutigt und wieso setzt ihr noch immer eure Hoffnung auf YouTube, Videos und das Internet?

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Was haben sie geantwortet?

Sie waren in der gleichen Stimmung wie ich. Die meisten fingen an, die Macht des Internets anzuzweifeln, weil sie dessen Grenzen entdeckten und erkannten, dass die Armee mit ihren Waffen noch immer stärker war als Kommunikation und Nachrichten.

Ist es das, was dich als erstes dazu brachte, den arabischen Frühling zu dokumentieren? Die Frage nach der Macht und den Grenzen von Facebook, Youtube und anderen Websites?

Ja. Ich habe meinen kleinen Film um den Ansatz herum aufgebaut, diese tägliche Horrorshow zu zeigen. Ich kam zu dem Schluss, dass all das ein schrecklicher Skandal war, aber nicht schrecklich genug, um die internationale Gemeinschaft wachzurütteln. Also wollen wir jetzt weiter kämpfen und den Weg Libyens gehen.

Sind die Menschen in Syrien weniger vernetzt als in Tunesien oder Libyen damals?

Ja, es scheint zumindest so.

Warum ist das so?

Internet gibt es erst seit kurzem in Syrien. Sie nutzen Facebook erst seit einem Jahr. Und das Bildungsniveau ist nicht so hoch wie in Tunesien.

Einige Aufnahmen in deinem Film sind vom Nachrichtensender Ugarit News. Es gibt wenig Informationen darüber im Internet, aber den Bildern nach zu urteilen, kann man annehmen, dass es kein staatlicher Sender ist …

Ich habe grade mit einem von ihnen ein Interview über Skype geführt, auch wenn sie Decknamen benutzten und ihren Aufenthaltsort nicht verrieten. Es sind etwa zehn Leute aus der syrischen Diaspora, Exilanten. Sie sind sehr vorsichtig und argwöhnisch. Sie bekommen die Videos per Satellitenübertragung, per Facebook oder über Proxies.

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Als du den Film zusammengestellt hast, gab es da Probleme mit Urherberrechten oder andere legale Hindernisse?

Nein, keine legalen Hindernisse, nur der Geist der Revolution. Es wäre auch ziemlich daneben, wenn syrische Aktivisten ihr Urheberrecht schützen wollten. Erst Assad vertreiben und dann Urheberrechte dafür beantragen. Also ich bin jetzt kein syrischer Aktivist und ich beanspruche immer eine gewisse Art von Anerkennung für meine Werke. Aber ganz ehrlich, diesmal habe ich keinen Film gedreht um meine Karriere voranzutreiben. Natürlich trägt es indirekt auch dazu bei. Aber ich fühlte mich so machtlos, dass ich die Geschichte über diese unannehmbare Situation wirkungsvoll erzählen musste. Also fing ich zunächst an, so viele Informationen wie möglich zu verbreiten. Ich dachte sogar darüber nach, einigen Politikern Emails zu schicken, aber das ist nutzlos. Die wissen genau, was vor sich geht.

Eine Sache, die der Film vermittelt, ist dieses Gefühl von Isolation. Was von einer aufgelösten Demonstration übrig bleibt, sieht ziemlich einsam und traurig aus. Hast du Unterstützung für und während deiner Arbeit erfahren?

Ja, alles was der Revolution hilft, wird gerne gesehen. Darum hat mich auch mein Kontakt in Antakya in der Hatay Provinz nicht nach Geld gefragt. Er sagte: „Ich erledige nur meine Pflicht als Bürger“, aber am Ende habe ich ihm aus meinem Budget geholfen und ihm 150 Dollar für einen neuen Laptop gegeben.

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Das war sehr nett von dir.

Es brachte ihm seinem Ziel von 700 Dollar etwas näher, glaube ich.

In der zweiten Hälfte des Films gibt es ein paar Bilder von stark tätowierten Typen, die aussehen wie auf Steroiden. Kannst du uns etwas darüber erzählen?

Shabihas … sie sind der Inbegriff des Terrors. Es sind die gefährlichsten und furchteinflößendsten Typen, die persönlichen Leibwächter der Assad Familie.

Die Bilder sehen aus als würden sie aus Privatbesitz stammen, alle posieren darauf zusammen. Wie bist du daran gekommen?

Ich hatte vorher noch nie etwas von ihnen gehört, aber als mir mein Kontakt in der Türkei von ihnen erzählt hat, war es einfach, Aufnahmen von ihnen auf Youtube zu finden. Die Fotos gehören einem der Shabihas und wurden von einem Handy nach einer Straßenschlägerei aufgenommen. Der Typ rannte davon und ließ das Handy auf dem Boden zurück.

Sie sehen aus, als ob sie stolz auf sich sind, wie eine kleine Gang, richtig erschreckend.

Mein Kontakt erzählte mir, dass sie, wenn sie deine Papiere kontrollieren, es nicht mal merken, wenn sie sie falsch herum halten. Ob das der Wahrheit entspricht oder nicht, weiß ich nicht, aber anscheinend sind sie nicht besonders schlau. Es ist immer das gleiche System: ungebildete Typen, ehemalige Gefangene und Gangster, Langzeitarbeitslose und Jugendliche ohne Perspektive … du bietest ihnen Geld, weit über ihrem durchschnittlichen, monatlichen Einkommen, dazu noch Mädchen, lokale Macht, Autos und eine Wohnung und sie machen alles für dich. Sie stehen über dem Gesetz, sie können wirklich alles machen, was sie wollen oder wovon sie denken, das es für die nationale Sicherheit wichtig sei.

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Mit ihren großen Pranken haben sie zur Zeit bestimmt alle Hände voll zu tun.

Ihre Zahl steigt stetig seit der Revolution. „Shabiba“ bedeutet „Geist“ … eine Geistermafia. Aber nur eine Armee könnte etwas gegen diese Jungs ausrichten.

Glaubst du, dass so etwas passieren könnte? Ein bewaffneter Aufstand?

Natürlich. Ich bin mir sicher, dass es der nächste Schritt ist.

Glaubst du, dass der Film etwas verändern wird?

Oh nein, ein kleiner Film kann nichts verändern. Die Multiplikation von Filmen, Artikeln, Bildern … das hilft letztlich die Dinge voranzubringen, aber auch nur ein kleines Stück. Es nicht zu machen ist aber auch keine Lösung. Meine Arbeit gleicht der einer Ameise; tausende Ameisen, die an der gleichen Sache arbeiten, können etwas Großes erschaffen.

Schön gesagt.

Aber klar, der Bürgerkrieg steht vielleicht kurz bevor, man liest immer mehr über abtrünnige Truppen. Einige Städte haben Milizen aufgestellt und beschützen Bürger und Viertel gegen die Gewalt der offiziellen Armee.

Glaubst du, dass das globale Desinteresse (verglichen mit Ägypten, Tunesien und Libyen) entmutigend ist? Wissen die Syrer von der Wankelmütigkeit des Westens in Bezug auf die Krisenherde in der Region?

So weit ich das sagen kann, wollen sie kein Eingreifen von Außen, sie brauchen Waffen und Geld und dann werden sie den Job schon selber erledigen. Sie wissen, dass es nach sechs Monaten friedlicher Proteste sinnlos ist, den Weg genau so weiterzugehen.

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Hast du die Gewalt gesehen, als du dort warst?

Nein, ich habe keinerlei Gewalt mitbekommen, aber diese Menschen stehen einem der schrecklichsten Unterdrückungsapparate der Welt gegenüber. Aber was bleibst noch übrig? Krieg scheint die einzige „vernünftige“ Option zu sein. Assad hört auf niemanden, ihn interessiert es kein Stück, was die Welt sagt.

Warum glaubst du, wird darüber im Westen so wenig berichtet? Was ist der Unterschied zu den anderen arabischen Aufständen diesen Jahres?

Wow … die schwierige, geopolitische Logik, glaube ich und das Syrien keine Erdölvorkommen besitzt. Außerdem hat Syrien enge Verbindungen zum Iran und zur Hisbollah. Und Russland, Indien und China sind gegen ein Einschreiten der UN. Du weißt, wie bürokratisch das alles sein kann, also wird es sich sehr lange hinziehen. SEHR lange.

Ja, das ist sehr traurig. Was ist der nächste Schritt deiner Mission?

Ich bereite eine kleine Serie von Bildern vor, Porträts von syrischen Flüchtlingen … Vielleicht wird irgendein Magazin sie veröffentlichen.

Vielleicht.

Hier könnt ihr euch Johanns Syrial Killing ansehen.