Unsere Götter der Unterwelt: Roger Ballen und Die Antwoord

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Unsere Götter der Unterwelt: Roger Ballen und Die Antwoord

Wir haben mit dem Fotografen gesprochen, der Die Antwoord zu dem inspiriert hat, was sie heute sind.

„Das erste Mal Roger Ballens Fotos zu sehen, war wie ein Schlag ins Gesicht“, schreiben Yolandi und Ninja, die wilden Schönheiten von Die Antwoord, im ersten Satz des neuen Fotobandes, den Roger Ballen zusammen mit Die Antwoord herausgegeben hat: I Fink U Freeky. Dann geht es so weiter: „Was zur Hölle?“, „Wer sind diese Menschen?“ und „Jesus! Wer hat diese Bilder gemacht?“

Wie es bei großer Kunst zuweilen geschieht, hatte das Werk eine so starke Wirkung auf die beiden, dass sie ihre damaligen Projekte über den Haufen warfen und mit einem brillanten Plan von vorn anfingen. „Wir haben beide düstere und riskante psychologische Veränderungen durchgemacht, während wir zu den tiefsten Schichten unserer Seele vordrangen und der finsteren Seite unserer Identität näher kamen. Anstatt darüber nachzudenken, wie wir uns der Gesellschaft anpassen könnten, haben wir uns dafür entschieden, unseren eigenen, einzigartigen ,Fuck You‘-Pop zu machen. Wir nannten diese neue dunkle Pop-Band Die Antwoord.“

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Und so begann die Liebesaffäre zwischen einem der eindringlichsten und tiefsinnigsten Fotografen der Welt und den elektrisierendsten Tabubrechern der Musikgeschichte. Ihre Freundschaft geht so weit, dass Die Antwoord sagen: „Auf künstlerischer Ebene sind Ninja und Yolandi so etwas wie Roger Ballens kleine Punk-Schützlinge. Es wäre durchaus treffend zu sagen, dass Roger Ballen Die Antwoord zufällig hervorgebracht hat.“

Das Ergebnis ist in dem Song „I Don’t Need You“ verewigt, in dem Ninja geradeheraus sagt: „Mit dem Roger Ballen des Rap legt man sich nicht an.“

Der Gott der Götter, Ballen, sprach mit uns über die Arbeit, aus der dieses goldene Ei hervorging, darüber, wie es ist, bei Yolandi und Ninja zu essen, sowie über die Dreharbeiten zu ihrem berüchtigten Musikvideo „I Fink U Freeky“.

Roger Ballen in seinem Studio, Foto: Aske Rif 

VICE: Roger, erzähl mir, wie deine Freundschaft mit Die Antwoord begann.
Roger Ballen: Ich glaube, das war 2005. Yolandi schickte mir eine E-Mail, in der sie schrieb, dass sie meine Arbeit liebt und dass sie irgendwie mit mir zusammenarbeiten will. Sowas schreiben Leute mir ständig. Ich sagte: „Ich kenne dich nicht. Ich mache eigentlich keine Videos. Ich bin in Johannesburg.“—Sie waren zu der Zeit in Kapstadt. Aber Yolandi gab nicht nach. Wir sprachen hin und wieder über ein Video, aber es war wirklich nichts Konkretes.

Und dann?  
2010 fingen Leute an, mir zu schreiben und mich anzurufen, um mich zu fragen, ob ich etwas von dieser wahnsinnig erfolgreichen Band mitbekommen hätte, die meine Bilder und Zeichnungen benutzte. Sie wollten wissen, was ich dazu sage. Ich hatte keine Ahnung, wen sie meinten. Also kuckte ich nach und sah, dass sie es waren, Yolandi und Ninja. Ich konnte es nicht fassen.

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Warum?
Nun, wenn du mit Leuten über Ideen sprichst, weißt du nie, ob wirklich mal was daraus wird.

Dass du Die Antwoord inspiriert hast, macht sich sowohl auf ästhetischer als auch auf persönlicher Ebene bemerkbar. Hat es dich überrascht, dass die radikale und energische Transformation deiner Arbeit so einen starken Anklang in der Öffentlichkeit fand? 
Man kann diese Dinge unmöglich erklären. Manche Dinge funktionieren aus irgendwelchen Gründen einfach, es ist wie auf dem Aktienmarkt, niemand kann es vorhersagen. Im Grunde genommen ist das Leben ein Spiel ums Überleben, es ist der Urtrieb. Wir leben in lauten Städten, die entfremdend, dreckig und überfüllt sind; wir machen uns Gedanken über das neueste iPad oder das neueste Sushi-Restaurant. Wir haben Angst vor der Natur bekommen, aber unsere Seele lässt sich nicht von Sushi täuschen—sie lechzt nach freudianischen Konzepten: der Gebärmutter, dem Körper. Wenn ich eine Vermutung anstellen müsste, würde ich sagen, dass das von Bedeutung sein könnte. Der Urtrieb, mit dem ich arbeite und mit dem Die Antwoord auf ihre Art und Weise auch arbeiten, könnte für die Menschen eine ziemliche Erleichterung darstellen. Das ist schon fast naiv.

Ja, das verstehe ich voll und ganz. Du warst also zufrieden, dass deine Arbeit in Verbindung mit dieser primitiv-visionären Rebellenband plötzlich im Internet kursierte. 
Ich freue mich sehr, dass meine Arbeit so inspirierend wirkt. Auf jeden Fotografie-Fan kommen 10.000 Musikfans—dadurch, dass die Roger-Ballen-Ästhetik durch Die Antwoord verbreitet wird, erweitert sich mein Publikum also enorm. Wir nahmen also wieder Kontakt auf und sprachen darüber, wie wir unsere Zusammenarbeit fortführen könnten. Ich arbeitete damals seit mehreren Jahren an einem Buch Asylum of the Birds, wofür ich jeden Tag zu einer Pension für Reisende ging, wo Vögel frei fliegen und Menschen kommen und gehen, schlafen und ihr Leben an der Seite der Vögeln leben können. Ich zeigte ihnen einige Bilder, und sie fanden sie toll. Also suchten wir, als Inspiration für Filmszenen, Bilder aus der Serie und aus den Archiven meiner früheren Arbeiten heraus.

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Es war ein fünftägiger Dreh in einem Lager in Johannesburg. Ich habe mich um die Einrichtung gekümmert. Das mache ich bei meinen Arbeiten immer so. Ich laufe durch die Gegend und suche nach passenden Dingen: alten Matratzen, Kissen, weggeworfene Puppen, Blechbüchsen und so weiter. In einem der Nebengebäude des Lagers fanden wir außerdem einen Löwen. Ich vermute, jemand hat ihn da stehen lassen—einen richtigen ausgestopften afrikanischen Dschungellöwen. Das war gut.

Wow, hast du einen Sinn dafür, außergewöhnliche und ideale Requisiten zu finden? 
Ja, vielleicht habe ich den. Vor ein paar Wochen war ich wegen meiner letzten Retrospektive in Kopenhagen. Ich lief durch die Straßen und suchte nach Weggeworfenem für meine dortige Installation. Ich war auf der Suche nach Vögeln, und am zweiten Tag gelang mir der Durchbruch. Ich traf einen Typen mit einem Koffer voll toter Vögel. Er macht Skulpturen aus echten Tierköpfen, also hatte er die ganzen Vögelkörper übrig, die er ausgestopft hatte. Außerdem hatte er Babykrokodile und ein ausgestopftes Nagetier.

Das ist großartig. 
Ja. Mit dem ausgestopften Löwen habe ich die Welt der Roger-Ballen-Ästhetik erschaffen, die Die Antwoord dann bewohnte. Sie beschlossen, weiße Afrikaner zu sein, und dann war es, glaube ich, Ninja, der sagte, dass der afrikanische Junge die Machete nehmen und damit dem Löwen auf den Kopf schlagen sollte. Vielleicht war ich es auch, der das gesagt hat. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Wir arbeiteten wirklich synchron. Mit dem Beat der Musik funktionierte das jedenfalls gut.

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Ist es ein Zufall oder von politischer Bedeutung, dass in deinen Werken weiße Afrikaner vorkommen? Und hast du in Ninja und Yolandi wilde weiße Afrikaner geweckt?
Meine Arbeit ist nie politisch. Das überlasse ich den Politikern. Ich habe mich in all meinen Werken mit einer psychologischen Suche befasst, so wie sich Beckett mit einem bestimmten Zustand der menschlichen Psyche beschäftigt hat. In Becketts Werk gibt es auch keine Schwarzen, aber das ist nicht der Punkt, es geht um andere Dinge. Ich bin zufällig weiß und meine psychologische Suche hat zufällig mit der Entdeckung meines Inneren zu tun. Aber durch bestimmte Umstände bin ich auch für Fotografien von weißen Afrikanern bekannt. Als ich hier [in Johannesburg aus seinem Geburtsort New York] 1980 erstmals ankam, durfte ich nicht in die Gebiete der Schwarzen, sodass ich einfacheren Zugang zu Weißen hatte. Mittlerweile habe ich so viele Bilder von schwarzen Afrikanern, dass ich ein großes Buch nur damit veröffentlichen könnte. In meinem Werk geht es nicht um weiße Afrikaner, sondern ums Menschsein.

Um welchen Aspekt des Menschseins? 
Als ich anfing, hier zu fotografieren, kam ich zu Häusern, in denen Eltern ihre Kinder an die Wände malen ließen und in denen seltsame Dinge herumlagen. Sie waren arm oder gleichgültig, ungebildet oder chaotisch. In ihrem Leben ging es um das reine Überleben. Manchmal waren es brutale, gefährliche Orte, wo es um Leben und Tod ging. Dort ist es keine gute Idee, Dinge zu weit zu treiben. Du musst einen Ausweg aufspüren, denn wie ein Tier, das seine Fähigkeiten überschätzt, riskierst du, aufgefressen zu werden. Wenn du an diesen Orten gewesen bist, denkst du, das es Wahnsinn sei. Aber wie kannst du das denken, wenn du an Kreativität und Liberalismus glaubst? Warum ist es Wahnsinn? Warum lassen wir das Gras nicht wachsen?

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The room of the ninja turtles, 2003

Es geht also darum, das Leben in seinem Urzustand zu beobachten. Der schwarze Junge, der den Löwen angreift, ist nicht als Metapher zu verstehen.
Ja. Wir haben die Szenen improvisiert, alles war sehr fließend. Die Antwoord kennen meine Arbeit gut, sie haben alle Werke studiert und kennen sie besser als jeder Galerist. Das ist mein Bild. Dann haben sie ihre eigene Vorstellung und wissen, wie sie sie umsetzen wollen. Am Ende sind unsere Ästhetiken verschmolzen. Wenn man Musik zu Schwarzweißfotos spielt, passiert das: Im Gehirn wird das Lustprinzip geweckt, der Urinstinkt, das Animalische.

Das ist interessant, dann wird das Menschsein also ausgeweitet. Es gibt eine Menge sexuelle Energie in der Welt von Die Antwoord.
Ja. Am nächsten kamen wir der Sache im Freeky-Video, wo Yolandi mit den Ratten auf dem Boden liegt und ihr eine Hand ans Bein fasst. Im Grunde war das keine Sex-, Liebes- oder Gewaltszene, und ich glaube, es kam so gut an, weil es nicht explizit war. Für bestimmte Leute ist Yolandi ein Sexsymbol, aber in diesem Film haben wir Sex nur angedeutet.

Das Auftauchen von Sexualität habe ich auch in deinem Werk beobachtet. Hat das mit dem Urzustand zu tun, der zur Zeit dein Inneres streift? 
Du bist die erste Person, die mich das fragt. In meinen Zeichnungen kommt tatsächlich eine Menge Sexualität zum Ausdruck. Sexzeichnungen und andere instinktmäßige Formen. Ich weiß nicht, was ich damit mache. Vielleicht finde ich heraus, ob meine Sexualität gekommen oder verschwunden ist, oder irgendwas dazwischen. Vielleicht wäre es schön, meine verlorene Jugend zu finden. Das Publikum von Die Antwoord ist größtenteils jünger als mein eigenes. Die Leute dort brennen vor Sexualität. Meine Welt ist komplexer, Sex ist hier subtiler.

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Vielleicht lebst du durch deine sexy Schützlinge ein zweites Leben. Gab es irgendwelche bezeichnenden Momente in eurer Beziehung? 
Nun, sie nennen mich immer Mr. Ballen. Nach dem Dreh und dem Erfolg des Videos riefen sie an und sagten: „Mr. Ballen, möchten Sie und Ihre Frau zum Essen vorbeikommen?“ Wir sagten ja und gingen ein paar Tage später zu ihnen nach Hause. Sie leben jetzt in Johannesburg, nur fünf Kilometer von uns entfernt. Wir klingelten, passierten die normalen Sicherheitstore, die Häuser hier haben, und gingen zu ihrem Haus. Zunächst war es dunkel, aber als meine Augen sich daran gewöhnt hatten, sah ich, dass die Wände und Decken der Räume—des Kinderzimmers, der Küche, des Badezimmers—alle mit meinen Zeichnungen bedeckt waren. Als wir am Tisch saßen und aßen, blickte ich nach oben. Von dort an der Decke blickte mich einer meiner Geparden an.

War das ein komisches Gefühl, in einem fremden Haus von deiner eigenen Welt umgeben zu sein? 
Es hat mir wirklich sehr gefallen.

Das Musikvideo-Projekt

I Fink U Freeky

von Ballen und Die Antwoord

Wie hat sich das angefühlt? 
Es erinnert mich an das Gefühl, das mich bei Vögeln überkommt. Menschen werden Vögeln gegenüber nervös, weil sie fliegen können. Sie haben einen anderen Bezug zur Erde und wir sind neidisch, weil sie über uns sind. Sie sind Fremde. In vielen meiner Bilder sind sie in einem uneindeutigen Raum gefangen. Sie werden beschmutzt, jeder wird beschmutzt, es ist dunkel, feucht, chaotisch, klaustrophobisch, es gibt kein Entkommen. Es ist ein physischer Ort, der nur symbolisch erklärbar ist, wie Poe in Der Rabe sagt: Sie sind, was sie sind. Vielleicht ist es eine Gebärmutter. Wir wollen doch alle zurück in die Gebärmutter, nicht wahr?

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Beim Abendessen bei Yolandi und Ninja bist du also durch deine eigene Symbolik zurück in die Gebärmutter gelangt. Was hast du gegessen? 
Pasta.

Die Werke von Ballen erschienen gerade in zwei Büchern im Prestel Verlag: Lines, Marks, and Drawings: Through the Lens of Roger Ballen (Juni 2013) und I Fink U Freeky, in collaboration with Die Antwoord (September 2013).

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