Wir haben einen Zürcher zu einer Paarvermittlung für Menschen mit Behinderung begleitet
Alle Fotos von: Marlene Zuppiger

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Wir haben einen Zürcher zu einer Paarvermittlung für Menschen mit Behinderung begleitet

Wie findet man die grosse Liebe, wenn man psychisch oder geistig eingeschränkt ist? Nico Sauter setzt auf die Paarvermittlung Schatzkiste.

An den Tag, an dem sich sein Leben für immer veränderte, hat Nico Sauter keine Erinnerung. "Alles, was ich über die Operation weiss, haben mir meine Eltern erzählt", sagt er mit seiner ruhigen Stimme.

Nico war fünf Jahre alt, als ihm die Ärzte am Unispital Zürich einen Tumor aus dem Kopf schnitten. Um sein Leben zu retten, war es unvermeidbar, dabei die Hypophyse zu beschädigen, eine Drüse, die den Hormonhaushalt im Körper regelt. Seit der Operation gehört der 34-Jährige zu den heute mehr als 130 000 Menschen in der Schweiz, die laut der Hilfsorganisation Fragile Suisse an einer Hirnverletzung leiden. Obwohl sie das Leben der Betroffenen stark einschränkt, ist diese Behinderung in vielen Fällen von aussen kaum zu erkennen. So wie bei Nico. Er wirkt mit seinem offenen Gesicht auf den ersten Blick wie ein unbeschwerter junger Mann, die lange blasse Narbe auf seiner Kopfhaut hat er unter einem blauen Cap verborgen.

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Er hebt seine Mütze zögerlich an, um mir die Narbe zu zeigen. Gleich wird er noch viel mehr von sich preisgeben müssen. Denn ich begleite Nico dabei, wie er in die Kartei der Paarvermittlung Schatzkiste aufgenommen wird—eine neue Schweizer Paarvermittlung nach deutschem Vorbild, die ausschliesslich für Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung bestimmt ist. Die Schatzkiste will ihnen eine persönliche und günstige Alternative zum Onlinedating bieten. "Wir haben Platz für Menschen mit ganz unterschiedlichen Einschränkungen, egal ob Downsyndrom, Schizophrenie oder Lernschwäche", sagt Sexualtherapeutin Sylvia Milewski, die die Zürcher Schatzkiste mitbegründet hat und das Aufnahmegespräch mit Nico führt.

Menschen ohne Behinderung werden bewusst nicht in die Kartei aufgenommen. "Wir sind natürlich nicht gegen Beziehungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. Es täte der Gesellschaft gut, wenn es mehr solcher Paare gäbe. Es gibt auch Paarvermittlungen wie 'Liebe ohne Behinderung', die dies fördern." Die Schatzkiste gehe aber einen anderen Weg. "Wir bieten einen geschützten Ort, der nicht von Menschen ausgenutzt werden kann, die gezielt jemanden suchen, der eine bestimmte Einschränkung hat", sagt Milewski.

In seiner Freizeit fertigt Nico in seinem WG-Zimmer Schmuck

Es war keine leichte Entscheidung für Nico, hierher zu kommen. Er ist ein Grenzfall, er kann seinen Alltag im Gegensatz zu vielen anderen Behinderten mit relativ wenig Unterstützung meistern. Er hat einen Job als Handwerker, schmiedet in seiner Freizeit Schmuck, spielt Fussball und reist um die Welt. Gleichzeitig lebt er in einer betreuten WG, schluckt Medikamente und geht in eine Therapie. Sein Platz ist irgendwo zwischen der Welt der Menschen mit Behinderung und dem, was der gesellschaftlichen Norm entspricht.

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Diesen Platz zu finden, ist ein Balanceakt. Nico mag das Wort behindert nicht und versucht es manchmal aus seinem Leben rauszuhalten: "Ich habe Freunde, die nichts von meiner Epilepsie oder dem Problem Druck auszuhalten wissen."

An herkömmlichem Dating ist Nico bisher gescheitert. Die Erfahrung mit einer Kollegin, in die er sich verliebte, die aber nichts von ihm wissen wollte, hat ihn frustriert. Online nach der grossen Liebe Ausschau zu halten, findet er zu aufwändig, teuer und unberechenbar: "Da freut man sich schon, dass einem eine Frau schreibt und dann ist es nur ein Roboter", sagt er leise. Das kann bei der Paarvermittlung Schatzkiste nicht passieren. Jeder der Liebesuchenden muss persönlich bei Sylvia Milewski oder einem ihrer Kollegen vorbeikommen, bevor er oder sie in die Kartei aufgenommen wird.

Das Aufnahmegespräch findet in den Wohnstätten Zwyssig statt. Die Organisation bietet unter anderem Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung an. Nico wohnt in einer betreuten Vierer-WG der Organisation.

Nico aus Zürich hofft, seine Traumfrau in der Paarvermittlung Schatzkiste zu finden

Das Büro der Paarvermittlung wirkt beim Betreten klinisch. Man hat sich aber Mühe gegeben, es liebevoll herzurichten. Da steht eine Holztruhe, die die Schatzkiste symbolisieren soll. Das Ikea-Regal in der Ecke ist mit roten Herzluftballons dekoriert.

Nico soll als erstes seine Traumfrau beschreiben: "Sie muss auf jede Fall nett sein und ein schönes Gesicht haben." "Ist irgendeine Art von Behinderung tabu?", fragt Sylvia Milewski. "Nein", antwortet Nico. "Es wäre also auch okay, wenn sie eine Depression hat oder im Rollstuhl sitzt?", hakt die Paarvermittlerin nach. "Ja", sagt Nico. "Ich möchte niemanden nur wegen des Handicaps ausschliessen." Auch beim Alter ist er flexibel: "Zwischen 25 und 40 wäre perfekt." Am Ende des Gesprächs wird noch ein Foto geschossen. Dann ist die Aufnahme schon vorbei.

Die Partnervorschläge, die Nico bald per Brief zugeschickt bekommen soll, werden vom Schatzkiste-Team zusammengestellt. Sylvia Milewski achtet dabei darauf, dass sie den Wünschen der Liebesuchenden entsprechen und sie sich mit ihren Einschränkungen im besten Fall gegenseitig ergänzen.

Bis Nico seine Partnervorschläge bekommt, muss er sich aber noch gedulden. Da die Paarvermittlung neu ist, muss der Mitgliederstamm noch ein paar Monate wachsen. Etwa 100 Mitglieder sind das Ziel. Die Chance, dass Nicos Traumfrau darunter ist, ist daher nicht besonders gross. Aber er hofft. "Im besten Fall finde ich eine Partnerin und gründe eine Familie." Auch Sylvia Milewski ist zuversichtlich: "Vielleicht klappt es nicht auf Anhieb mit der Freundin. Aber jedes Mitglied wird so lange unterstützt, wie er oder sie es braucht."

In der Schatzkiste erlebt man das Gegenstück zum Tindergefühl. Hier endet der unendlich scheinende Strom von Möglichkeiten. Es ist eine Welt, in der die Auswahl an Partnern hart umrissene Grenzen hat.

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