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Sex

Eine Ex-Prostituierte erzählt, wie sie aus wirtschaftlichen Gründen einen Schweizer heiratete

Sie kam über einen Agenten von Osteuropa in die Schweiz, um als Tänzerin oder Barkeeperin zu arbeiten. Stattdessen landete sie in der Prostitution und einer Ehe ohne Liebe.
Nicht diese Frau | Foto von Pixabay

Ich war 22 Jahre alt, als ich mit grossen Träumen und wenig Geld in die Schweiz kam. Lustigerweise war es nie mein Ziel gewesen, hier zu bleiben. Ich wollte nur genug Geld verdienen, um meiner Familie zu Hause in Osteuropa ein Haus kaufen zu können. Heute, einige Jahrzehnte späte, lebe ich noch immer hier.

Ich erzähle allen, dass ich wegen der Hochzeit meiner Schwester in die Schweiz kam und an dieser per Zufall meinen neuen Mann kennengelernt habe. In Wahrheit wurde ich aber—wie manche andere osteuropäische Frauen, die in die Schweiz kommen—von einem Agenten angesprochen und gefragt, ob ich einen Job in der Schweiz wolle. Diese Agenten vermitteln junge Frauen wie mich als Tänzerinnen oder Barmitarbeiterinnen an Cabarets. Ich sagte ihm zu und zog in die Schweiz. Was ich nicht ahnte: Da ich bereits ein Kind bekommen habe und so einige Schwierigkeiten hatte, meinen Körper in Szene zu setzen, wollte mich bald keines der Lokale mehr einstellen.

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Und so sass ich hier, gefangen in einem Land, dessen Sprache ich kaum verstand. Ohne Geld und ohne Aussichten auf ein besseres Leben. Ich schlug mich vor allem mit Prostitution durch. Meine Kunden fand ich, getarnt als Gast, in den Cabarets, in denen ich eigentlich hinter der Bar oder auf der Bühne stehen sollte. Hin und wieder musste ich mir für 1.500 Franken ein gefälschtes Arbeitsvisum besorgen, um in der Schweiz bleiben zu können. Meine Agentur wusste nicht, dass ich mich prostituiere und wollte mich noch hier behalten, falls doch noch kurzfristig ein Jobangebot als Barkeeperin reinkommen würde. Aber weder sie noch ich glaubten wirklich daran.

Dann kam der Tag, an dem ich ihn kennenlernte. Weil ich nirgendwo hin konnte, sass ich schon den ganzen Tag in der Bar, in der meine Freundin arbeitete. Ich hatte noch genau 100 Franken, die ich mir für mein Hotelzimmer aufgespart habe. Das Hotel öffnete aber erst um 19:00 Uhr. Also sass ich da: Hungrig, müde und desillusioniert. Und auf der anderen Seite der Bar sass er. Nennen wir ihn Silvio.

Silvio war zu jenem Zeitpunkt 57 Jahre alt, also mehr als doppelt so alt wie ich. Ich hatte ihn zuerst nicht einmal bemerkt, bis meine Freundin sagte, dass der alte Opi unbedingt eine junge Frau heiraten wolle. Er war ein Stammgast der Bar und meine Freundin machte uns bekannt. Silvio war ungepflegt und hatte diesen Altmännerduft an sich, den man sonst aus dem Brockenhaus kennt. Trotzdem redeten wir ein wenig und er lud mich schliesslich zum Essen ein. Ich hörte nur "gratis Essen" und war schon dabei. Schliesslich sollte es mein letztes Wochenende in der Schweiz sein und ich hatte nichts mehr zu verlieren.

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Anscheinend merkte man mir meine Verzweiflung an. Silvio fragte mich andauernd, wieso ich denn so traurig sei. Ich erklärte ihm meine aussichtslose Situation und erwähnte, dass ich Geld für meine Familie bräuchte, die ein Haus kaufen musste, um nicht auf der Strasse zu landen. Er hörte sich alles an und gab mir am nächsten Tag 10.000 Franken. Einfach so.

Eine Prostituierte in Deutschland | Foto von Cascari | Wikimedia | CC BY-SA 3.0

Ich kehrte zurück nach Osteuropa aber blieb mit Silvio in Kontakt. Er rief mich täglich an und fragte, wie mein Tag gewesen sei. Silvio war überhaupt nicht mein Typ und auch generell hatte ich kein grosses Interesse an einer intimen Beziehung mit einem 35 Jahre älteren Mann, der 2.800 Kilometer weit von mir weg lebte. Aber er war gütig und sehr grosszügig. Also hielt ich unsere Beziehung am Leben. Nachdem meine Familie endlich ein Haus kaufen konnte, gab Silvio mir weitere 30.000 Franken für die Einrichtung und wöchentlich 1.000 Franken für das alltägliche Leben. Er stellte keine einzige Forderung im Gegenzug. Er fragte mich nur, ob ich ihn heirate.

Uns war beiden klar, dass das keine gewöhnliche Ehe sein würde. Ich stellte von Anfang an meine einzige Bedingung: Es wird keinen Sex geben. Er willigte ein und versprach, für mich und mein Kind zu sorgen. Ich dachte, dass mich niemand jemals besser behandeln würde als dieser Mann, selbst wenn er 35 Jahre älter war und nach Brockenhaus roch. Also zog ich zu ihm in die Schweiz.

Natürlich war es ganz anders, mit einem Mann zusammenzuleben, als mit ihm ein paar Stunden täglich zu skypen. Je mehr Nähe er von mir wollte, desto weniger konnte ich seine Erwartungen erfüllen. Bei unserer Trauung im Standesamt gab ich ihm ein Küsschen auf die Backe. Intimer sind wir in zwölf Jahren Ehe nicht geworden. Wir schliefen nicht einmal im selben Bett. Ich merkte, dass er deswegen hin und wieder traurig war, aber er hat mich nie zu etwas gedrängt und dafür bin ich ihm bis heute dankbar.

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Foto: Pixabay | CC0

Aber ich war jung und konnte mich mit so einem Leben nicht zufrieden geben. Also ging ich hinaus in die weite Welt. Ich arbeitete in Restaurants und Bars in Zürich und wohnte bei Freundinnen zur Untermiete. Silvio hat das alles gewusst. Hin und wieder trafen wir uns auf einen Kaffee und redeten über Gott und die Welt. Danach gab er mir 3.000 oder 4.000 Franken für den nächsten Monat und ich verschwand wieder. Natürlich hatte ich währenddessen auch den ein oder anderen Liebhaber. Ich habe das Silvio nie gesagt, aber ich denke, er hat es trotzdem gewusst.

Nach drei Jahren, als ich mich ausgetobt hatte, kam ich zurück. Wir holten meinen Sohn in die Schweiz und lebten gemeinsam in Silvios Haus. Ab da hat sich mein Leben eingependelt. Trotzdem war es nicht wie eine normale Ehe. Wir lebten zwar zusammen in einem Haus, aber mental waren wir kilometerweit voneinander entfernt. Wir lebten in verschiedenen Welten. Er sass manchmal tagelang in seinem Büro auf dem Dachboden und erledigte irgendwelchen Papierkram oder spielte mit seinen Modeleisenbahnen. Ich dagegen sass zu Hause herum, sah fern oder suchte Zuflucht im endlos weiten Internet.

Es war kein schlechtes Leben, aber es war ein Langweiliges. Wegen der sprachlichen Barriere konnten wir nicht einmal richtig streiten. Wenn es mal zu einem Streit kam, konnte ich zwar alles verstehen, aber meine Ansichten nicht richtig ausdrücken. Deshalb rannte ich jedes Mal zum Wörterbuch und suchte nach der richtigen Formulierung. Im Eifer des Gefechts vergass ich beinahe jedes Mal, was ich eigentlich sagen wollte und so endeten alle unseren Auseinandersetzungen in drei Tage langem eisernen Schweigen.

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Aber beide Parteien hatten das bekommen, was sie sich von dieser Ehe erwartet hatten. Silvio bekam eine Pseudo-Familie und musste nicht mehr alleine sein und ich hatte jemanden, der meine Rechnungen bezahlt und meine Familie durchfüttert. Es hört sich komisch an, aber es war eine Win-Win-Situation.

Nach etwa zehn Jahren veränderte sich Silvio von einem Tag auf den anderen. Nach einem Raubüberfall, bei dem der Grossteil seiner Modelleisenbahnen geklaut wurde, erlitt er einen Schock und seine Persönlichkeit drehte sich um 180 Grad.

Plötzlich hatte er wieder massenweise Energie und vegetierte nicht mehr nur vor sich hin. Er war den ganzen Tag unterwegs, bastelte an irgendwelchen Dingen herum und kaufte ständig neue Sachen. Zuerst hielten wir das für eine positive Entwicklung aber mit der Zeit wurde immer deutlicher, dass Silvio langsam den Verstand verlor. Er sagte das Eine und machte im nächsten Moment das Gegenteil. Er log mich an, kaufte nichts mehr zu essen, brachte irgendwelche betrunkenen Männer nach Hause und schlief mit ihnen in einem Bett. Er war zwar nicht schwul, versuchte aber möglicherweise, so die Nähe zu kriegen, die er von mir nie bekommen hatte.

Foto: Holly Lay | Flickr | CC BY 2.0

Nach einem heftigen Streit warfen wir uns beide das Wort Scheidung an den Kopf. Und so kam es auch. Ich zog mit meinem Sohn in eine kleine Wohnung ans andere Ende der Stadt und wollte mit diesem Teil meines Lebens abschliessen. Trotzdem schickt uns Silvio auch heute noch Briefe oder wirft kleine Zettelchen in den Briefkasten. Immer wieder finde ich Süssigkeiten im Milchkasten und einige Male lag eine Melone vor unserer Haustür.

Rückblickend muss ich sagen, dass sich diese Phase meines Lebens für mich nicht gelohnt hat. Es war nicht mein Leben. Tief in meinem Herzen war ich sehr unglücklich und litt unter starken Depressionen. Ich habe zwar gelebt, aber wie ich gelebt habe, hat sich nie richtig angefühlt. Ich war nie lebendig. Es fühlte sich an wie eine Trance. Mir persönlich haben diese zehn Jahre mit Silvio wenig gebracht. Ich habe es für meinen Sohn und für meine Familie getan. Damit sie die Chance haben, es einmal besser zu machen. Damit sie ein Dach über dem Kopf, Essen im Kühlschrank und Schuhe an den Füssen haben können. Und heute haben sie das.

Ich arbeite heute in einem normalen Service-Job mit festem Einkommen und bin nicht mehr auf das Geld anderer angewiesen. Ich lebe alleine mit meinem Sohn in einer Drei-Zimmer Wohnung. Mein Monatsgehalt bekomme ich zwar nicht mehr auf dem Silbertablett serviert, aber ich bin glücklicher, als ich es seit meiner Ankunft in der Schweiz jemals war. Mehr brauche ich im Moment nicht.

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